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22. März 2014Gedichte
12. Juli 2012Die 1000 Anlässe oder der ständige Begleiter
Das Leben ist kein langer ruhiger Fluss
Vom Wert des Redens und Schweigens
Lied eines sterbenden Philosophen mit gesenktem Haupt
Die Frage nach dem Sinn des Lebens
Die Herrlichkeit der Erden
So wachsen wir auf Erden
und denken groß zu werden,
von Schmerz und Sorgen frei;
doch eh wir zugenommen
und recht zur Blüte kommen,
bricht uns des Todes Sturm entzwei.
***
Nähe des Geliebten
Ich denke dein, wenn mir der Sonne Schimmer
Vom Meere strahlt;
Ich denke dein, wenn sich des Mondes Flimmer
In Quellen malt.
Ich sehe dich, wenn auf dem fernen Wege
Der Staub sich hebt;
In tiefer Nacht, wenn auf dem schmalen Stege
Der Wandrer bebt.
Ich höre dich, wenn dort mit dumpfem Rauschen
Die Welle steigt.
Im stillen Haine geh’ ich oft zu lauschen,
Wenn alles schweigt.
Ich bin bei dir; du seist auch noch so ferne,
Du bist mir nah!
Die Sonne sinkt; bald leuchten mir die Sterne.
O, wärst du da!
***
Ein Gleiches
Über allen Gipfeln ist Ruh,
in allen Wipfeln spürest Du
kaum einen Hauch;
die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde ruhest Du auch.
Over all of the hills
Peace comes anew,
The woodland stills
All through;
The birds make no sound on the bough.
Wait a while,
soon now
Peace comes to you.
Super culmi-
na’st requies,
In ramis ulmi
Senties
Vix spiritum;
Dant alites somno se levi.
Tu quoque brevi
Dormies tum.
***
Faust
Du bist am Ende – was du bist.
Setz’ dir Perücken auf von Millionen Locken,
Setz’ deinen Fuß auf ellenhohe Socken,
Du bleibst doch immer, was du bist.
***
Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
sind Schlüssel aller Kreaturen,
wenn die so singen, oder küssen,
mehr als die Tiefgelehrten wissen,
wenn sich die Welt ins freie Leben
und in die Welt wird zurück begeben,
wenn dann sich wieder Licht und Schatten
zu echter Klarheit wieder gatten,
und man in Märchen und Gedichten
erkennt die wahren Weltgeschichten,
dann fliegt vor einem geheimen Wort
das ganze verkehrte Wesen fort.
***
Mondnacht
Es war, als hätt der Himmel
Die Erde still geküsst,
Dass sie im Blütenschimmer
Von ihm nun träumen müsst.
Die Luft ging durch die Felder,
Die Ähren wogten sacht,
Es rauschten leis die Wälder,
So sternklar war die Nacht.
Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.
***
Sehnsucht
Es schienen so golden die Sterne,
Am Fenster ich einsam stand
Und hörte aus weiter Ferne
Ein Posthorn im stillen Land.
Das Herz mir im Leib entbrennte,
Da hab ich mir heimlich gedacht:
Ach, wer da mitreisen könnte
In der prächtigen Sommernacht!
Zwei junge Gesellen gingen
Vorüber am Bergeshang,
Ich hörte im Wandern sie singen
Die stille Gegend entlang:
Von schwindelnden Felsenschlüften,
Wo die Wälder rauschen so sacht,
Von Quellen, die von den Klüften
Sich stürzen in die Waldesnacht.
Sie sangen von Marmorbildern,
Von Gärten, die überm Gestein
In dämmernden Lauben verwildern,
Palästen im Mondenschein,
Wo die Mädchen am Fenster lauschen,
Wann der Lauten Klang erwacht
Und die Brunnen verschlafen rauschen
In der prächtigen Sommernacht.
***
Der Pilger
Man setzt uns auf die Schwelle,
Wir wissen nicht, woher?
Da glüht der Morgen helle,
Hinaus verlangt uns sehr.
Der Erde Klang und Bilder,
Tiefblaue Frühlingslust,
Verlockend wild und wilder,
Bewegen da die Brust.
Bald wird es rings so schwüle,
Die Welt eratmet kaum,
Berg‘, Schloß und Wälder kühle
Stehn lautlos wie im Traum,
Und ein geheimes Grausen
Beschleichet unsern Sinn:
Wir sehnen uns nach Hause
Und wissen nicht, wohin?
***
Wer wusste je das Leben recht zu fassen
Wer wusste je das Leben recht zu fassen,
Wer hat die Hälfte nicht davon verloren
Im Traum, im Fieber, im Gespräch mit Toren,
In Liebesqual, im leeren Zeitverprassen?
Ja, der sogar, der ruhig und gelassen,
Mit dem Bewußtsein, was er soll, geboren,
Frühzeitig einen Lebensgang erkoren,
Muss vor des Lebens Widerspruch erblassen.
Denn jeder hofft doch, daß das Glück ihm lache,
Allein das Glück, wenn’s wirklich kommt, ertragen,
Ist keines Menschen, wäre Gottes Sache.
Auch kommt es nie, wir wünschen bloß und wagen:
Dem Schläfer fällt es nimmermehr vom Dache,
Und auch der Läufer wird es nicht erjagen.
***
When I heard the learn’d astronomer
When I heard the learn’d astronomer,
When the proofs, the figures, were ranged in columns
before me,
When I was shown the charts and diagrams, to add,
divide and measure them,
When I sitting heard the astronomer where he lectured
with much applause in the lecture-room,
How soon unaccountable I became tired and sick,
Till rising and gliding out I wander’d off by myself,
In the mystical moist night-air, and from time to time,
Look’d up in perfect silence at the stars.
***
Sphärengesang
So lang die Sterne kreisen
Am Himmelszelt,
Vernimmt manch’ Ohr den leisen
Gesang der Welt:
“Dem sel’gen Nichts entstiegen,
Der ew’gen Ruh,
Um ruhelos zu fliegen –
Wozu? Wozu?”
***
Der Waldmann
Im Walde haust ein alter Mann,
der kaum sein Leben fristen kann.
Er trinkt vom Quell, er pflückt sich Beeren,
sein Kleid will nicht dem Winter wehren.
Er hat kein Glück in dieser Welt
und keinen Gott im Himmelszelt.
Er hat kein Weib, kein Kind und Keinen,
der möchte mit ihm lachen, weinen.
Vor seiner Höhle traf ich ihn,
da kam die Frage mir zu Sinn:
Warum, o Himmel! lebt dies Leben
und hat sich nicht den Tod gegeben?
