Gedichte

Tag und Nacht

Ende der Nacht

Herzensfrage

Begegnung

Wo ist der Weise?

Unterwegs

Sirenen

Schwer von Begriff

Was für eine Zeit?

Zwischen den Jahren

Audienz

Toter Vogel am Straßenrand

Andere Wesen

Augenblicke

Grenze der Dichtung

Suchen und Finden

Ein anderer Ort

Der Mensch

Sonderbarer Gedanke

Das Ich und seine Gedanken

Auszeit

Sinn des Lebens

Sinnfindung

Lucy trifft Lucifer

Anruf

Stillleben

Erwachen

Die 1000 Anlässe oder der ständige Begleiter

Selbstfindung

An und für sich

Herbstgedanken

Wieder Herbst

Herbstwunsch

Mailied

Vorübergehend

Ozeanisches Gefühl

Brücke

Columbus

Sein

Dialog

Das jüngste Gericht

Notruf

Rollentausch

Am Anfang

Am Ende

Endlich

Danach

Endzeit

Goldenes Zeitalter

Der Baum der Erkenntnis

Eins und Zwei

Doppeltes Schweigen

Wille und Unwille

Der Tropfen

Ein besinnliches neues Jahr

Was ist der Mensch?

Anders

Andere Wege

Geworfen

Am Morgen

Oben und Unten

Schwarzer Tanz

Erwachen

Im Wald

Weiß

Traum am Rhein

Der Wind

Ungelebtes Leben

Sein oder Nichtsein

Sehnsucht des Sommers

Willkommen

Haben und Sein

Fernstenliebe

Das Mahnmal

Von Dichtern und Dingen

Falsche Clowns

Meinungen

Das Leben ist kein langer ruhiger Fluss

Das Erwachen

Alter

Vergessen

Ten Stars

Selten

Tod in Wien

Dem Feuer geweiht

Herrin der Träume

Man lernt dazu

Schwarzer Tunnel

Der ewige Flug

Nonsens des Konsens

Das Ende des Wortes

Vom Wert des Redens und Schweigens

Der letzte Gang

Lied eines sterbenden Philosophen mit gesenktem Haupt

Die Frage nach dem Sinn des Lebens

Gemach

Einst

Die Blinden

Am Morgen

Take it easy


Die Herrlichkeit der Erden

So wachsen wir auf Erden
und denken groß zu werden,
von Schmerz und Sorgen frei;
doch eh wir zugenommen
und recht zur Blüte kommen,
bricht uns des Todes Sturm entzwei.

Gryphius

***

Nähe des Geliebten

Ich denke dein, wenn mir der Sonne Schimmer
Vom Meere strahlt;
Ich denke dein, wenn sich des Mondes Flimmer
In Quellen malt.

Ich sehe dich, wenn auf dem fernen Wege
Der Staub sich hebt;
In tiefer Nacht, wenn auf dem schmalen Stege
Der Wandrer bebt.

Ich höre dich, wenn dort mit dumpfem Rauschen
Die Welle steigt.
Im stillen Haine geh’ ich oft zu lauschen,
Wenn alles schweigt.

Ich bin bei dir; du seist auch noch so ferne,
Du bist mir nah!
Die Sonne sinkt; bald leuchten mir die Sterne.
O, wärst du da!

Goethe

***

Ein Gleiches

Über allen Gipfeln ist Ruh,
in allen Wipfeln spürest Du
kaum einen Hauch;
die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde ruhest Du auch.

Goethe

Over all of the hills
Peace comes anew,
The woodland stills
All through;
The birds make no sound on the bough.
Wait a while,
soon now
Peace comes to you.

Super culmi-
na’st requies,
In ramis ulmi
Senties
Vix spiritum;
Dant alites somno se levi.
Tu quoque brevi
Dormies tum.

***

Faust

Du bist am Ende – was du bist.
Setz’ dir Perücken auf von Millionen Locken,
Setz’ deinen Fuß auf ellenhohe Socken,
Du bleibst doch immer, was du bist.

Goethe

***

Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren

Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
sind Schlüssel aller Kreaturen,
wenn die so singen, oder küssen,
mehr als die Tiefgelehrten wissen,
wenn sich die Welt ins freie Leben
und in die Welt wird zurück begeben,
wenn dann sich wieder Licht und Schatten
zu echter Klarheit wieder gatten,
und man in Märchen und Gedichten
erkennt die wahren Weltgeschichten,
dann fliegt vor einem geheimen Wort
das ganze verkehrte Wesen fort.

Novalis

***

Mondnacht

Es war, als hätt der Himmel
Die Erde still geküsst,
Dass sie im Blütenschimmer
Von ihm nun träumen müsst.

Die Luft ging durch die Felder,
Die Ähren wogten sacht,
Es rauschten leis die Wälder,
So sternklar war die Nacht.

Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.

Eichendorff

***

Sehnsucht

Es schienen so golden die Sterne,
Am Fenster ich einsam stand
Und hörte aus weiter Ferne
Ein Posthorn im stillen Land.
Das Herz mir im Leib entbrennte,
Da hab ich mir heimlich gedacht:
Ach, wer da mitreisen könnte
In der prächtigen Sommernacht!

Zwei junge Gesellen gingen
Vorüber am Bergeshang,
Ich hörte im Wandern sie singen
Die stille Gegend entlang:
Von schwindelnden Felsenschlüften,
Wo die Wälder rauschen so sacht,
Von Quellen, die von den Klüften
Sich stürzen in die Waldesnacht.

Sie sangen von Marmorbildern,
Von Gärten, die überm Gestein
In dämmernden Lauben verwildern,
Palästen im Mondenschein,
Wo die Mädchen am Fenster lauschen,
Wann der Lauten Klang erwacht
Und die Brunnen verschlafen rauschen
In der prächtigen Sommernacht.

Eichendorff

***

Der Pilger

Man setzt uns auf die Schwelle,
Wir wissen nicht, woher?
Da glüht der Morgen helle,
Hinaus verlangt uns sehr.
Der Erde Klang und Bilder,
Tiefblaue Frühlingslust,
Verlockend wild und wilder,
Bewegen da die Brust.
Bald wird es rings so schwüle,
Die Welt eratmet kaum,
Berg‘, Schloß und Wälder kühle
Stehn lautlos wie im Traum,
Und ein geheimes Grausen
Beschleichet unsern Sinn:
Wir sehnen uns nach Hause
Und wissen nicht, wohin?

Eichendorff

***

Wer wusste je das Leben recht zu fassen

Wer wusste je das Leben recht zu fassen,
Wer hat die Hälfte nicht davon verloren
Im Traum, im Fieber, im Gespräch mit Toren,
In Liebesqual, im leeren Zeitverprassen?

Ja, der sogar, der ruhig und gelassen,
Mit dem Bewußtsein, was er soll, geboren,
Frühzeitig einen Lebensgang erkoren,
Muss vor des Lebens Widerspruch erblassen.

Denn jeder hofft doch, daß das Glück ihm lache,
Allein das Glück, wenn’s wirklich kommt, ertragen,
Ist keines Menschen, wäre Gottes Sache.

Auch kommt es nie, wir wünschen bloß und wagen:
Dem Schläfer fällt es nimmermehr vom Dache,
Und auch der Läufer wird es nicht erjagen.

Platen

***

When I heard the learn’d astronomer

When I heard the learn’d astronomer,
When the proofs, the figures, were ranged in columns
before me,
When I was shown the charts and diagrams, to add,
divide and measure them,
When I sitting heard the astronomer where he lectured
with much applause in the lecture-room,
How soon unaccountable I became tired and sick,
Till rising and gliding out I wander’d off by myself,
In the mystical moist night-air, and from time to time,
Look’d up in perfect silence at the stars.

Whitman

***

Sphärengesang

So lang die Sterne kreisen
Am Himmelszelt,
Vernimmt manch’ Ohr den leisen
Gesang der Welt:

“Dem sel’gen Nichts entstiegen,
Der ew’gen Ruh,
Um ruhelos zu fliegen –
Wozu? Wozu?”

Lorm

***

Der Waldmann

Im Walde haust ein alter Mann,
der kaum sein Leben fristen kann.
Er trinkt vom Quell, er pflückt sich Beeren,
sein Kleid will nicht dem Winter wehren.

Er hat kein Glück in dieser Welt
und keinen Gott im Himmelszelt.
Er hat kein Weib, kein Kind und Keinen,
der möchte mit ihm lachen, weinen.

Vor seiner Höhle traf ich ihn,
da kam die Frage mir zu Sinn:
Warum, o Himmel! lebt dies Leben
und hat sich nicht den Tod gegeben?

Als ich die Worte laut gewagt,
hat er die Antwort mir gesagt:
„Mir ist kein Baum noch vorgekommen,
der selbst die Axt zur Hand genommen.

Ich lebe wie der Baum: Ich muss.
Ich lebe nach des Schicksals Schluss,
und kann ich nicht versteh’n das harte –
es hat mich hergepflanzt, ich warte.

Hab‘ mir das Leben nicht bestellt
und nicht verlangt auf diese Welt,
gesorgt nicht, dass ich sei auf Erden,
und sorg‘ nicht, was soll weiter werden.“

Lorm

***

Einsamkeit

Einsamkeit! in deiner Blüte
duftet nicht der Erde Glück,
nimmer gibst du dem Gemüte,
was verloren ist, zurück.
Aber unbekannte Schauer
lockst du aus verborg’ner Trauer
durch des Geistes Macht hervor,
und sie zieh’n nach fremden Sternen,
nach dem Licht der erdenfernen
Ewigkeit das Herz empor.
Einsam spricht des Herzens Pochen,
was die Lippe nie gesprochen.

Lorm

***

Des Menschen Hand

Legt in die Hand das Schicksal dir ein Glück
Musst du ein andres wieder fallen lassen;
Schmerz wie Gewinn erhältst du Stück um Stück,
Und Tiefersehntes wirst du bitter hassen.

Des Menschen Hand ist eine Kinderhand,
Sie greift nur zu, um achtlos zu zerstören;
Mit Trümmern überstreuet sie das Land,
Und was sie hält, wird ihr doch nie gehören.

Des Menschen Hand ist eine Kinderhand,
Sein Herz ein Kinderherz im heftgen Trachten.
Greif zu und halt!… Da liegt der bunte Tand;
Und klagen müssen nun, die eben lachten.

Legt in die Hand das Schicksal dir den Kranz,
So musst die schönste Pracht du selbst zerpflücken;
Zerstören wirst du selbst des Lebens Glanz
Und weinen über den zerstreuten Stücken.