Als ich die Worte laut gewagt,
hat er die Antwort mir gesagt:
„Mir ist kein Baum noch vorgekommen,
der selbst die Axt zur Hand genommen.
Ich lebe wie der Baum: Ich muss.
Ich lebe nach des Schicksals Schluss,
und kann ich nicht versteh’n das harte –
es hat mich hergepflanzt, ich warte.
Hab‘ mir das Leben nicht bestellt
und nicht verlangt auf diese Welt,
gesorgt nicht, dass ich sei auf Erden,
und sorg‘ nicht, was soll weiter werden.“
***
Einsamkeit
Einsamkeit! in deiner Blüte
duftet nicht der Erde Glück,
nimmer gibst du dem Gemüte,
was verloren ist, zurück.
Aber unbekannte Schauer
lockst du aus verborg’ner Trauer
durch des Geistes Macht hervor,
und sie zieh’n nach fremden Sternen,
nach dem Licht der erdenfernen
Ewigkeit das Herz empor.
Einsam spricht des Herzens Pochen,
was die Lippe nie gesprochen.
***
Des Menschen Hand
Legt in die Hand das Schicksal dir ein Glück
Musst du ein andres wieder fallen lassen;
Schmerz wie Gewinn erhältst du Stück um Stück,
Und Tiefersehntes wirst du bitter hassen.
Des Menschen Hand ist eine Kinderhand,
Sie greift nur zu, um achtlos zu zerstören;
Mit Trümmern überstreuet sie das Land,
Und was sie hält, wird ihr doch nie gehören.
Des Menschen Hand ist eine Kinderhand,
Sein Herz ein Kinderherz im heftgen Trachten.
Greif zu und halt!… Da liegt der bunte Tand;
Und klagen müssen nun, die eben lachten.
Legt in die Hand das Schicksal dir den Kranz,
So musst die schönste Pracht du selbst zerpflücken;
Zerstören wirst du selbst des Lebens Glanz
Und weinen über den zerstreuten Stücken.
***
Bei abgehellter Luft
Bei abgehellter Luft,
Wenn schon des Taus’ Tröstung
Zur Erde niederquillt,
Unsichtbar, auch ungehört: –
Denn zartes Schuhwerk trägt
Der Tröster Tau gleich allen Trost-Milden -:
Gedenkst du da, gedenkst du, heißes Herz,
Wie einst du durstetest,
Nach himmlischen Tränen und Tau-Geträufel
Versengt und müde durstetest,
Dieweil auf gelben Gras-Pfaden
Boshaft abendliche Sonnenblicke
Durch schwarze Bäume um dich liefen,
Blendende Sonnen-Glutblicke, schadenfrohe.
***
Das trunkene Lied
Oh Mensch! Gib Acht!
Was spricht die tiefe Mitternacht?
Ich schlief, ich schlief -,
Aus tiefem Traum bin ich erwacht: –
Die Welt ist tief,
Und tiefer als der Tag gedacht.
Tief ist ihr Weh -,
Lust – tiefer noch als Herzeleid:
Weh spricht: Vergeh!
Doch alle Lust will Ewigkeit -,
– will tiefe, tiefe Ewigkeit!
***
Der neue Columbus
Freundin! sprach Columbus, traue
Keinem Genueser mehr!
Immer starrt er in das Blaue –
Fernstes lockt ihn allzu sehr!
Fremdestes ist nun mir teuer!
Genua – das sank, das schwand –
Herz, bleib kalt! Hand, hält das Steuer!
Vor mir Meer – und Land? – und Land?
Dorthin will ich – und ich traue
Mir fortan und meinem Griff.
Offen ist das Meer, ins Blaue
Treibt mein Genueser Schiff.
Alles wird mir neu und neuer,
Weit hinaus glänzt Raum und Zeit –
Und das schönste Ungeheuer
Lacht mir zu: die Ewigkeit
***
Das Buch vom mönchischen Leben
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.
Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang.
***
Traumgekrönt
O gäbs doch Sterne, die nicht bleichen,
wenn schon der Tag den Ost besäumt;
von solchen Sternen ohnegleichen
hat meine Seele oft geträumt.
Von Sternen, die so milde blinken,
dass dort das Auge landen mag,
das müde ward vom Sonnetrinken
an einem goldnen Sommertag.
Und schlichen hoch ins Weltgetriebe
sich wirklich solche Sterne ein,-
sie müssten der verborgnen Liebe
und allen Dichtern heilig sein.
***
Die Städte aber wollen nur das Ihre
Die Städte aber wollen nur das Ihre
und reißen alles mit in ihren Lauf.
Wie hohles Holz zerbrechen sie die Tiere
und brauchen viele Völker brennend auf.
Und ihre Menschen dienen in Kulturen
und fallen tief aus Gleichgewicht und Maß,
und nennen Fortschritt ihre Schneckenspuren
und fahren rascher, wo sie langsam fuhren,
und fühlen sich und funkeln wie die Huren
und lärmen lauter mit Metall und Glas.
Es ist, als ob ein Trug sie täglich äffte,
sie können gar nicht mehr sie selber sein;
das Geld wächst an, hat alle ihre Kräfte
und ist wie Ost
groß, und sie sind klein
und ausgeholt und warten, dass der Wein
und alles Gift der Tier- und Menschensäfte
sie reize zu vergänglichem Geschäfte.
UND deine Armen leiden unter diesen
und sind von allem, was sie schauen, schwer
und glühen frierend wie in Fieberkrisen
und gehn, aus jeder Wohnung ausgewiesen,
wie fremde Tote in der Nacht umher;
und sind beladen mit dem ganzen Schmutze,
und wie in Sonne Faulendes bespien, –
von jedem Zufall, von der Dirnen Putze,
von Wagen und Laternen angeschrien.
Und gibt es einen Mund zu ihrem Schutze,
so mach ihn mündig und bewege ihn.
***
Sankt Sebastian
Wie ein Liegender so steht er; ganz
hingehalten von dem großen Willen.
Weitentrückt wie Mütter, wenn sie stillen,
und in sich gebunden wie ein Kranz.
Und die Pfeile kommen: jetzt und jetzt
und als sprängen sie aus seinen Lenden,
eisern bebend mit den freien Enden.
Doch er lächelt dunkel, unverletzt.
Einmal nur wird seine Trauer groß,
und die Augen liegen schmerzlich bloß,
bis sie etwas leugnen, wie Geringes,
und als ließen sie verächtlich los
die Vernichter eines schönen Dinges.
***
Im Nebel
Seltsam, im Nebel zu wandern!
Einsam ist jeder Busch und Stein,
Kein Baum sieht den andern,
Jeder ist allein.
Voll von Freuden war mir die Welt,
Als noch mein Leben licht war,
Nun, da der Nebel fällt,
Ist keiner mehr sichtbar.
Wahrlich, keiner ist weise,
Der nicht das Dunkle kennt,
Das unentrinnbar und leise
Von allen ihn trennt.
Seltsam, im Nebel zu wandern!
Leben ist Einsamsein.
Kein Mensch kennt den andern,
Jeder ist allein.
***
Glück
Solang du nach dem Glücke jagst,
Bist du nicht reif zum Glücklichsein,
Und wäre alles Liebste dein.
Solang du um Verlornes klagst
Und Ziele hast und rastlos bist,
Weißt Du noch nicht, was Friede ist.
Erst wenn du jedem Wunsch entsagst,
Nicht Ziel mehr noch Begehren kennst,
Das Glück nicht mehr mit Namen nennst,
Dann reicht dir des Geschehens Flut
Nicht mehr ans Herz, und deine Seele ruht.
***
Das Glasperlenspiel
Es führen über die Erde
Straßen und Wege viel,
Aber alle haben
Dasselbe Ziel.
Du kannst reiten und fahren
Zu zwein und zu drein,
Den letzten Schritt musst du
Gehen allein.
Drum ist kein Wissen
Noch Können so gut,
Als dass man alles Schwere
Alleine tut.
***
Wir leben hin …
Wir leben hin in Form und Schein
Und ahnen nur in Leidestagen
Das ewig wandellose Sein,
Von dem uns dunkle Träume sagen.
Wir freuen uns an Trug und Schaum,
Wir gleichen führerlosen Blinden,
Wir suchen bang in Zeit und Raum,
Was nur im Ewigen zu finden.
Erlösung hoffen wir und Heil
In wesenlosen Traumesgaben –
Da wir doch Götter sind und teil
Am Urbeginn der Schöpfung haben.
***
Stufen
Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft zu leben.
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf’ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden . . .
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!
***
Verfall
Am Abend, wenn die Glocken Frieden läuten,
Folg ich der Vögel wundervollen Flügen,
Die lang geschart, gleich frommen Pilgerzügen,
Entschwinden in den herbstlich klaren Weiten.
Hinwandelnd durch den dämmervollen Garten
Träum ich nach ihren helleren Geschicken
Und fühl der Stunden Weiser kaum mehr rücken.
So folg ich über Wolken ihren Fahrten.
Da macht ein Hauch mich von Verfall erzittern.
Die Amsel klagt in den entlaubten Zweigen.
Es schwankt der rote Wein an rostigen Gittern,
Indes wie blasser Kinder Todesreigen
Um dunkle Brunnenränder, die verwittern,
Im Wind sich fröstelnd blaue Astern neigen.
***
St.-Peters-Friedhof
***
Tag und Nacht
Der Tag ist ein Traum,
die Nacht ist der wahre Raum,
in ihr ist das Erwachen,
bei dem sich Seelenlichter entfachen.
Wahrhaft hell nur in der Dunkelheit
und nicht zur grellen Tageszeit.
Wie die Sterne im schwarzen All,
die Sonne ist der Sündenfall.
In der Nacht
bin ich erwacht,
ich weiß nicht wann,
weil man nicht alles wissen kann.
Ich will es auch nicht wissen
und drehe mich wieder ins Kissen.
Zeit stehe doch still,
da ich die Ewigkeit will.
JM
***
Ende der Nacht
Einsam steht ihr hellen Sterne,
bei euch wäre ich so gerne.
Das Dunkle ist unser Meister,
einsam sind wir freien Geister.
Doch die Nacht ist bald zu Ende
und Du Sonne bringst die Wende.
Nun sich viele sonnen,
die die Nacht nicht kennen.
Sparst auch bei den vielen nicht,
die nicht sah’n das Sternenlicht.
JM
***
Herzensfrage
Mein Herz,
es schlägt,
von Jahr zu Jahr,
von Stunde zu Stunde,
von Sekunde zu Sekunde.
Irgendwann bleibt es stehen,
wohin werde ich dann gehen?
Ich atme ein,
ich atme aus,
die Luft will rein,
die Luft will raus.
Ob nach dem Tod der Geist sich noch regt?
So wie im Leben das Herz stetig schlägt?
Oder wandeln die Seelen im Himmel gar,
wie die Körper wandeln auf Erden?
Die ewige Frage ist und war:
Was wird nur aus uns werden?
JM
***
Begegnung
Ich bin die Zeit,
die rückwärts geht,
so sei bereit,
ich weiß, wie’s um Dich steht.
Ich komme aus der Ewigkeit
und will zum Anfang hin,
hab’ weder Angst noch Traurigkeit,
da ich nicht leiblich bin.
Kein Mund kann Dir verkünden,
wie’s ist um Dich bestellt.
Was wird aus all den Sünden?
Ob sich ein Engel hinzugesellt?
Ich wollt’, ich hätt’ mehr Zeit für Dich,
doch willst Du nicht verharr’n im Sein.
Den Augenblick, den kennst Du nicht.
JM
***
Wo ist der Weise?
Wir reiten auf der Sekunde,
von Augenblick zu Augenblick,
unserer Seelen Wunde
ist die Uhr: ihr tick tick.
Wir reiten auf der Sekunde,
von Kick zu Kick,
kein Weiser bringt uns die Kunde:
Ihr habt einen Tick.
Wir reiten auf der Sekunde,
von Tick zu Tick,
bis in der letzten Stunde
es uns bricht das Genick.
JM
***
Unterwegs
Ich bin so gern an keinem Ort,
darum fahre ich oft fort.
Doch will ich nirgendwo hin,
nur Fahren ist der Sinn.
Eben war ich noch hier,
aber da ich mich gern beim Fahren verlier,
bin ich schnell wieder fort
und schon an einem anderen Ort.
Bei der Fahrt durch die Städte,
wohin man schaut: Kälte.
Doch fahre ich aus den Städten raus,
wo nicht mehr steht Haus an Haus,
halte ich gern dort an,
wo man still verweilen kann.
Ach Du grüner Rest Natur,
was mag ich an Dir nur?
Hast keine Meinung über mich,
nur bei Dir wahrlich verlier’ ich mich.