Raabe

***

Bei abgehellter Luft

Bei abgehellter Luft,
Wenn schon des Taus’ Tröstung
Zur Erde niederquillt,
Unsichtbar, auch ungehört: –
Denn zartes Schuhwerk trägt
Der Tröster Tau gleich allen Trost-Milden -:
Gedenkst du da, gedenkst du, heißes Herz,
Wie einst du durstetest,
Nach himmlischen Tränen und Tau-Geträufel
Versengt und müde durstetest,
Dieweil auf gelben Gras-Pfaden
Boshaft abendliche Sonnenblicke
Durch schwarze Bäume um dich liefen,
Blendende Sonnen-Glutblicke, schadenfrohe.

Nietzsche

***

Das trunkene Lied

Oh Mensch! Gib Acht!
Was spricht die tiefe Mitternacht?
Ich schlief, ich schlief -,
Aus tiefem Traum bin ich erwacht: –
Die Welt ist tief,
Und tiefer als der Tag gedacht.
Tief ist ihr Weh -,
Lust – tiefer noch als Herzeleid:
Weh spricht: Vergeh!
Doch alle Lust will Ewigkeit -,
– will tiefe, tiefe Ewigkeit!

Nietzsche

***

Der neue Columbus

Freundin! sprach Columbus, traue
Keinem Genueser mehr!
Immer starrt er in das Blaue –
Fernstes lockt ihn allzu sehr!

Fremdestes ist nun mir teuer!
Genua – das sank, das schwand –
Herz, bleib kalt! Hand, hält das Steuer!
Vor mir Meer – und Land? – und Land?

Dorthin will ich – und ich traue
Mir fortan und meinem Griff.
Offen ist das Meer, ins Blaue
Treibt mein Genueser Schiff.

Alles wird mir neu und neuer,
Weit hinaus glänzt Raum und Zeit –
Und das schönste Ungeheuer
Lacht mir zu: die Ewigkeit

Nietzsche

***

Das Buch vom mönchischen Leben

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.

Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang.

Rilke

***

Traumgekrönt

O gäbs doch Sterne, die nicht bleichen,
wenn schon der Tag den Ost besäumt;
von solchen Sternen ohnegleichen
hat meine Seele oft geträumt.
Von Sternen, die so milde blinken,
dass dort das Auge landen mag,
das müde ward vom Sonnetrinken
an einem goldnen Sommertag.
Und schlichen hoch ins Weltgetriebe
sich wirklich solche Sterne ein,-
sie müssten der verborgnen Liebe
und allen Dichtern heilig sein.

Rilke

***

Die Städte aber wollen nur das Ihre

Die Städte aber wollen nur das Ihre
und reißen alles mit in ihren Lauf.
Wie hohles Holz zerbrechen sie die Tiere
und brauchen viele Völker brennend auf.

Und ihre Menschen dienen in Kulturen
und fallen tief aus Gleichgewicht und Maß,
und nennen Fortschritt ihre Schneckenspuren
und fahren rascher, wo sie langsam fuhren,
und fühlen sich und funkeln wie die Huren
und lärmen lauter mit Metall und Glas.

Es ist, als ob ein Trug sie täglich äffte,
sie können gar nicht mehr sie selber sein;
das Geld wächst an, hat alle ihre Kräfte
und ist wie Ost

groß, und sie sind klein
und ausgeholt und warten, dass der Wein
und alles Gift der Tier- und Menschensäfte
sie reize zu vergänglichem Geschäfte.

UND deine Armen leiden unter diesen
und sind von allem, was sie schauen, schwer
und glühen frierend wie in Fieberkrisen
und gehn, aus jeder Wohnung ausgewiesen,
wie fremde Tote in der Nacht umher;
und sind beladen mit dem ganzen Schmutze,
und wie in Sonne Faulendes bespien, –
von jedem Zufall, von der Dirnen Putze,
von Wagen und Laternen angeschrien.

Und gibt es einen Mund zu ihrem Schutze,
so mach ihn mündig und bewege ihn.

Rilke

***

Sankt Sebastian

Wie ein Liegender so steht er; ganz
hingehalten von dem großen Willen.
Weitentrückt wie Mütter, wenn sie stillen,
und in sich gebunden wie ein Kranz.

Und die Pfeile kommen: jetzt und jetzt
und als sprängen sie aus seinen Lenden,
eisern bebend mit den freien Enden.
Doch er lächelt dunkel, unverletzt.

Einmal nur wird seine Trauer groß,
und die Augen liegen schmerzlich bloß,
bis sie etwas leugnen, wie Geringes,
und als ließen sie verächtlich los
die Vernichter eines schönen Dinges.

Rilke

***

Im Nebel

Seltsam, im Nebel zu wandern!
Einsam ist jeder Busch und Stein,
Kein Baum sieht den andern,
Jeder ist allein.

Voll von Freuden war mir die Welt,
Als noch mein Leben licht war,
Nun, da der Nebel fällt,
Ist keiner mehr sichtbar.

Wahrlich, keiner ist weise,
Der nicht das Dunkle kennt,
Das unentrinnbar und leise
Von allen ihn trennt.

Seltsam, im Nebel zu wandern!
Leben ist Einsamsein.
Kein Mensch kennt den andern,
Jeder ist allein.

Hesse

***

Glück

Solang du nach dem Glücke jagst,
Bist du nicht reif zum Glücklichsein,
Und wäre alles Liebste dein.

Solang du um Verlornes klagst
Und Ziele hast und rastlos bist,
Weißt Du noch nicht, was Friede ist.

Erst wenn du jedem Wunsch entsagst,
Nicht Ziel mehr noch Begehren kennst,
Das Glück nicht mehr mit Namen nennst,

Dann reicht dir des Geschehens Flut
Nicht mehr ans Herz, und deine Seele ruht.

Hesse

***

Das Glasperlenspiel

Es führen über die Erde
Straßen und Wege viel,
Aber alle haben
Dasselbe Ziel.

Du kannst reiten und fahren
Zu zwein und zu drein,
Den letzten Schritt musst du
Gehen allein.

Drum ist kein Wissen
Noch Können so gut,
Als dass man alles Schwere
Alleine tut.

Hesse

***

Wir leben hin …

Wir leben hin in Form und Schein
Und ahnen nur in Leidestagen
Das ewig wandellose Sein,
Von dem uns dunkle Träume sagen.

Wir freuen uns an Trug und Schaum,
Wir gleichen führerlosen Blinden,
Wir suchen bang in Zeit und Raum,
Was nur im Ewigen zu finden.

Erlösung hoffen wir und Heil
In wesenlosen Traumesgaben –
Da wir doch Götter sind und teil
Am Urbeginn der Schöpfung haben.

Hesse

***

Stufen

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf’ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden . . .
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

Hesse

***

Verfall

Am Abend, wenn die Glocken Frieden läuten,
Folg ich der Vögel wundervollen Flügen,
Die lang geschart, gleich frommen Pilgerzügen,
Entschwinden in den herbstlich klaren Weiten.

Hinwandelnd durch den dämmervollen Garten
Träum ich nach ihren helleren Geschicken
Und fühl der Stunden Weiser kaum mehr rücken.
So folg ich über Wolken ihren Fahrten.

Da macht ein Hauch mich von Verfall erzittern.
Die Amsel klagt in den entlaubten Zweigen.
Es schwankt der rote Wein an rostigen Gittern,

Indes wie blasser Kinder Todesreigen
Um dunkle Brunnenränder, die verwittern,
Im Wind sich fröstelnd blaue Astern neigen.

Trakl

Höre die Kraniche

***

St.-Peters-Friedhof

***

Tag und Nacht

Der Tag ist ein Traum,
die Nacht ist der wahre Raum,
in ihr ist das Erwachen,
bei dem sich Seelenlichter entfachen.
Wahrhaft hell nur in der Dunkelheit
und nicht zur grellen Tageszeit.
Wie die Sterne im schwarzen All,
die Sonne ist der Sündenfall.

In der Nacht
bin ich erwacht,
ich weiß nicht wann,
weil man nicht alles wissen kann.
Ich will es auch nicht wissen
und drehe mich wieder ins Kissen.
Zeit stehe doch still,
da ich die Ewigkeit will.

JM

***

Ende der Nacht

Einsam steht ihr hellen Sterne,
bei euch wäre ich so gerne.
Das Dunkle ist unser Meister,
einsam sind wir freien Geister.

Doch die Nacht ist bald zu Ende
und Du Sonne bringst die Wende.
Nun sich viele sonnen,
die die Nacht nicht kennen.

Sparst auch bei den vielen nicht,
die nicht sah’n das Sternenlicht.

JM

***

Herzensfrage

Mein Herz,
es schlägt,
von Jahr zu Jahr,
von Stunde zu Stunde,
von Sekunde zu Sekunde.

Irgendwann bleibt es stehen,
wohin werde ich dann gehen?

Ich atme ein,
ich atme aus,
die Luft will rein,
die Luft will raus.

Ob nach dem Tod der Geist sich noch regt?
So wie im Leben das Herz stetig schlägt?
Oder wandeln die Seelen im Himmel gar,
wie die Körper wandeln auf Erden?
Die ewige Frage ist und war:
Was wird nur aus uns werden?

JM

***

Begegnung

Ich bin die Zeit,
die rückwärts geht,
so sei bereit,
ich weiß, wie’s um Dich steht.

Ich komme aus der Ewigkeit
und will zum Anfang hin,
hab’ weder Angst noch Traurigkeit,
da ich nicht leiblich bin.

Kein Mund kann Dir verkünden,
wie’s ist um Dich bestellt.
Was wird aus all den Sünden?
Ob sich ein Engel hinzugesellt?

Ich wollt’, ich hätt’ mehr Zeit für Dich,
doch willst Du nicht verharr’n im Sein.
Den Augenblick, den kennst Du nicht.

JM

***

Wo ist der Weise?

Wir reiten auf der Sekunde,
von Augenblick zu Augenblick,
unserer Seelen Wunde
ist die Uhr: ihr tick tick.

Wir reiten auf der Sekunde,
von Kick zu Kick,
kein Weiser bringt uns die Kunde:
Ihr habt einen Tick.

Wir reiten auf der Sekunde,
von Tick zu Tick,
bis in der letzten Stunde
es uns bricht das Genick.

JM

***

Unterwegs

Ich bin so gern an keinem Ort,
darum fahre ich oft fort.
Doch will ich nirgendwo hin,
nur Fahren ist der Sinn.