JM
***
Sirenen
Auf meiner Odyssee über Autobahnen
höre ich moderne Sirenengesänge,
die über den Äther klingen
und sich mit dem Summen der Reifen mischen.
Je schneller,
je höher.
Irgendwo muss die Grenze liegen,
an der es aus dem Reich der Sirenen kein Zurück mehr gibt.
Die Sirene des Autos,
das Dich retten soll,
hörst Du dann nicht mehr.
Wer hört diesen sich ewig wiederholenden Gesängen noch zu?
Wer lässt sich noch verführen?
Ich schnallte mich an,
um nicht zu ihnen zu müssen.
Autobahnen und Hotelzimmer,
neutrale Räume,
die niemandem gehören,
ich liebe sie.
Bäume an Landstraßen,
fahr’ hinaus mit dem Gefühl,
jeder Tag kann der letzte sein.
JM
***
Schwer von Begriff
Ich war grad im Begriff,
den Begriff zu begreifen,
da griff mir
jemand mit starkem Griff
an den Hals,
grrr.
Mein Blut war überhaupt nicht mehr im Begriff,
mein Gehirn zu durchstreifen,
drum war es aus
mit dem Begriffe begreifen.
Ich begriff nicht,
warum dieser jemand mich griff.
Er wohl auch nicht.
Drum begreife:
Greife niemals jemanden beim Begreifen.
JM
***
Was für eine Zeit?
Wenn in Zeiten schneller Bilder
der Mensch nicht weiß wohin,
webt die unsichtbare große Spinne
schon auf dem ganzen Erdenrund.
Und wenn die Seelen nur noch Spiegel sind,
dann wird es Zeit für Dich zu gehn,
dorthin wo noch die grünen Bäume sind
und wo Du noch sein kannst wie ein Kind.
JM
***
Zwischen den Jahren
Nicht enden soll dies Zwischenreich der Jahre,
als ob die Zeit uns zur Besinnung zwingt,
nur in der Stille liegt doch das Wahre,
das Dich zur weisen Einsicht bringt.
Mensch, halte endlich ein,
das Alte ist nicht mehr, das Neue noch nicht,
lass Vergangenes vergangen, Zukünftiges zukünftig sein,
die Gegenwart mahnt Dich zur Pflicht.
Wenn im Niemandsland der Zeit die Jahre ziehn,
finde endlich Deine Ruh,
denn vor Dir selbst gibt’s kein Entfliehn.
Dies ruft die Zeit Dir selten zu.
JM
***
Audienz
Entrückt war ich der irdischen Gefilde,
ein freier Geist in Sphären
fern übersiedelter Gebilde.
Sollte Gaia mir Audienz gewähren?
Da hörte ich sie sagen:
Kennst Du den Parasit der Erde?
Was wird er wohl noch alles wagen?
Wann sie wohl wieder Heimat werde?
Was ist nur aus ihr geworden?
Tier und Pflanze waren einst ihr Kind,
nun ist alles voll von seinen Horden.
Wo ist nur die Welt geblieben, in denen Bäume heilig sind?
Geschaffen nicht von Menschenhand.
Schau auf diesen schlimmen Ort,
siehe dies geschundne Land,
ach wär der Mensch doch fort.
JM
***
Toter Vogel am Straßenrand
Toter Vogel am Straßenrand,
liegst auf versiegelten Flächen,
dies ist nicht mehr Dein Land,
wann wird die Natur Dich rächen?
Toter Vogel am Straßenrand,
fand Dich mit gebrochenen Flügeln,
getötet von Menschenhand,
wann wird der Mensch sich zügeln?
JM
***
Andere Wesen
Die Tiere schauen so rein,
ihre Blicke sind klar,
in ihnen ist Sein.
Ihre Gefühle sind wahr.
Was machen wir nur mit ihnen?
Als ob sie nur da sind,
um uns zu dienen.
Schreie verhallen im Wind.
JM
***
Augenblicke
Der Mensch
ist doch allein.
Was bleibt ihm denn
als seine eigenen Gedanken?
Das Hier und Jetzt
blitzt selten auf.
Die Augen blicken
selten in die Sterne,
Augenblicke
sind schnell wieder vorbei.
Der Mensch
stirbt letztlich allein,
auch wenn vertraute Blicke
ihn begleiten.
Bis sich
Augen ewig
schließen.
JM
***
Grenze der Dichtung
Das Erlebnis wird Erlebnis bleiben,
denn Unaussprechliches lässt sich nicht schreiben.
Das Dichten ist nur ein Versuch,
das Leben bleibt ein ungeschriebnes Buch.
Der Tod wird auch Erlebnis sein,
Gott wird den Dichtern schon verzeihn.
JM
***
Suchen und Finden
Ich suchte mich an alten Orten
und war dort ganz verloren.
Doch öffneten sich neue Pforten,
ich war wie neugeboren.
Der Tod ist wie das Meer,
er heilt die alten Wunden.
Ich suche nun nicht mehr,
ich habe mich gefunden.
JM
***
Ein anderer Ort
Ich denke an die Toten,
ich denke an die Nacht.
Die Toten sind mir Boten,
die Toten sind erwacht.
Hinter alten Mauern
erzählen Steine Geschichten:
Menschenleben dauern
und ein Gott wird es schon richten.
Ein Engel schaut zum Himmel,
von Trauer starr aus Stein,
fern von allem Gewimmel
steh‘ ich mit ihm allein.
Ein Sarg schwebt in die Erde
an des Lebens letzten Seilen,
auf dass noch Hoffnung werde,
wenn Körper und Seele teilen.
Schwarz sind die Kleider der Trauernden,
gelb sind die Grabeslichter,
schaut die den Tod Überdauernden,
schaut die weißen Gesichter.
Das Leben war grau,
doch die Blumen blühen prächtig,
der Himmel ist blau,
doch der Tod ist letztlich mächtig.
Der Friedhof voller Leben
am Tag wie in der Nacht,
die Toten wollen geben,
gebt ihren Rufen Acht.
JM
***
Der Mensch
Glaubt der Mensch,
er sei so wichtig?
Ja glaubt er denn,
er mache alles richtig?
Dabei ist so vieles nichtig.
Glaubt mir,
er ist nicht so wichtig.
JM
***
Sonderbarer Gedanke
Ich hatte den Gedanken der Gedanken,
und er hatte mich.
Doch habe ich ihn wieder vergessen,
und er mich.
Hätte ich ihn doch nie gehabt,
er hätte mich nicht gehabt,
ich hätte ihn nicht vergessen können
und er nicht mich.
Gäbe es doch Gedanken,
die man nicht haben könnte,
die einen nicht haben könnten,
die man aber dennoch vergessen könnte
und die einen dennoch vergessen würden.
So freue ich mich und er sich des Vergessens,
damit ich mich und er sich nicht ärgern muss
und damit ich und er glücklich sein kann.
Jetzt fällt mir der Gedanke wieder ein,
und er hat mich nun wieder:
Es war der Gedanke des Vergessens,
der von mir Besitz ergriff.
Er vergaß mich,
aber ich nicht ihn.
Aber da ich ihn also doch nicht vergaß,
musste er mich haben,
und so konnte er auch mich nicht vergessen haben.
JM
***
Das Ich und seine Gedanken
Das Ich geht mir nicht aus dem Sinn,
soviel ich auch in Gedanken bin.
Die Gedanken wollen sich ein Modell von mir machen,
doch dies lässt mich nur lachen.
Ich bin kein Modell
und werde es nie sein.
Ich bin ich
und dies ganz allein.
Die Gedanken dachten sich nichts dabei
als sie zusammenkamen.
Wir denken und denken
uns Neues und Neues.
Doch da fiel ihnen ein:
Es gibt ja noch das Ich.
Dieses lästige Wesen,
könnten wir Gedanken
doch ohne das Ich genesen.
Die Gedanken würden sich gern selbst fassen,
doch sie sollten es lieber lassen.
Denn zum Glück gibt’s noch das Ich,
das da spricht:
Ihr täuscht mich nicht.
Doch ein Gedanke
entriss sich den anderen.
Es war der Gedanke des Ichs.
Doch seine Erkenntnis war:
Ich bin nicht Ich.
Der Gedanke würde Vater gern enfliehn,
doch Vater lässt ihn nicht ziehn.
Ich bin Ich
und Du mein Kind.
Das Ich sprach zum Gedanken,
der Vater zum Sohn:
Mache dich nicht zu meinem Vater,
So wie ich mich nicht zu Gottes Vater mache.
Das Ich,
es erlebt.
Die Gedanken würden es
in der Erinnerung
auch gern.
Doch wieder mussten sie vom Vater ermahnt werden:
Ihr seid nicht Ich,
auch wenn Ihr es gern wäret.
Ich erlebe,
ihr erinnert.
Dies ist verschieden
und Vater sei Dank.
Da wurde es dem Ich mit den Gedanken zu viel
und das Ich legte die Gedanken schlafen:
Der Traum war das Ziel.
Die Gedanken lösten sich auf
und fielen zurück in Vaters Schoss.
Endlich konnte das Ich ungestört denken.
Ich bin mir selbst der Nächste,
ich kann nur erkennen.
Ich bin der feste Ausgangspunkt aller Erkenntnis.
So weiß ich um Vater,
um mich,
meine Kinder,
meine Enkel,
die Dinge der Welt.
Und alles wird sich schon erkennen lassen.
Alle Zeit wach.
JM
***
Auszeit
Ein Leben lang Gedanken,
was das Leben wohl sei.
Doch auf einmal ist es vorbei.
Dann kommen Gedanken,
wie das Leben wohl war.
Und da wird so vieles klar.
Das Leben richtig gelebt?
War alles nur Mühsal?
Oder vieles auch Schicksal?
Was kommt denn nun?
Nun kommt der Tod.
Und alles ist wieder im Lot.
JM
***
Sinn des Lebens
Ich suchte nach dem Sinn des Lebens,
doch suchte ich vergebens.
Hätte der Sinn doch mich mal gesucht,
ich hätte ihn nicht verflucht.
JM
***
Sinnfindung
Geschrei der Hölle hörte ich!
Das Glück des Lichts?
Nur Kurzweil ist’s!
Des Lebens Sinn ist mir wohl klar:
Das böse Leben lebte mich,
ich bin ein Kind des schwarzen Lichts!
Und nach dem Tode kommt das Nichts!
Und dies ist schwarz, es komme bald!
Ob Licht, ob Dunkelheit regiert,
sich beides doch negiert!
Das wahre Leben ist doch beides,
nur eines, das ist keines!
JM
***
Lucy trifft Lucifer
Ein Mensch wünscht sich einen Engel,
wäre selber einer gern,
könnt’ entflieh’n dem Gedrängel,
und zwar auf den nächsten Stern.
Nur des Diesseits,
den Mittler zum Jenseits suchend.
Doch manch einer
einen ander’n Mittler suchend,
und zwar den des schwarzen Lichtes.
Da trafen sich
Lucy und Lucifer
und Lucy sprach zu Lucifer:
Ach wäre ich doch Du
und Du ich,
weiß wird zu schwarz
und schwarz zu weiß.
Da sprach Lucifer:
Ist mir zu langweilig.
Ich bin von schwarzem Lichte,
außerdem bist Du meine Nichte.
JM
***
Anruf
Oh Du Fürst der Finsternis,
bediene Dich doch meiner!
Will Dir sein kein Hindernis,
im Himmel will mich keiner!
Fürstlich richte ich die Speisen,
nenn’ Dich Teufel, ruf’ Dich Satan gar!
Bald möcht’ ich in die Hölle reisen,
mir das Gute stets fern war!
In der Hölle werden wir dinieren,
bei bösem, schwarzem Wein!
Vom Höllenthron werden wir regieren,
– ja, so soll es sein!
Die Sünde dieser Welt
ist nicht unser Feind!
Alle Laster sind bestellt,
viele Leiber sind vereint!
Wenn keusche Himmelsengel
in Sehnsucht zu uns runterschau’n,
werden schlimme schwarze Bengel
ihnen die weißen Hintern bald verhau’n!
JM
***
Stillleben
Bevor ich in die Grube steige,
esse ich noch eine Feige,
Evas Äpfel mag ich nicht,
Adams Äpfel auch nicht,
die Feige bliebe mir im Halse stecken
und ich müsste noch verrecken.
JM
***
Erwachen
Ein Dichter wachte auf
und wusste nicht,
wo er herkam.
Da sprach jemand zu ihm:
Ich habe Dich erschaffen.
Es war das Gedicht.
JM
***
Die 1000 Anlässe oder der ständige Begleiter
Der Mensch,
er sucht und findet,
der Mensch,
er hat die Sucht, die bindet.
Ein Anlass hier,
ein Grund zum Feiern dort.
Wie wär’s mit ‘nem Bier?
Die guten Vorsätze sind fort.