Eben war ich noch hier,
aber da ich mich gern beim Fahren verlier,
bin ich schnell wieder fort
und schon an einem anderen Ort.

Bei der Fahrt durch die Städte,
wohin man schaut: Kälte.
Doch fahre ich aus den Städten raus,
wo nicht mehr steht Haus an Haus,
halte ich gern dort an,
wo man still verweilen kann.

Ach Du grüner Rest Natur,
was mag ich an Dir nur?
Hast keine Meinung über mich,
nur bei Dir wahrlich verlier’ ich mich.

JM

***

Sirenen

Auf meiner Odyssee über Autobahnen
höre ich moderne Sirenengesänge,
die über den Äther klingen
und sich mit dem Summen der Reifen mischen.
Je schneller,
je höher.
Irgendwo muss die Grenze liegen,
an der es aus dem Reich der Sirenen kein Zurück mehr gibt.
Die Sirene des Autos,
das Dich retten soll,
hörst Du dann nicht mehr.
Wer hört diesen sich ewig wiederholenden Gesängen noch zu?
Wer lässt sich noch verführen?
Ich schnallte mich an,
um nicht zu ihnen zu müssen.
Autobahnen und Hotelzimmer,
neutrale Räume,
die niemandem gehören,
ich liebe sie.
Bäume an Landstraßen,
fahr’ hinaus mit dem Gefühl,
jeder Tag kann der letzte sein.

JM

***

Schwer von Begriff

Ich war grad im Begriff,
den Begriff zu begreifen,
da griff mir
jemand mit starkem Griff
an den Hals,
grrr.
Mein Blut war überhaupt nicht mehr im Begriff,
mein Gehirn zu durchstreifen,
drum war es aus
mit dem Begriffe begreifen.
Ich begriff nicht,
warum dieser jemand mich griff.
Er wohl auch nicht.
Drum begreife:
Greife niemals jemanden beim Begreifen.

JM

***

Was für eine Zeit?

Wenn in Zeiten schneller Bilder
der Mensch nicht weiß wohin,
webt die unsichtbare große Spinne
schon auf dem ganzen Erdenrund.

Und wenn die Seelen nur noch Spiegel sind,
dann wird es Zeit für Dich zu gehn,
dorthin wo noch die grünen Bäume sind
und wo Du noch sein kannst wie ein Kind.

JM

***

Zwischen den Jahren

Nicht enden soll dies Zwischenreich der Jahre,
als ob die Zeit uns zur Besinnung zwingt,
nur in der Stille liegt doch das Wahre,
das Dich zur weisen Einsicht bringt.

Mensch, halte endlich ein,
das Alte ist nicht mehr, das Neue noch nicht,
lass Vergangenes vergangen, Zukünftiges zukünftig sein,
die Gegenwart mahnt Dich zur Pflicht.

Wenn im Niemandsland der Zeit die Jahre ziehn,
finde endlich Deine Ruh,
denn vor Dir selbst gibt’s kein Entfliehn.
Dies ruft die Zeit Dir selten zu.

JM

***

Audienz

Entrückt war ich der irdischen Gefilde,
ein freier Geist in Sphären
fern übersiedelter Gebilde.
Sollte Gaia mir Audienz gewähren?

Da hörte ich sie sagen:
Kennst Du den Parasit der Erde?
Was wird er wohl noch alles wagen?
Wann sie wohl wieder Heimat werde?

Was ist nur aus ihr geworden?
Tier und Pflanze waren einst ihr Kind,
nun ist alles voll von seinen Horden.
Wo ist nur die Welt geblieben, in denen Bäume heilig sind?

Geschaffen nicht von Menschenhand.
Schau auf diesen schlimmen Ort,
siehe dies geschundne Land,
ach wär der Mensch doch fort.

JM

***

Toter Vogel am Straßenrand

Toter Vogel am Straßenrand,
liegst auf versiegelten Flächen,
dies ist nicht mehr Dein Land,
wann wird die Natur Dich rächen?

Toter Vogel am Straßenrand,
fand Dich mit gebrochenen Flügeln,
getötet von Menschenhand,
wann wird der Mensch sich zügeln?

JM

***

Andere Wesen

Die Tiere schauen so rein,
ihre Blicke sind klar,
in ihnen ist Sein.
Ihre Gefühle sind wahr.

Was machen wir nur mit ihnen?
Als ob sie nur da sind,
um uns zu dienen.
Schreie verhallen im Wind.

JM

***

Augenblicke

Der Mensch
ist doch allein.
Was bleibt ihm denn
als seine eigenen Gedanken?
Das Hier und Jetzt
blitzt selten auf.
Die Augen blicken
selten in die Sterne,
Augenblicke
sind schnell wieder vorbei.
Der Mensch
stirbt letztlich allein,
auch wenn vertraute Blicke
ihn begleiten.
Bis sich
Augen ewig
schließen.

JM

***

Grenze der Dichtung

Das Erlebnis wird Erlebnis bleiben,
denn Unaussprechliches lässt sich nicht schreiben.
Das Dichten ist nur ein Versuch,
das Leben bleibt ein ungeschriebnes Buch.
Der Tod wird auch Erlebnis sein,
Gott wird den Dichtern schon verzeihn.

JM

***

Suchen und Finden

Ich suchte mich an alten Orten
und war dort ganz verloren.
Doch öffneten sich neue Pforten,
ich war wie neugeboren.

Der Tod ist wie das Meer,
er heilt die alten Wunden.
Ich suche nun nicht mehr,
ich habe mich gefunden.

JM

***

Ein anderer Ort

Ich denke an die Toten,
ich denke an die Nacht.
Die Toten sind mir Boten,
die Toten sind erwacht.

Hinter alten Mauern
erzählen Steine Geschichten:
Menschenleben dauern
und ein Gott wird es schon richten.

Ein Engel schaut zum Himmel,
von Trauer starr aus Stein,
fern von allem Gewimmel
steh‘ ich mit ihm allein.

Ein Sarg schwebt in die Erde
an des Lebens letzten Seilen,
auf dass noch Hoffnung werde,
wenn Körper und Seele teilen.

Schwarz sind die Kleider der Trauernden,
gelb sind die Grabeslichter,
schaut die den Tod Überdauernden,
schaut die weißen Gesichter.

Das Leben war grau,
doch die Blumen blühen prächtig,
der Himmel ist blau,
doch der Tod ist letztlich mächtig.

Der Friedhof voller Leben
am Tag wie in der Nacht,
die Toten wollen geben,
gebt ihren Rufen Acht.

JM

***

Der Mensch

Glaubt der Mensch,
er sei so wichtig?
Ja glaubt er denn,
er mache alles richtig?
Dabei ist so vieles nichtig.
Glaubt mir,
er ist nicht so wichtig.

JM

***

Sonderbarer Gedanke

Ich hatte den Gedanken der Gedanken,
und er hatte mich.
Doch habe ich ihn wieder vergessen,
und er mich.

Hätte ich ihn doch nie gehabt,
er hätte mich nicht gehabt,
ich hätte ihn nicht vergessen können
und er nicht mich.

Gäbe es doch Gedanken,
die man nicht haben könnte,
die einen nicht haben könnten,
die man aber dennoch vergessen könnte
und die einen dennoch vergessen würden.

So freue ich mich und er sich des Vergessens,
damit ich mich und er sich nicht ärgern muss
und damit ich und er glücklich sein kann.

Jetzt fällt mir der Gedanke wieder ein,
und er hat mich nun wieder:
Es war der Gedanke des Vergessens,
der von mir Besitz ergriff.
Er vergaß mich,
aber ich nicht ihn.
Aber da ich ihn also doch nicht vergaß,
musste er mich haben,
und so konnte er auch mich nicht vergessen haben.

JM

***

Das Ich und seine Gedanken

Das Ich geht mir nicht aus dem Sinn,
soviel ich auch in Gedanken bin.
Die Gedanken wollen sich ein Modell von mir machen,
doch dies lässt mich nur lachen.

Ich bin kein Modell
und werde es nie sein.
Ich bin ich
und dies ganz allein.

Die Gedanken dachten sich nichts dabei
als sie zusammenkamen.
Wir denken und denken
uns Neues und Neues.

Doch da fiel ihnen ein:
Es gibt ja noch das Ich.
Dieses lästige Wesen,
könnten wir Gedanken
doch ohne das Ich genesen.

Die Gedanken würden sich gern selbst fassen,
doch sie sollten es lieber lassen.
Denn zum Glück gibt’s noch das Ich,
das da spricht:
Ihr täuscht mich nicht.

Doch ein Gedanke
entriss sich den anderen.
Es war der Gedanke des Ichs.
Doch seine Erkenntnis war:
Ich bin nicht Ich.

Der Gedanke würde Vater gern enfliehn,
doch Vater lässt ihn nicht ziehn.
Ich bin Ich
und Du mein Kind.
Das Ich sprach zum Gedanken,
der Vater zum Sohn:
Mache dich nicht zu meinem Vater,
So wie ich mich nicht zu Gottes Vater mache.

Das Ich,
es erlebt.
Die Gedanken würden es
in der Erinnerung
auch gern.
Doch wieder mussten sie vom Vater ermahnt werden:
Ihr seid nicht Ich,
auch wenn Ihr es gern wäret.

Ich erlebe,
ihr erinnert.
Dies ist verschieden
und Vater sei Dank.

Da wurde es dem Ich mit den Gedanken zu viel
und das Ich legte die Gedanken schlafen:
Der Traum war das Ziel.
Die Gedanken lösten sich auf
und fielen zurück in Vaters Schoss.

Endlich konnte das Ich ungestört denken.
Ich bin mir selbst der Nächste,
ich kann nur erkennen.
Ich bin der feste Ausgangspunkt aller Erkenntnis.
So weiß ich um Vater,
um mich,
meine Kinder,
meine Enkel,
die Dinge der Welt.
Und alles wird sich schon erkennen lassen.

Alle Zeit wach.

JM

***

Auszeit

Ein Leben lang Gedanken,
was das Leben wohl sei.
Doch auf einmal ist es vorbei.

Dann kommen Gedanken,
wie das Leben wohl war.
Und da wird so vieles klar.

Das Leben richtig gelebt?
War alles nur Mühsal?
Oder vieles auch Schicksal?

Was kommt denn nun?
Nun kommt der Tod.
Und alles ist wieder im Lot.

JM

***

Sinn des Lebens

Ich suchte nach dem Sinn des Lebens,
doch suchte ich vergebens.
Hätte der Sinn doch mich mal gesucht,
ich hätte ihn nicht verflucht.