Der Gründe gibt’s genug,
der kleine Apero vor’m Essen,
es ist doch alles Lug und Trug,
Aqua Minerale schnell vergessen.
Zum Essen dann der tolle Wein,
das hat so was von Kultur.
Darf’s dann ein Schnäpschen sein?
Doch letztlich ist es Saufen nur.
JM
***
Selbstfindung
Die ungelebten Träume
plagen nicht mehr.
Ich packte sie
in leeren Räumen
aus.
Und fand
– mich selbst.
Schwer
wiegt die Erkenntnis
lebenslanger Suche.
War es
die Suche nach
– mir selbst?
Wenn die Zeit
die Wogen glättet
und das Ende
näher kommt,
darf der endgültige Tod
nicht genommen werden.
Exi
tus
macht
Exis
tenz.
Melancholie
des
Lebens.
Romantik
des ungeschriebenen
Romans.
JM
***
An und für sich
An und für sich
bin ich gerne für mich.
Doch zu viel allein
– das kann es nicht sein.
Darum wünsche ich mir,
ich wäre bei Dir.
An und für sich
liebe ich Dich.
Doch zu viel zu zwein
– das kann es nicht sein.
Darum wünsche ich mir,
ich wäre nicht bei Dir.
An und für sich
…
JM
***
Herbstgedanken
Die Erinnerungen tauchen plötzlich auf
– wie bunte Blätter.
An das Jahr
und an das Leben.
Wieder ist ein Jahr vorüber.
Der Gedanke an einen endgültigen Tod
macht traurig.
Wir wissen,
dass die Bäume im nächsten Jahr
wieder grüne Blätter haben
und die Blumen wieder blühen
– aber gilt dies auch für uns?
Soviel wäre noch zu erleben,
zu genießen,
zu schaffen
und zu lieben.
Der Mensch will trotz allem
Ewigkeit.
Wohin mit all der Liebe,
die er in sich hat,
wenn niemand da,
sie zu empfangen?
Wohin mit all dem Wissen
und der Kreativität,
wenn sie keine Form finden
und das große Buch ungeschrieben,
das Gemälde ungemalt
und die Musik ungespielt bleibt?
Doch gibt der Herbst auch Trost
– er zeigt uns,
dass auch das Vergängliche und Sterbliche
schön ist.
Er bereitet uns auf den Winter vor,
in dem wir in tiefer Selbstversunkenheit
ruhen können.
Siehe,
selbst der Winter ist nicht schwarz
– er strahlt uns hell weiß an.
JM
***
Wieder Herbst
Die Bäume sind wieder schwarz,
die Nacht ist wieder Nacht,
der Wein wieder rot,
der Herbst wieder da,
der Sommer wieder vorbei.
Der Winter,
er möge nie kommen.
Der Frühling,
existiert nur in Träumen.
Das Dichten wird wieder schwer.
Doch der Mensch,
er bleibt immer derselbe.
Je länger sein Leben dauert,
je mehr wird der Herbst
Herbst seines Lebens,
der Winter sein Tod,
der Frühling sein ewiges Leben.
JM
***
Herbstwunsch
Kaum ist die dunkle Jahreszeit vorbei,
sehn ich sie schon wieder herbei.
Der Frühling kam wir viel zu früh,
nun hab ich meine liebe Müh.
Dies grelle Licht
nimmt mir die Sicht.
In der Dunkelheit ist meine Zeit,
von wegen kalte Einsamkeit.
Nun ist alles laut und überdreht,
der geliebte Wind ist nun verweht.
JM
***
Mailied
Sucht nach Frühling,
Winter war rau.
Suche neuen Liebling
– schau diese Frau.
Verliebt ist’s angenehm
im Wonnemonat Mai.
Doch gibt’s ein Problem:
Der Männer sind’s zwei.
In Sehnsucht gesucht,
nun Suche zu Ende.
Sehnsucht zu Eifersucht
– die bittere Wende.
Ende des Frühlings,
Winter kann kommen.
Such’ nicht mehr blindlings,
bin noch benommen.
JM
***
Vorübergehend
Du gehst an mir vorüber,
Dein Blick fängt mich
in der Unendlichkeit der Zeit.
Doch der Augenblick ist schon vorbei,
das Leben bleibt gewohntes Einerlei.
Mensch, geh zurück,
oh nein,
der Traum soll meiner sein.
JM
***
Ozeanisches Gefühl
In den Bergen
überkommt mich ein ozeanisches Gefühl.
Die Meere aus Stein
entführen mich ins Sein.
JM
***
Brücke
Du bist
hoch,
wie der Mut.
Tief,
wie der Gedanke.
Rund,
wie das Leben.
Doch bist Du auch
schwarz,
wie der Tod.
Rostig,
wie die Vergangenheit.
Breit, stählern und kalt,
wie die Gesellschaft.
Stählerne Kolosse
hast Du getragen.
Unter Deiner ordentlichen Konstruktion
fließt ein unordentliches Rinnsal.
Wie vielen
wurde es zum Schicksal?
Doch ist es nicht tief,
nur flach,
wie die Seelen der andern.
Du liegst
in grünem Tal
unter blauem Himmel,
oder
schwarzem Tal
unter schwarzem Himmel.
Wie vielen
hast Du den Tod gebracht?
Wie vielen
warst Du nicht nur Brücke
sondern Tor?
Wie vielen
hast Du das Leben zurückgebracht?
Bleibe stählern und schwarz in der Nacht.
So manche Lust
hast Du entfacht.
So mancher
ist bei Dir erwacht.
Bleibe stählern und schwarz in der Nacht.
JM
***
Columbus
All das ungelebte Leben,
all die ungeliebte Liebe,
aufgestaute Tränen der Jahrzehnte,
entladen sich im Nu.
Aber Träumer warst Du
immer,
große Träume
von gelebtem Leben
und von großer Liebe.
So bleibt die Liebe zu Dir selbst.
Versuche es,
der verborgene Schatz,
er wartet.
Dein inneres Juwel entdecke.
Auf zu neuen Welten,
auf, Columbus.
JM
***
Sein
Sterben
in freier Natur
und nicht
im Siechenhause im Rausch
die letzte Zeit verbringen.
– Mensch sein.
Verwesen
unter rauschenden Bäumen
und nie
im einsamen Walde
gefunden werden.
– Zeitlos sein.
Verwehen
in einsamer Wüste
und stets
lauschend dem Winde
zum Sandkorn werden.
– Erde sein.
Verschmelzen
am einsamen Strande
und immer
in rauschender Brandung
zum Tropfen werden.
– Wasser sein.
Entfliehen
im einsamen Gebirge
und in letzten Momenten
sehend die Ferne
zum Kristall werden.
– Luft sein.
Fliegend
zum Himmel,
der ewigen Heimat
sich nähernd
zum Hauch werden.
– Feuer sein.
Äonen war ich,
Äonen werde ich
Sein.
Ewig ist der Augenblick.
Gott
– Ist Natur.
JM
***
Dialog
Es sprachen zum einfachen Volk die Pfaffen:
Ach, Ihr seid doch alles Affen!
– Die Wahrheit ist im himmlischen Jenseits weit droben,
doch Ihr hockt nur auf den Bäumen dort oben!
Da sprachen die Affen aus himmlischer Sicht:
Ihr Pfaffen kennt die Bäume nicht,
wollt immer weiter hoch hinaus,
doch Gott Natur baut hier auf Erden des Menschen Haus!
JM
***
Das jüngste Gericht
Das jüngste Gericht,
das schmeckte mir nicht.
Die Kirchenoblaten waren kein Gedicht,
der Pfarrer predigte Verzicht.
Straft mich jetzt das jüngste Gericht?
JM
***
Notruf
Ruft schnell die Notrufzentrale,
da hat in einer Kathedrale
ein Katholik
einen Blick
bei der Predigt auf dem Katheder
als hätt’ er ein Problem mit seinem Katheter.
JM
***
Rollentausch
Die Gotteslast war ihm zu schwer,
d’rum lästerte er Gott noch mehr.
Würd’ Gott doch mal den Menschen lästern,
Gott wär’ nicht mehr von gestern.
Säß’ der Mensch doch mal am läng’ren Hebel,
Gott müsst’ streichen alle Segel.
Doch vieles wär’ dann ungehobelt,
wie das Ende dieses Textes.
JM
***
Am Anfang
Vor einer langen, langen Weile
schuf Gott die Zeit – aus Langeweile.
Die Zeit – wozu denn das?
Ja ohne Zeit passiert kaum was!
Ohne Zeit passiert fast nichts,
das gilt auch für den Vater des Lichts.
Ohne Zeit passiert nicht viel,
Gott suchte sich ein Spiel.
Dann hat er noch den Mensch geschaffen,
ach ließe er ihn als Affen!
Dieser Mensch mit seinem Treiben,
ach ließe er das Menschenschaffen bleiben!
Wozu denn diese Eile?
Gott starb dann doch an Langeweile.
JM
***
Am Ende
Wenn schwarze Äcker höher wachsen,
graben weiße Hände tiefer.
Endlich Macht den bösen Achsen
und dem schwarzen Ungeziefer.
Krebsgeschwüre – Wunderbar!
Zuviel Arbeit war getan,
Lebens Werk scheint sonderbar.
Und das Gestern ist vertan.
JM
***
Endlich
Jeder stirbt
seinen eigenen Tod.
Der Körper verdirbt
am Ende in Not.
Die Seele ist frei
und schreit: JUCHEI!
JM
***
Danach
Was wohl nach dem Tode ist,
wollt’ ich Dich noch fragen.
Doch da Du nicht mehr bist,
kannst Du’s mir nicht mehr sagen.
Was ist denn wohl das Leben?
– Waren Deine letzten Worte.
Du hast mir so viel gegeben,
nun gehe durch die Pforte.
JM
***
Endzeit
Die Erde war wüst.
Ihre Städte lagen in Trümmern.
– Allein war ich auf der Welt.
Andere brauchten mich nicht zu kümmern.
– Keinen Sinn mehr hatte ihr Geld.
So verließ ich die Stadt,
suchte der Berge Gipfel
und kam in einen Wald:
Am Baum der Erkenntnis hing ein Apfel.
Getrieben von Hunger fordert der Leib:
So beiße in ihn!
Da erschien mir ein Weib,
das rief zu mir hin:
Es ist vollbracht,
die Schlange habe ich über die Welt gebracht.
Erschrocken rannte ich fort
und sah auf der Erde eine Schlange,
die sich in den Schwanz biss.
JM
***
Goldenes Zeitalter
Am Anfang
war
der Sündenfall.
Am Ende
fielen
Sünde und Vergebung
zusammen.
Der Gefallene
fiel
dem allen Gefallenden
zu Füssen
und bat um
Vergebung.
Er tat sich damit keinen
Gefallen,
er sah
die Falle
nicht.
Da fiel
das Kreuz
mit dem allen Gefallenden
auf den Gefallenen.
Weiß und Schwarz,
Gut und Böse
wandelten sich in
goldene Energie.
Ein goldenes Zeitalter
erwuchs
– und der wahre
Baum der Erkenntnis.
JM
***
Der Baum der Erkenntnis
Ein hässlicher Affe
stieg vom
Baum der Erkenntnis,
da die Früchte tief hingen.
Im nächsten Jahr
hingen die Früchte oben.
Er stieg nicht mehr auf,
fällte den Baum
und hieß sich fortan
Mensch.
JM
***
Eins und Zwei
Du bist da,
Sie ist in meinen Gedanken.
Welche Liebe ist wahr?
Wann werde ich wanken?
Ich weiß, wie Du bist,
ich kenne Deine Gedanken.
Es ist, wie es ist,
ich spüre Deine Schranken.
Das Alte ist so vertraut.
Bin ich es, der alles erfindet?
Das Neue ist unverbraucht.
Wann sich wohl wer findet?
JM
***
Doppeltes Schweigen
Schöne stolze Frau,
hüllst Dich in Schweigen.
Der Mann,
er soll sich zeigen,
sich offenbaren.
Der Mann,
er soll Dein Urteil tragen.
Welcher Mann
wird es wohl wagen?
Der Mann,
der nicht wagt,
ist kein Mann.
Doch wann
ist wann?
Was der Mann
so alles kann.
Schweigen.
JM
***
Wille und Unwille
Sie wollte
immer gesehen werden,
den Tod sehen
wollte sie nie.
Sie wollte
immer gehört werden,
die Stille hören
wollte sie nie.
Sie wollte
immer umgängliches Mitgefühl,
Gefühl für Vergängliches
wollte sie nie.
Sie wollte
immer Jugend,
Alter
wollte sie nie.
Sie trug
immer Masken,
den unmaskierten Tod
wollte sie nie.
Sie wollte
immer alles,
den Tod
wollte sie nie.
JM
***
Der Tropfen
Ein Tropf hing an mir
als ich durch den Regen ging,
und zwar an meiner Nase.