JM

***

Sinnfindung

Geschrei der Hölle hörte ich!
Das Glück des Lichts?
Nur Kurzweil ist’s!
Des Lebens Sinn ist mir wohl klar:
Das böse Leben lebte mich,
ich bin ein Kind des schwarzen Lichts!
Und nach dem Tode kommt das Nichts!
Und dies ist schwarz, es komme bald!
Ob Licht, ob Dunkelheit regiert,
sich beides doch negiert!
Das wahre Leben ist doch beides,
nur eines, das ist keines!

JM

***

Lucy trifft Lucifer

Ein Mensch wünscht sich einen Engel,
wäre selber einer gern,
könnt’ entflieh’n dem Gedrängel,
und zwar auf den nächsten Stern.

Nur des Diesseits,
den Mittler zum Jenseits suchend.
Doch manch einer
einen ander’n Mittler suchend,
und zwar den des schwarzen Lichtes.

Da trafen sich
Lucy und Lucifer
und Lucy sprach zu Lucifer:
Ach wäre ich doch Du
und Du ich,
weiß wird zu schwarz
und schwarz zu weiß.

Da sprach Lucifer:
Ist mir zu langweilig.
Ich bin von schwarzem Lichte,
außerdem bist Du meine Nichte.

JM

***

Anruf

Oh Du Fürst der Finsternis,
bediene Dich doch meiner!
Will Dir sein kein Hindernis,
im Himmel will mich keiner!

Fürstlich richte ich die Speisen,
nenn’ Dich Teufel, ruf’ Dich Satan gar!
Bald möcht’ ich in die Hölle reisen,
mir das Gute stets fern war!

In der Hölle werden wir dinieren,
bei bösem, schwarzem Wein!
Vom Höllenthron werden wir regieren,
– ja, so soll es sein!

Die Sünde dieser Welt
ist nicht unser Feind!
Alle Laster sind bestellt,
viele Leiber sind vereint!

Wenn keusche Himmelsengel
in Sehnsucht zu uns runterschau’n,
werden schlimme schwarze Bengel
ihnen die weißen Hintern bald verhau’n!

JM

***

Stillleben

Bevor ich in die Grube steige,
esse ich noch eine Feige,
Evas Äpfel mag ich nicht,
Adams Äpfel auch nicht,
die Feige bliebe mir im Halse stecken
und ich müsste noch verrecken.

JM

***

Erwachen

Ein Dichter wachte auf
und wusste nicht,
wo er herkam.
Da sprach jemand zu ihm:
Ich habe Dich erschaffen.
Es war das Gedicht.

JM

***

Die 1000 Anlässe oder der ständige Begleiter

Der Mensch,
er sucht und findet,
der Mensch,
er hat die Sucht, die bindet.

Ein Anlass hier,
ein Grund zum Feiern dort.
Wie wär’s mit ‘nem Bier?
Die guten Vorsätze sind fort.

Der Gründe gibt’s genug,
der kleine Apero vor’m Essen,
es ist doch alles Lug und Trug,
Aqua Minerale schnell vergessen.

Zum Essen dann der tolle Wein,
das hat so was von Kultur.
Darf’s dann ein Schnäpschen sein?
Doch letztlich ist es Saufen nur.

JM

***

Selbstfindung

Die ungelebten Träume
plagen nicht mehr.
Ich packte sie
in leeren Räumen
aus.
Und fand
– mich selbst.
Schwer
wiegt die Erkenntnis
lebenslanger Suche.
War es
die Suche nach
– mir selbst?
Wenn die Zeit
die Wogen glättet
und das Ende
näher kommt,
darf der endgültige Tod
nicht genommen werden.
Exi
tus
macht
Exis
tenz.
Melancholie
des
Lebens.
Romantik
des ungeschriebenen
Romans.

JM

***

An und für sich

An und für sich
bin ich gerne für mich.
Doch zu viel allein
– das kann es nicht sein.
Darum wünsche ich mir,
ich wäre bei Dir.
An und für sich
liebe ich Dich.
Doch zu viel zu zwein
– das kann es nicht sein.
Darum wünsche ich mir,
ich wäre nicht bei Dir.
An und für sich

JM

***

Herbstgedanken

Die Erinnerungen tauchen plötzlich auf
– wie bunte Blätter.
An das Jahr
und an das Leben.
Wieder ist ein Jahr vorüber.

Der Gedanke an einen endgültigen Tod
macht traurig.
Wir wissen,
dass die Bäume im nächsten Jahr
wieder grüne Blätter haben
und die Blumen wieder blühen
– aber gilt dies auch für uns?

Soviel wäre noch zu erleben,
zu genießen,
zu schaffen
und zu lieben.
Der Mensch will trotz allem
Ewigkeit.

Wohin mit all der Liebe,
die er in sich hat,
wenn niemand da,
sie zu empfangen?
Wohin mit all dem Wissen
und der Kreativität,
wenn sie keine Form finden
und das große Buch ungeschrieben,
das Gemälde ungemalt
und die Musik ungespielt bleibt?

Doch gibt der Herbst auch Trost
– er zeigt uns,
dass auch das Vergängliche und Sterbliche
schön ist.
Er bereitet uns auf den Winter vor,
in dem wir in tiefer Selbstversunkenheit
ruhen können.
Siehe,
selbst der Winter ist nicht schwarz
– er strahlt uns hell weiß an.

JM

***

Wieder Herbst

Die Bäume sind wieder schwarz,
die Nacht ist wieder Nacht,
der Wein wieder rot,
der Herbst wieder da,
der Sommer wieder vorbei.
Der Winter,
er möge nie kommen.
Der Frühling,
existiert nur in Träumen.
Das Dichten wird wieder schwer.
Doch der Mensch,
er bleibt immer derselbe.
Je länger sein Leben dauert,
je mehr wird der Herbst
Herbst seines Lebens,
der Winter sein Tod,
der Frühling sein ewiges Leben.

JM

***

Herbstwunsch

Kaum ist die dunkle Jahreszeit vorbei,
sehn ich sie schon wieder herbei.
Der Frühling kam wir viel zu früh,
nun hab ich meine liebe Müh.
Dies grelle Licht
nimmt mir die Sicht.
In der Dunkelheit ist meine Zeit,
von wegen kalte Einsamkeit.
Nun ist alles laut und überdreht,
der geliebte Wind ist nun verweht.

JM

***

Mailied

Sucht nach Frühling,
Winter war rau.
Suche neuen Liebling
– schau diese Frau.

Verliebt ist’s angenehm
im Wonnemonat Mai.
Doch gibt’s ein Problem:
Der Männer sind’s zwei.

In Sehnsucht gesucht,
nun Suche zu Ende.
Sehnsucht zu Eifersucht
– die bittere Wende.

Ende des Frühlings,
Winter kann kommen.
Such’ nicht mehr blindlings,
bin noch benommen.

JM

***

Vorübergehend

Du gehst an mir vorüber,
Dein Blick fängt mich
in der Unendlichkeit der Zeit.
Doch der Augenblick ist schon vorbei,
das Leben bleibt gewohntes Einerlei.
Mensch, geh zurück,
oh nein,
der Traum soll meiner sein.

JM

***

Ozeanisches Gefühl

In den Bergen
überkommt mich ein ozeanisches Gefühl.
Die Meere aus Stein
entführen mich ins Sein.

JM

***

Brücke

Du bist
hoch,
wie der Mut.
Tief,
wie der Gedanke.
Rund,
wie das Leben.

Doch bist Du auch
schwarz,
wie der Tod.
Rostig,
wie die Vergangenheit.
Breit, stählern und kalt,
wie die Gesellschaft.

Stählerne Kolosse
hast Du getragen.
Unter Deiner ordentlichen Konstruktion
fließt ein unordentliches Rinnsal.
Wie vielen
wurde es zum Schicksal?
Doch ist es nicht tief,
nur flach,
wie die Seelen der andern.

Du liegst
in grünem Tal
unter blauem Himmel,
oder
schwarzem Tal
unter schwarzem Himmel.

Wie vielen
hast Du den Tod gebracht?
Wie vielen
warst Du nicht nur Brücke
sondern Tor?
Wie vielen
hast Du das Leben zurückgebracht?
Bleibe stählern und schwarz in der Nacht.
So manche Lust
hast Du entfacht.
So mancher
ist bei Dir erwacht.
Bleibe stählern und schwarz in der Nacht.

JM

***

Columbus

All das ungelebte Leben,
all die ungeliebte Liebe,
aufgestaute Tränen der Jahrzehnte,
entladen sich im Nu.
Aber Träumer warst Du
immer,
große Träume
von gelebtem Leben
und von großer Liebe.
So bleibt die Liebe zu Dir selbst.
Versuche es,
der verborgene Schatz,
er wartet.
Dein inneres Juwel entdecke.
Auf zu neuen Welten,
auf, Columbus.

JM

***

Sein

Sterben
in freier Natur
und nicht
im Siechenhause im Rausch
die letzte Zeit verbringen.
– Mensch sein.

Verwesen
unter rauschenden Bäumen
und nie
im einsamen Walde
gefunden werden.
– Zeitlos sein.

Verwehen
in einsamer Wüste
und stets
lauschend dem Winde
zum Sandkorn werden.
– Erde sein.

Verschmelzen
am einsamen Strande
und immer
in rauschender Brandung
zum Tropfen werden.
– Wasser sein.

Entfliehen
im einsamen Gebirge
und in letzten Momenten
sehend die Ferne
zum Kristall werden.
– Luft sein.

Fliegend
zum Himmel,
der ewigen Heimat
sich nähernd
zum Hauch werden.
– Feuer sein.

Äonen war ich,
Äonen werde ich
Sein.
Ewig ist der Augenblick.
Gott
– Ist Natur.

JM

***

Dialog

Es sprachen zum einfachen Volk die Pfaffen:
Ach, Ihr seid doch alles Affen!
– Die Wahrheit ist im himmlischen Jenseits weit droben,
doch Ihr hockt nur auf den Bäumen dort oben!

Da sprachen die Affen aus himmlischer Sicht:
Ihr Pfaffen kennt die Bäume nicht,
wollt immer weiter hoch hinaus,
doch Gott Natur baut hier auf Erden des Menschen Haus!

JM

***

Das jüngste Gericht

Das jüngste Gericht,
das schmeckte mir nicht.
Die Kirchenoblaten waren kein Gedicht,
der Pfarrer predigte Verzicht.
Straft mich jetzt das jüngste Gericht?

JM

***

Notruf

Ruft schnell die Notrufzentrale,
da hat in einer Kathedrale
ein Katholik
einen Blick
bei der Predigt auf dem Katheder
als hätt’ er ein Problem mit seinem Katheter.

JM

***

Rollentausch

Die Gotteslast war ihm zu schwer,
d’rum lästerte er Gott noch mehr.
Würd’ Gott doch mal den Menschen lästern,
Gott wär’ nicht mehr von gestern.

Säß’ der Mensch doch mal am läng’ren Hebel,
Gott müsst’ streichen alle Segel.
Doch vieles wär’ dann ungehobelt,
wie das Ende dieses Textes.

JM

***

Am Anfang

Vor einer langen, langen Weile
schuf Gott die Zeit – aus Langeweile.
Die Zeit – wozu denn das?
Ja ohne Zeit passiert kaum was!
Ohne Zeit passiert fast nichts,
das gilt auch für den Vater des Lichts.
Ohne Zeit passiert nicht viel,
Gott suchte sich ein Spiel.

Dann hat er noch den Mensch geschaffen,
ach ließe er ihn als Affen!
Dieser Mensch mit seinem Treiben,
ach ließe er das Menschenschaffen bleiben!
Wozu denn diese Eile?
Gott starb dann doch an Langeweile.

JM

***

Am Ende

Wenn schwarze Äcker höher wachsen,
graben weiße Hände tiefer.
Endlich Macht den bösen Achsen
und dem schwarzen Ungeziefer.

Krebsgeschwüre – Wunderbar!
Zuviel Arbeit war getan,
Lebens Werk scheint sonderbar.
Und das Gestern ist vertan.

JM

***

Endlich

Jeder stirbt
seinen eigenen Tod.
Der Körper verdirbt
am Ende in Not.
Die Seele ist frei
und schreit: JUCHEI!

JM

***

Danach

Was wohl nach dem Tode ist,
wollt’ ich Dich noch fragen.
Doch da Du nicht mehr bist,
kannst Du’s mir nicht mehr sagen.

Was ist denn wohl das Leben?
– Waren Deine letzten Worte.
Du hast mir so viel gegeben,
nun gehe durch die Pforte.

JM

***

Endzeit

Die Erde war wüst.
Ihre Städte lagen in Trümmern.
– Allein war ich auf der Welt.

Andere brauchten mich nicht zu kümmern.
– Keinen Sinn mehr hatte ihr Geld.

So verließ ich die Stadt,
suchte der Berge Gipfel
und kam in einen Wald:
Am Baum der Erkenntnis hing ein Apfel.

Getrieben von Hunger fordert der Leib:
So beiße in ihn!
Da erschien mir ein Weib,
das rief zu mir hin:

Es ist vollbracht,
die Schlange habe ich über die Welt gebracht.

Erschrocken rannte ich fort
und sah auf der Erde eine Schlange,
die sich in den Schwanz biss.

JM

***

Goldenes Zeitalter

Am Anfang
war
der Sündenfall.
Am Ende
fielen
Sünde und Vergebung
zusammen.
Der Gefallene
fiel
dem allen Gefallenden
zu Füssen
und bat um
Vergebung.
Er tat sich damit keinen
Gefallen,
er sah
die Falle
nicht.
Da fiel
das Kreuz
mit dem allen Gefallenden
auf den Gefallenen.
Weiß und Schwarz,
Gut und Böse
wandelten sich in
goldene Energie.
Ein goldenes Zeitalter
erwuchs
– und der wahre
Baum der Erkenntnis.

JM

***

Der Baum der Erkenntnis

Ein hässlicher Affe
stieg vom
Baum der Erkenntnis,
da die Früchte tief hingen.
Im nächsten Jahr
hingen die Früchte oben.
Er stieg nicht mehr auf,
fällte den Baum
und hieß sich fortan
Mensch.

JM

***

Eins und Zwei

Du bist da,
Sie ist in meinen Gedanken.
Welche Liebe ist wahr?
Wann werde ich wanken?

Ich weiß, wie Du bist,
ich kenne Deine Gedanken.
Es ist, wie es ist,
ich spüre Deine Schranken.

Das Alte ist so vertraut.
Bin ich es, der alles erfindet?
Das Neue ist unverbraucht.
Wann sich wohl wer findet?

JM

***

Doppeltes Schweigen

Schöne stolze Frau,
hüllst Dich in Schweigen.
Der Mann,
er soll sich zeigen,
sich offenbaren.
Der Mann,
er soll Dein Urteil tragen.
Welcher Mann
wird es wohl wagen?
Der Mann,
der nicht wagt,
ist kein Mann.
Doch wann
ist wann?
Was der Mann
so alles kann.
Schweigen.

JM

***

Wille und Unwille

Sie wollte
immer gesehen werden,
den Tod sehen
wollte sie nie.
Sie wollte
immer gehört werden,
die Stille hören
wollte sie nie.
Sie wollte
immer umgängliches Mitgefühl,
Gefühl für Vergängliches
wollte sie nie.
Sie wollte
immer Jugend,
Alter
wollte sie nie.
Sie trug
immer Masken,
den unmaskierten Tod
wollte sie nie.
Sie wollte
immer alles,
den Tod
wollte sie nie.

JM

***

Der Tropfen

Ein Tropf hing an mir
als ich durch den Regen ging,
und zwar an meiner Nase.
Ich schielte ihn an
und träumte vor mich hin:
Ich hing an ihm
und er nicht an mir.
Und schwupps,
als ich so schielend über die Straße ging:
Schon häng’ ich am Tropf.

Ich träumte im Krankenhausbette,
wenn ich den Tropf doch nicht angeschielt hätte,
so müsste ich hier nicht liegen!
Doch der Schlaf, er will nicht siegen,
denn der Tropf,
er fiel auf meinen Kopf.

Nur kurz war ich wach,
schlief sofort wieder ein.
Ich träumte,
ich hätt’ keine Nase,
dann wär’s doch auch nicht passiert!
Da fiel der Tropf mir auf die Nase.

Und als ich in den Spiegel sah,
da hängt da wieder ein Tropf,
doch nun aus dem Wasser des Lebens:
Ach, all mein Träumen war vergebens!

Da nahm ich meinen Zopf,
warf ihn über den Kopf
und bedeckte so den Tropf.

Sehe nun nicht mehr die Nase.
Doch auf einmal drückt die Blase,
d’rum geh’ ich auf den Topf.
Zum Glück hab’ ich wenigstens noch keinen Kropf!
An stillem Ort mir denke
und erleichtert den Kopf senke.

JM

***

Ein besinnliches neues Jahr

Das neue Jahr
ist so besoffen,
dass es nicht mal weiß,
wo es hin soll.

Das alte Jahr
wurde so versoffen,
dass sich keiner mehr
daran erinnern kann.

Besinnlich
ist es nicht,
sich bis zur Besinnungslosigkeit
zu besaufen.

Sinnlich
ist es nicht,
dieses laute Knallen und Geflimmer,
gegen die Sinne.

Oder soll die Wahrheit
des neuen Jahres
vor lauter Übertönung und Überblendung
nicht in die Sinne gelangen?

Warum saufen
die Leute soviel?
Ist es der Frust,
sich nicht besinnen zu können?

Steckt nicht eine falsche Gesinnung dahinter,
keinen Sinn
in der Besinnung
zu sehen?

Oder haben die Leute
Angst vor der Besinnung,
und müssen sich deshalb
wortwörtlich wegknallen?

Wer soll da vertrieben werden?
Die bösen Geister
knallen doch selbst.
Zusammengeschart können sie auch jetzt nicht allein sein.

Und dieser Frust
über das Nichtalleinseinkönnen
muss weggeknallt werden.
Und in einem Jahr wiederholt sich alles.

Verkatert beginnt das neue Jahr.
Ein verkaterter Tag,
mit dem die Leute
nichts anfangen können.

So wie sie
das ganze Jahr über
mit sich
nichts anfangen können.

Da lobe ich mir den einsamen schwarzen Kater,
der heimlich, still und leise, auf sanften Pfoten
jahraus, jahrein, diese und jene weiße Maus fängt.
Und das mit Genuss und Sinn für den Augenblick.

JM

***

Was ist der Mensch?

Was ist der Mensch
denn anderes
als ein Sklave der Zeit,
der ab und zu
den Augenblick
erleben darf?

Was ist der Mensch
denn anderes
als ein Punkt im Raum,
der ab und zu
die Weite
spüren darf?

Was ist der Mensch
denn heute anderes
als ein Sklave des Konsums,
der ab und zu
sich sagt:
Brauche ich das alles?

Was ist der Mann
denn anderes
als ein Sklave seiner Männlichkeit,
der ab und zu
sich denkt,
wie es wohl ist eine Frau zu sein?

Was ist die Frau
denn anderes
als eine Sklavin ihrer Weiblichkeit,
die ab und zu
sich denkt,
wie es wohl ist ein Mann zu sein?

Was hält zwei Menschen
denn heute noch
zusammen außer Schwäche?

Was macht der Mensch
denn heute mehr
im Internet als sich zu zerstreuen?

Was ist
denn heute noch
seine Seele,
außer ein Spiegel vorgefertigter Bilder?

Was hat der Mensch
denn heute noch
für Werte?

Was der Mensch war
erscheint mir groß,
was er ist,
erscheint mir klein,
was er wird,
steht in den Sternen.

JM

***

Anders

Wie es wohl ist
anders zu sein?
Bist Du was Du bist
oder bist Du allein?

Sich anders zu verlieren,
wie mag es wohl sein?
Die Welt kann Dir gehören,
die Liebe kann anders sein.

Wenn die Anderen Dich verlassen,
lasse sie allein.
Sie können das Andere nicht fassen,
lasse sie gleicher sein.

JM

***

Andere Wege

Ich schrieb Dir
vor Jahrzehnten
ein paar Zeilen.

Wir haben uns
seitdem
nicht mehr geseh’n.

Du sagst mir
heute,
ich hätte Schuld.

Du hast Dein
Leben
radikal geändert.

All dies’ Glück
und alle die,
die Dich so lieben.

Bei mir
ist es
beim Schreiben geblieben.

JM

***

Geworfen

Geworfen aus der Ewigkeit
in diese Zeit.
Trotz vieler Menschen: Einsamkeit.
Eden – ist weit.

Der Teufel bellt
nach all dem Geld.
Ein Engel sei mein Held,
der Himmel sei mein Zelt.

Ich bin nicht mehr von dieser Welt.

JM

***

Am Morgen

Wenn meine nachttrunkene Seele
am frühen Nebeltaumorgen
durch das tropfenverhangene Netz
einer Spinne
aufgefangen wird,
kehrt sich mein Innerstes
nach außen
und ich möchte mich
Ersa
ganz hingeben.
Möge meine Seele
Ursache weiterer Netze sein
und zum Seelenfang beitragen.
Kann ein Wesen böse sein,
das dies geschaffen?

JM

***

Oben und Unten

Ich ging hinauf
und klopfte an,
er machte auf
und ließ mich ein,
ich ging hinein.

Er fragte mich,
was ich hier will,
ich sagte nichts.
– Hier ist nicht Dein Ort,
nun gehe fort.
Zu schlecht sei ich für diesen Ort.

Ich ging hinab
und klopfte an,
er machte auf
und ließ mich ein,
ich ging hinein.
– Was habt Ihr beiden wohl gemein?

Er fragte mich,
was ich hier will,
ich sagte nichts.
– Hier ist nicht Dein Ort,
nun gehe fort.
Zu schlecht sei ich selbst für diesen Ort.

Wo also hin?
Weder unter Lebenden noch Toten ich bin.
Wo ist da der Sinn?
Im Zwischenreich ewig auf- und niedersteigen?
– Mir bleibt nur mein Schweigen.

JM

***

Schwarzer Tanz

Wie gern wäre ich in jahrtausendelang unberührten Räumen,
doch Entdecker stören die heilige Ruhe,
sie seien entschuldigt:
Wer sieht denn die Schönheit im Dunkel?
Wer hört die Stille,
wenn niemand da ist?
Gaia lässt ihre Töchter nach oben sprießen,
Atlas seine Söhne nach unten,
nach Ewigkeiten der Sehnsucht treffen sich die Kinder in der Mitte zum Kuss.
Die Götter, sie wohnen in heiligen Hallen,
und schlafen den langen und wohlverdienten Schlaf
nach der Erschaffung der Welt.

Ich tauchte in den See,
kristallklar meine Seele,
in die Stille der Stille,
ertrank und erstickte,
doch trank ich und nickte,
erstarrte zum festen Kristall
und trotzte dem wandelnden All.

Jenseits der Zeit in ewiger Schönheit,
kein Feuer, kein Wasser, kein Element
kann mich zerstören,
möchte ewig nur die Göttermelodei hören,
laufe mit Gott um die Wette,
doch schaff ich es nicht,
ihm ins Angesicht zu schaun,
sehe Gutes, sehe Böses,
Du Unbekannter,
zu Dir will ich,
weg von Dir will ich,
Du Engel- und Satanerschaffer.

Kristallene Klänge klirrten klar,
gefallene Engel zogen an den Talar,
sie forderten auf zum Tanz,
die weißen Flügel umfassten sie ganz,
das Gute und Böse vergessen,
die Einen von den Andern besessen.

Sie feierten der Stunden elf das Fest,
ein weiterer Tanz der Minuten sechs,
dann kam über die Menschen die Pest
– dies schreckliche Gewächs.

Schauer liefen über meinen Rücken
als ich Engel mit Teufeln tanzen sah.
Hört, was ich euch zu sagen habe:
Wie viele der Minuten dauerte das Fest?
Es ist die Zahl des Tieres
und sie lautet sechshundertsechsundsechzig.

Die Fliegen versammelten sich in Baal,
Vampire stahlen den heiligen Gral,
in tiefschwarzer Nacht
regierte dunkle Macht,
Satan war bestellt,
regierte fortan die Welt.

JM

***

Erwachen

Noch nach der Todesstunde,
noch in der Todesnacht,
gab Satan mir die Kunde,
ich sei in der Hölle erwacht.

Fern sei ich vom Himmel,
nun komme ewige Nacht,
es warte tierisches Gewimmel,
ach wär’ ich doch im Himmel erwacht!

Das Gute würde siegen,
Gott auf meiner Seite
gleich Engeln würd’ ich fliegen,
um mich herum nur Wolkenweite.

JM

***

Im Wald

In einem dunklen Wald
war ich suchend in Zeiten des Alleinseins.
Doch schon sehr bald
habe ich sie gefunden und war mit ihr eins.

– Es war die wahre Einsamkeit.
Der Wind brachte die Ahnung mystischer Zauber,
plötzlich stand ein grünes Bett aus Moos bereit:
Ich war geschützt durch seine Geister.

In den Schlaf gewogen durch der Bäume Rauschen
entstand der Wunsch zu sterben.
Ewig wollte ich Deinen Geschichten lauschen.
– Und so ganz eins mit Dir werden.

JM

***

Weiß

All dieses Weiß.
Ich weiß nicht,
was am Ende
mich gestöret hat.

Ich lag im Krankenhaus Bethanien,
am Fenster blühten die Geranien.
Mein Leben war fast ausgeblüht,
mein Herz – das war bemüht.

All dieses Wissen
um das Dies und Das
und was den Körper
wohl gestöret hat.

Der Geist,
er weiß nicht:
Soll er nun sein
oder soll er nicht?

Die Seele,
sie weiß nicht:
Kommt denn nun etwas
oder kommt das Nichts?

Ob weiß,
ob schwarz,
ob vielmehr nichts?

Ich wünschte mir
– das richtige Weiß.
Und fragte mich:
Wer weiß wohl
um das richtige Weiß
und das richtige Wissen?

JM

***

Traum am Rhein

Ich träume schon seit tausend Tagen
tagaus tagein denselben Traum,
es kommt ein Tag, da werd’ ich’s wagen:
Verlasse den gewohnten Raum!
Es soll ein neuer Tag erwachen
aus dem täglich’ Einerlei,
dann pack’ ich meine sieben Sachen
und wandere zur Loreley.
Ich schau’ dann auf den Alltag runter
– wie die Lore auf den Rhein.
Wir feiern Hochzeit und sind munter.
In Strömen fließt der köstlich Wein.
Mit ihr, die einst aus Stein geboren,
hab’ ich durchtanzt die halbe Nacht.
Sie hat mich zum Gemahl erkoren
und Arm in Arm sind wir erwacht.
Doch als ich traurig sie verließ
erstarrte sie zu Stein.
Weiß sie heute noch, wie ich hieß?
Ich bin wieder allein.

JM

***

Der Wind

Ich liebe es,
zwei Fenster zu öffnen
und eine Tür zu schließen,
damit mir der Wind,
der durch die Türrahmen weht,
ein Lied singt,
von sich
und von vergangenen Zeiten.
Wenn irgendwann einmal meine Asche
auf freiem Felde liegt,
möge er sie in alle Himmelsrichtungen zerstreuen.

Ich liebe es,
nachts ein Fenster zu öffnen
und das Rauschen
der vorbeifahrenden Züge zu hören.
Sie erzählen mir
von früheren Tagen und Menschen,
von Tränen und Hoffnungen,
von endgültigen Abschieden an Bahnhöfen.

Manchmal weiß ich nicht,
wonach ich mich sehne.
Bin ich süchtig nach Sehnsucht?
Sie kann so stark sein,
dass ich mich
und andere
vergesse.

Wäre ich doch selbst der Wind,
dann könnte ich ewig heulen,
mich Ausweinen über alles,
was nicht war,
nicht ist,
und nie sein wird.

JM

***

Ungelebtes Leben

Im Schrank die Jacke aus Leder
– das ungelebte Leben.
Die Zahl der Räder
war immer nur Vier gewesen.

Aus Vier mach’ Zwei,
fürchte um Dein Leben
und Du bist dabei.
Am Straßenrand hat’s dann ein Kreuz gegeben.

JM

***

Sein oder Nichtsein

Unterwegs zu mir.
Bin ich bei mir angekommen?
Ich suchte mich ein Leben lang
und fand immer den andern.
Was Du nicht bist,
kannst Du
nicht mit dem andern sein.
Wo Du nicht bist,
kannst Du
nicht mit dem andern sein.
Was Du nicht hast,
kannst Du
nicht mit dem andern haben.
Du kannst nicht den andern haben,
so wie Du Dich auch nicht selbst haben kannst.
Du kannst nicht der andere sein,
Du kannst nur Du selbst sein.

JM

***

Sehnsucht des Sommers

Dem Schoss der Natur im Himmelblau,
gilt ihm mein Sehnen?
Oder dem Schoss einer Frau,
will ich in ihm vergehen?

Der Einheit, nicht dem Alleinsein,
gilt mein Sehnen im Sommer.
Ich will nicht das Nein,
ich will Nähe für immer.

Die Lust wird in wilden Kämpfen siegen
in heißen Sommernächten im Traum,
die Körper werden sich wiegen,
die Phantasie siegt im Seelenraum.

In so mancher Sommernacht
wird ein Stöhnen von der Klage zur Lust sich wenden,
es wird dann wirklich vollbracht.
O möge es im Götterhimmel enden.

JM

***

Willkommen

Willkommen in der Welt zerbrochener Träume,
überall nur leere Räume.

Willkommen in der Welt verlorener Zeiten,
das Leben dauert nicht Ewigkeiten.

Willkommen in der Welt vergessener Menschen,
es gibt nichts mehr zu wünschen.

Willkommen in der Welt einsamer Dichter,
am Horizont flackern die Lichter.

JM

***

Haben und Sein

Was brauch’ ich Ruhm?
– Ich Kind des Glücks!
Wozu Reichtum?
– Geld hinterrücks?

Reich sind meine Träume!
– Wozu noch Ehrenräume?
All das Haben doch nur quält!
– Es ist das Sein, das zählt!

JM

***

Fernstenliebe

So fern,
doch so nah,
sehen nicht unsere Gesichter,
hören nicht unsere Stimmen,
ahnen uns als Menschen,
trotz Schweigen
kann Schreiben
verbinden.

JM

***

Das Mahnmal

Es war einmal
ein steinernes Mal,
ein Mahnmal,
das mahnte,
wie alle Mahnmale.
Doch mal,
da mahnte es auch nicht.

Da war ein Müller ganz erpicht:
Ein Mahnmal,
das mal mahnt
und mal auch nicht?
Mahnmale haben stets zu mahnen!
Wenn meine Mahlsteine
mal mahlen würden
und mal nicht!
Bei mir, da gibt’s sowas nicht!
Das Mahnmal
wird zu meinem Mahlstein!
Dies ist meine Pflicht!
Denn schlechte Mahnmale,
die mag ich nicht!

Da war ein Maler ganz erpicht:
Müller, lass’ mich das Mahnmal
bitte vorher nochmal malen,
ich würd’ so gern noch einmal
ein Gemälde von dem Mahnmal malen,
das mal mahnte
und mal nicht
und bald zum Mahlstein wird,
der immer mahlt
und nicht mal
und mal nicht.

Beim Malen war der Maler ganz erpicht:
Ich male immer einmalig gute Gemälde,
ich male nicht mal gut
und mal nicht!

Da war das Mahnmal ganz erpicht:
Das Gemälde wird wohl mal ein Mahnmal,
so wie ich,
das mal mahnt
und mal auch nicht.

JM

***

Von Dichtern und Dingen

Ein Dichter suchte
tiefe Dinge.
Er suchte, fand
und schwieg sie schließlich an.

Dunkle Lichter
strahlen ihn nun an.
Sie suchten, fanden
und schweigen ihn nun an.

Nur Ihr
macht mich zum wahren Dichter,
nur durch Euch
bin ich erwacht.

Nur Du
machst uns zu wahren Dingen,
nur Du
vollendest uns zu ganzer Pracht.

Der Dichter versenkte
sich ganz still,
in Wassern der Unsterblichkeit
– Die Dinge nicht mehr weit.

Wenn alle schließlich
ganz vereint,
ist Vater Tod
nicht mehr so weit.

JM

***

Falsche Clowns

Das Staunen ging verloren,
nur noch Machen, Machen, Machen.
Falsche Clowns waren erkoren,
nur noch Lachen, Lachen, Lachen.

Das Schauen ging verloren,
der Sternenhimmel unsichtbar
wenn wahre Sterne sind geboren.
Dumm lacht sich’s doch wunderbar.

JM

***

Meinungen

Man kann
der Meinung sein,
keine Meinung haben
zu müssen.
Doch glaube ich es nur,
denn zumindest
eine Meinung habe
ich ja,
nämlich diese.

Über Meinungen
kann man
geteilter Meinung sein.
Ich teile diese Meinung:
Mein Ung,
die habe ich,
doch bin ich
sie nicht.
Ich bin
auch kein Gnu,
doch habe ich
eins.
Doch lief es mir fort,
wie es Meinungen
zuweilen auch tun.

Und dies ist
keine Meinung,
auch nicht
Mein Ung,
sondern eine Tatsache.

Doch dies tut
nichts zur Sache,
denn Tatsachen
tun Sachen,
die Meinungen
nicht machen.

JM

***

Das Leben ist kein langer ruhiger Fluss

Ein junger Mann, der fand die Lösung:
Er stellt sich auf die Bücher der Erlösung.
Sie waren von ihm selbst geschrieben,
vom Leben ist ihm nichts geblieben.

Er macht einen Schritt daneben
– und ist nicht mehr im Leben.
Sein Körper hing,
die Seele ging.

Doch nirgends hin,
das Nichts war ihr im Sinn.
Er macht es seinem Gotte gleich,
das Nichts, das macht ihn reich.

Die Welt ist Gottes Sterben,
das Leben ist Verderben.
Der Tod, der ist Erlösung.
Der Tod: Er ist die Lösung.

JM

Philipp Mainländer zum Gedächtnis

***

Das Erwachen

Nach tiefem Traum
bin ich erwacht,
in einem Raum
voll dunkler Macht.

Weich bin ich gebettet,
doch ist der Odem schwer.
Bin ich nach langem Alb endlich gerettet?
O nein, dies ist keine Mär!

Da ist ein Knistern und ein Knastern,
ich taste mich nach oben fort,
ahne violette Astern,
will nur fort von diesem Ort.

Da ist ein Krabbeln und ein Kriechen,
ich schreie immerzu!
Wünsche endlich rasch zu siechen,
wünsche endlich die verdiente Ruh’!

Wo ist die Hölle,
wenn nicht hier?
Wer erhebt die Himmelszölle,
wenn nicht das schwarze Tier?

Böses noch einmal gesendet,
endlich kommt verdienter Schlaf,
als der Odem endlich endet.
Schlaf’ nun, schlaf’, mein weißes Schaf.

JM

***

Alter

Ach könnt’ ich doch
Dein Alter richtig schätzen!
– Ich werd’ es noch:
Ich werd’ mich gegenübersetzen!

Ach könnt’ ich doch
das Alter richtig schätzen!
– Ich werd’ es noch:
Denn Jugend wird sich setzen!

Der Tod:
Er wird mich nicht verletzen!
Den Körper:
Nur ihn wird er zersetzen!

JM

***

Vergessen

Steinerne Meere
ruhen im Frieden
süßer Düfte
in Gärten der Verirrungen;
im Schlaf des tausendfachen Schlafs
ruht jeder einsam hier.

Doch wenn des Nachts
gleich geruf’nen Engeln
sich schwarze Vögel finden,
heimlich gebeten,
Einsamkeit zu überwinden.

Und wenn zum Fluge
sie sich finden,
um Irdisches,
stets ohne Flügel,
fortzuspinnen.

Wenn zum Gesange
sie sich finden,
um ungelebtes Leben
zu erfinden.

Führt des Todes Selbstvergessen
zu neuem Leben;
das Spiel ist erst zu Ende,
wenn die Dämm’rung bringt die Wende.

JM

***

Ten Stars

This is a poem dedicated
to ten stars:
Ten stars were born,
ten stars lived their life,
ten stars died.

To
to
to
ten
ten
ten
star
star
star
re
re
re.

JM

***

Selten

Als im kalten Nordland
donnernd heiße Erde
aus Gaias Tiefen
in die Höhen flog,
wuchs kein Phönix
aus der Asche
– Staub blieb Staub.

Und als Europens Donnervögel
nicht mehr flogen,
dachte ich
an längst vergang’ne Zeiten.
Ich schaute
zum azurnen Himmel
– sah nur Weiten.

Keine Wolken,
keine Streifen.
Eine Stille,
eine selt’ne Ruh’.
Der Mensch
hört’ sich
– mal wieder zu.

Und als der Südwind
im Norden
endlich Frieden schuf,
wandelt Asche
sich zu Stein,
war der Staub
wieder verflogen:

Weiße Streifen
sich zu Wolken blähen,
hört dies Schreien
tausender von Krähen.

Hört gewohnte Ätherklänge,
Gegenwart – sie wird gewahr.
Spürt die altbekannte Enge,
Sterne wieder unsichtbar.

JM

***

Tod in Wien

Du suchtest die Musik
in jungen Jahren.
Und fandest nicht die Liebe
– über das Weib sprachst Du Dein Urteil.

Du suchtest die Musik
in jenen Jahren.
Und fandest nur
Dein ewig Weibliches.

Du suchtest die Musik
in jenem Jahr.
Was blieb Dir noch
als einer ihrer großen Männer?

Du suchtest die Musik
an jenem Tag.
Doch Sterben in des großen Mannes Sterbehaus
macht Dich nicht groß.

Du suchtest die Musik
in jener Nacht.
Was Du im Schlaf geträumt
bleibt Dein Geheimnis.

Du suchtest die Musik
an jenem Tag.
Und brachst Dir selbst das Herz.
Es war schon längst gebrochen
und die, die Dich gut kannten,
empfanden nur noch Schmerz.

Du hast sie nicht gefunden.
Der Schlaf, er sei nun stark.
Das Böse Du gewollt,
das Gute dennoch kommt.

Vielleicht wirst Du sie hören,
vielleicht, vielleicht auch nicht.
Die Liebe ist unsterblich,
vergiss die Liebe nie.

JM

Otto Weininger zum Gedächtnis

* * *

Dem Feuer geweiht

Ich steh‘ nun schon seit Stunden
an diesem düst’ren Ort.
Die Wächter drehen ihre Runden
und Gott ist von mir fort.

Da zünden sie das Feuer an,
es quillt ganz langsam auf.
Zum Tode ich bestimmt, doch wann?
– Ihn nehm‘ ich gern inkauf.

Auf Schreie sie erpicht,
hier sei mein Stolz,
ich schreie nicht
trotz Flammenholz.

Kind der Hölle,
schrien die Hassgesichter,
erfüllt von böser Völle.
– Nur irdisch, ihre Höllenlichter.

JM

* * *

Herrin der Träume

Ein Ich im Land von vielen Träumen,
wollt‘ lenkend sich verlier’n in Purpurräumen.
Per se geht dies nicht,
die Auflösung hat Gewicht,
das Lenken wird stets es versäumen.

JM

* * *

Man lernt dazu

Haiku nicht erkannt
nun nicht mehr so unbekannt
hab es glatt verkannt

JM

* * *

Schwarzer Tunnel

Es wiegen sich
die Massen
nicht in Sicherheit.
Die Welle
schwingt
im bösen Rhythmus.
Es begann
mit Möglichem
im Chaos.
Es war
ein Kommen
und ein Gehen.
Es sei:
Nur fort
von diesem düst’ren Ort.
Es werde
gesucht
die Treppe nach oben.
Sie ist
Versuchung
des Jenseits.
Sie führt
aus dem Diesseits,
der Hölle,
in weiteres Verderben,
keiner will hier unten
sterben.
Das Licht
am Ende
des schwarzen Tunnels,
es wird heller,
schneller,
immer schneller,
kein Zurück.
Es kam der Tag,
an dem sie
über Leichen
gingen.
Und weiter spielt
das Todeslied
noch lang dazu.
Es spürt
der Mensch
in sich
das Tier.
Wo ist die Hölle,
wenn nicht hier?

JM

* * *

Der ewige Flug

Stark
war ich,
der Wille,
er war groß.

Doch die Einsicht
kam zu spät,
als es soweit war,
da wollte ich’s
nicht mehr.

Doch erst,
nachdem ich es getan.
Zu spät,
es war
schon längst gescheh’n.

Es gibt Gedanken,
die folgen nur auf Taten.
Gründe hatte ich genug,
auf einem Grund
liegt bald
mein immer Schon.
Toter Körper.

Es war ein Flug,
den ich immer gewünscht,
Sekunde,
nur ein Wort,
Ewigkeit,
überall,
das Leben,
endlich,
passt
in einen Augenblick,
die Augen,
riss ich auf.

Das Leben
war kein Höhenflug,
doch fliege ich
nun doch,
der lang ersehnte Flug.

Da ist Abschied,
doch tot,
das bin ich
nicht.

Was danach kommt,
was kümmert’s mich?
Das Danach,
das gibt es nicht.
Das Hier und Jetzt
ist das,
was zählt.

Ich tat es
um des Fluges Willen
und um der Ewigkeit,
unsterblich
bin ich
sicherlich.

Was danach kommt?
– Fragen?
Sich
nur
Schwache.

JM

* * *

Nonsens des Konsens

Vergewaltigte Tränen
gefallener Menschen
ergießen sich über
gefallene Bäume.

Der Eile geopfert,
den Zeiten entwachsen
im Lande
Le.

So soll
es sein,
das Haben-Sein.
Es soll?

Es muss,
denn schnell soll sein,
was schnell
sein muss.

Wie langsam
doch die Bäume wuchsen
auf Gründen
grüner Hügel.

Ein Hoch
den weißen Bahnen,
im schwarzen Dunkel
tief.

Und langsam fließen
blut’ge Tränen.
Und schnell
sind rote Linien.

JM

* * *

Das Ende des Wortes

Am Ende der Zeiten
war das Wort am Ende.
Entweder gab es Zerstörung,
dass es nicht mehr sein konnte,
oder absolute Harmonie,
dass es seiner nicht mehr bedurfte.

Die Menschen schauten sich an
– und verstanden sich schon.
Und man gedachte
in wortlosem Denken
der Zeiten des Wortes.

Auch die Dichter,
jene,
die meinten,
es bedürfe ihrer noch,
um Harmonie zu vollenden.
Verführt waren sie
durch die Worte
„Am Anfang war das Wort“.

Dies war in Wahrheit ihre Sünde,
die ihnen nie bewusst war.
Und sie klebten jahrtausendelang
ihre klebrigen Zettel
auf die Dinge.
Und merkten gar nicht,
wie sie sie vergewaltigten,
wie sie die Welt vergewaltigten
und sich über sie erhoben.

Und da fiel ihnen endlich wieder ein,
dass die Tiere nicht redeten.
Und sie fanden die wahre Weisheit.
Und fortan schlachteten sie keine Tiere mehr.
Und als die Welt endlich wortlos war
. . .

JM

* * *

Vom Wert des Redens und Schweigens

Seit Jahrtausenden
ruft der Berg
in seine Tiefen.
Und glücklich sind,
die ihm entkommen.
Und überall
der Rede Wert.
Die Zeichen schwarz
auf weiß,
der Bilder viel,
der Jubel groß.

Doch die,
zu Tausenden
im Berg geblieben,
sind nirgendwo
der Rede Wert.
Die Zeichen schwarz
auf schwarz,
der Bilder wenig,
die Trauer groß.

Und die,
die reden,
können schweigen.
Doch falsches Schweigen
ist nichts Wert.

JM

* * *

Der letzte Gang

Die Türe schwer
und leider oft verschlossen,
nach heil’ger Messe
alle Bänke leer.

So trete ein
am späten Morgen,
in Weihrauchduft
eröffnet ist die alte Welt.

Auf,
zum Gang im Kreuz,
im Kirchenkreuze
unter festem Himmelszelt.

Zu seh’n die Martern,
die dereinst erlitten
von unser
aller Held.

Gemein war einst der Pöbel,
des Römers spitze List.
Gekreist bin ich
um leere Bänke.
Gekreuzigt er
auch hier und jetzt.

Auf dem Altar
der Einsamkeit
zu opfern
hastig Stadt.

Gen Mittag hungrig,
das Brot,
es ist verschlossen,
das Mahl der Massen war gereicht.
Der Wein,
er war schon längst vergossen.

Da saß ich so
den ganzen Tag,
in kühlen Schatten
nach dem Sonnengang.

Es dämmert so geschwinde,
der Schatten immer länger,
bis Dunkelheit regiert
das dunkle Schiff.

Da spür’ ich
den Versucher,
er nähert sich,
zu suchen.
Zwiegespräch
des Einsamen.

Ich träum‘ auf Kirchenbänken
vom alten
Je,
gekreuzigt in
Je
rusalem.

Um Mitternacht
ich auferstanden
und zum Altar
schnell aufgesprungen.

Das Seil,
zu hängen über’s Kreuze,
ein Schritt nach vorn,
es war um mich gescheh’n
– nun werd‘ ich Jesu wiederseh’n.

Hinter Kirchenmauern
wollt‘ ich rasten.
Es war die letzte Rast
und enden sollt‘ sie nie.

Nun ziehe ich des Nachts
durch dunkle Kirchengrüfte,
doch flieg ich auch
im Gothenbau
jenseits schmaler hoher Säulen
zu farbenfrohen Fensterhimmeln.

Der Erde und dem Himmel nahe,
dem Himmel und der Erde.
Doch such‘ ich welches Ziel?
Und ewig suchend,
nie gewiss,
ich
Engel welchen Lichts?

JM

* * *

Lied eines sterbenden Philosophen mit gesenktem Haupt

Gelöscht ist das Neuronenfeuer,
das Ich – ich lach‘ mich tot,
Substanzen sind mir nicht geheuer,
das Wasser tat ihm Not.

Es endet das Neuronenfeuer,
der Geist – schwebt über Wassern,
Substanzen sind mir nicht geheuer,
das Schweben wird er lassen.

Da endet das Neuronenfeuer,
die Seele – Gott im Himmel,
Substanzen sind mir nicht geheuer
– Philosophenkopfgewimmel.

Und der Philosoph lachte,
wie er noch nie gelacht hat.

JM

* * *

Die Frage nach dem Sinn des Lebens

All Ihr Frager,
nach den Sinnen
– soviel gehört
und auch geseh’n.
Ach würdet Ihr Euch doch
auf’s Handeln versteh’n!
– Legt Hand an Euch
oder lasst es sein,
diese Frage ist echt
– mit Ihr seid Ihr allein!
Die Frage nach dem Sinn des Lebens
ist insofern recht vergebens.
Keine Frage, nur der Wunsch:
Erhöret mich und spendet Trost,
eigentlich will ich nur weiter leben,
doch fehlt mir was
– danach zu streben.

JM

* * *

Gemach

Gemach, gemach
im Schlafgemach.
Am besten fängt’s gemächlich an,
sich dennoch steigernd dann und wann.

Da ist ein Fühlen, Tasten, Küssen
– vom Kopf bis zu den Füssen.
Da ist ein Wallen hier und dort
– auch Feuchtigkeit an manchem Ort.

Es spannt sich stärker da und dort,
die Kleider sollen endlich fort.
Und sind sie endlich weg,
dann wird’s so richtig keck.

Wie geht’s wohl weiter?
– Es wird so richtig heiter.
Wer macht den nächsten Schritt?
– Nicht enden soll der lange Ritt!

Sie wollen’s wirklich beide,
keiner den Anderen beneide.
Wer gibt den Rhythmus,
wer den nächsten Kuss?

Wie lässt sich nur die Eile halten,
sich nur die Lust verwalten,
wenn gut Ding Weile haben will?
– Jetzt halt‘ doch endlich still!

Da ist Umarmen, Stöhnen,
gegenseitiges Verwöhnen,
bis zum letzten Wallen
– dann nur noch Fallen.

Es geht nicht länger,
muss passieren,
vereint zu nie gekannten Höhen.
Doch wer hoch fliegt,
der muss tief fallen,
vergisst sich selber noch dabei.

Da ist die lange Explosion,
gewollte Implosion,
ein innig Geben-Nehmen,
die Lösung aller Rätsel,
kein Platz zum Denken mehr.

Da ist das Nichts,
die Leere,
Erschöpfung,
vielleicht Schlaf.
Kommt doch das Denken
– Was war das?

JM

* * *

Einst

Einst
warst Du voller Sehnsucht,
nach dem Wahren.

Und es kamen die Träume.

Irgendwann
verschwand die Sehnsucht.

Irgendwann
verschwanden auch die Träume.

Und Du fandest die Wahrheit,
und entdecktest,
dass sie nicht das Wahre ist.

JM

* * *

Die Blinden

Die Blinden,
sie sehen
Dein Inneres
nicht.

Der Kreis,
der nie war,
er zerbricht.

Dein Auge,
es weint,
Du bist
blind.

JM

* * *

Am Morgen

Ich wache morgens auf
und wünsche mir, der Tag wär‘ schon vorbei.
Ich wache morgens auf
und hasse die Sonne.
Ich wache morgens auf
und sehne mich nach der Nacht zurück.
Ich wache morgens auf
und fühle mich vom Tag vergewaltigt.
Ich wache morgens auf
und frage mich, warum die Nacht so kurz ist, obwohl sie so lang sein könnte wie der Tag. Das liegt wohl daran, dass wir schlafen, mit flüchtigen Träumen, oder traumlos. Während uns die Bürokratie des Tages, des Alltags, endlos erscheint.
Ich wache morgens auf
und wünsche mir, noch länger liegen bleiben zu können.
Ich wache morgens auf
und langweile mich zu Tode, wenn ich an Menschen denke, mit denen ich heute zu tun haben werde, zu tun haben muss.
Ich wache morgens auf
und frage mich, warum der Tag nicht so tief zu mir ist wie die Nacht.
Ich wache morgens auf
und fühle mich nicht wie neugeboren.
Ich wache morgens auf
und mein Körper tut seine Pflicht.
Ich wache morgens auf
und frage mich, wann ich morgens nicht mehr aufwache.
Ich wache morgens auf
und frage mich, wann ich endlich vom Aufwachen, von den vielen Morgenden und Tagen befreit bin und endlich die ewige Nacht kommt.
Ich wache morgens auf
und frage mich, warum das Erwachen nicht grundsätzlich in der Nacht passieren kann. Dann ist es am aufregendsten, während es am Morgen am gewöhnlichsten ist.
Ich wache morgens auf
und frage mich, warum die Nacht nicht der Alltag ist.
Ich wache morgens auf
und frage mich, warum man die Nacht nicht angemessener würdigt.
Ich wache morgens auf
und fühle mich schon vom Kaffee abhängig.
Ich wache morgens auf
und keiner interessiert sich für meine Nachtgedanken.
Ich wache morgens auf
und gähne den Tag an.
Ich wache morgens auf
und fühle mich, als müsste ich meine Frau – die Nacht – verlassen.
Ich wache morgens auf
und ertrinke in Alltäglichkeit, obwohl ich noch nach der Nacht dürste.

JM

* * *

Take it easy

Armer Tor denk‘ nicht an morgen
und mach‘ Dir keine Sorgen.
Dort ist ein Tor,
Tag für Tag stehst Du davor.

Nach des Lebens langem oder kurzem Lauf
geht es eines Tages auf.
Es wird der Tag des Todes sein
und er gehört Dir ganz allein.

JM

* * *


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