Ich schielte ihn an
und träumte vor mich hin:
Ich hing an ihm
und er nicht an mir.
Und schwupps,
als ich so schielend über die Straße ging:
Schon häng’ ich am Tropf.
Ich träumte im Krankenhausbette,
wenn ich den Tropf doch nicht angeschielt hätte,
so müsste ich hier nicht liegen!
Doch der Schlaf, er will nicht siegen,
denn der Tropf,
er fiel auf meinen Kopf.
Nur kurz war ich wach,
schlief sofort wieder ein.
Ich träumte,
ich hätt’ keine Nase,
dann wär’s doch auch nicht passiert!
Da fiel der Tropf mir auf die Nase.
Und als ich in den Spiegel sah,
da hängt da wieder ein Tropf,
doch nun aus dem Wasser des Lebens:
Ach, all mein Träumen war vergebens!
Da nahm ich meinen Zopf,
warf ihn über den Kopf
und bedeckte so den Tropf.
Sehe nun nicht mehr die Nase.
Doch auf einmal drückt die Blase,
d’rum geh’ ich auf den Topf.
Zum Glück hab’ ich wenigstens noch keinen Kropf!
An stillem Ort mir denke
und erleichtert den Kopf senke.
JM
***
Ein besinnliches neues Jahr
Das neue Jahr
ist so besoffen,
dass es nicht mal weiß,
wo es hin soll.
Das alte Jahr
wurde so versoffen,
dass sich keiner mehr
daran erinnern kann.
Besinnlich
ist es nicht,
sich bis zur Besinnungslosigkeit
zu besaufen.
Sinnlich
ist es nicht,
dieses laute Knallen und Geflimmer,
gegen die Sinne.
Oder soll die Wahrheit
des neuen Jahres
vor lauter Übertönung und Überblendung
nicht in die Sinne gelangen?
Warum saufen
die Leute soviel?
Ist es der Frust,
sich nicht besinnen zu können?
Steckt nicht eine falsche Gesinnung dahinter,
keinen Sinn
in der Besinnung
zu sehen?
Oder haben die Leute
Angst vor der Besinnung,
und müssen sich deshalb
wortwörtlich wegknallen?
Wer soll da vertrieben werden?
Die bösen Geister
knallen doch selbst.
Zusammengeschart können sie auch jetzt nicht allein sein.
Und dieser Frust
über das Nichtalleinseinkönnen
muss weggeknallt werden.
Und in einem Jahr wiederholt sich alles.
Verkatert beginnt das neue Jahr.
Ein verkaterter Tag,
mit dem die Leute
nichts anfangen können.
So wie sie
das ganze Jahr über
mit sich
nichts anfangen können.
Da lobe ich mir den einsamen schwarzen Kater,
der heimlich, still und leise, auf sanften Pfoten
jahraus, jahrein, diese und jene weiße Maus fängt.
Und das mit Genuss und Sinn für den Augenblick.
JM
***
Was ist der Mensch?
Was ist der Mensch
denn anderes
als ein Sklave der Zeit,
der ab und zu
den Augenblick
erleben darf?
Was ist der Mensch
denn anderes
als ein Punkt im Raum,
der ab und zu
die Weite
spüren darf?
Was ist der Mensch
denn heute anderes
als ein Sklave des Konsums,
der ab und zu
sich sagt:
Brauche ich das alles?
Was ist der Mann
denn anderes
als ein Sklave seiner Männlichkeit,
der ab und zu
sich denkt,
wie es wohl ist eine Frau zu sein?
Was ist die Frau
denn anderes
als eine Sklavin ihrer Weiblichkeit,
die ab und zu
sich denkt,
wie es wohl ist ein Mann zu sein?
Was hält zwei Menschen
denn heute noch
zusammen außer Schwäche?
Was macht der Mensch
denn heute mehr
im Internet als sich zu zerstreuen?
Was ist
denn heute noch
seine Seele,
außer ein Spiegel vorgefertigter Bilder?
Was hat der Mensch
denn heute noch
für Werte?
Was der Mensch war
erscheint mir groß,
was er ist,
erscheint mir klein,
was er wird,
steht in den Sternen.
JM
***
Anders
Wie es wohl ist
anders zu sein?
Bist Du was Du bist
oder bist Du allein?
Sich anders zu verlieren,
wie mag es wohl sein?
Die Welt kann Dir gehören,
die Liebe kann anders sein.
Wenn die Anderen Dich verlassen,
lasse sie allein.
Sie können das Andere nicht fassen,
lasse sie gleicher sein.
JM
***
Andere Wege
Ich schrieb Dir
vor Jahrzehnten
ein paar Zeilen.
Wir haben uns
seitdem
nicht mehr geseh’n.
Du sagst mir
heute,
ich hätte Schuld.
Du hast Dein
Leben
radikal geändert.
All dies’ Glück
und alle die,
die Dich so lieben.
Bei mir
ist es
beim Schreiben geblieben.
JM
***
Geworfen
Geworfen aus der Ewigkeit
in diese Zeit.
Trotz vieler Menschen: Einsamkeit.
Eden – ist weit.
Der Teufel bellt
nach all dem Geld.
Ein Engel sei mein Held,
der Himmel sei mein Zelt.
Ich bin nicht mehr von dieser Welt.
JM
***
Am Morgen
Wenn meine nachttrunkene Seele
am frühen Nebeltaumorgen
durch das tropfenverhangene Netz
einer Spinne
aufgefangen wird,
kehrt sich mein Innerstes
nach außen
und ich möchte mich
Ersa
ganz hingeben.
Möge meine Seele
Ursache weiterer Netze sein
und zum Seelenfang beitragen.
Kann ein Wesen böse sein,
das dies geschaffen?
JM
***
Oben und Unten
Ich ging hinauf
und klopfte an,
er machte auf
und ließ mich ein,
ich ging hinein.
Er fragte mich,
was ich hier will,
ich sagte nichts.
– Hier ist nicht Dein Ort,
nun gehe fort.
Zu schlecht sei ich für diesen Ort.
Ich ging hinab
und klopfte an,
er machte auf
und ließ mich ein,
ich ging hinein.
– Was habt Ihr beiden wohl gemein?
Er fragte mich,
was ich hier will,
ich sagte nichts.
– Hier ist nicht Dein Ort,
nun gehe fort.
Zu schlecht sei ich selbst für diesen Ort.
Wo also hin?
Weder unter Lebenden noch Toten ich bin.
Wo ist da der Sinn?
Im Zwischenreich ewig auf- und niedersteigen?
– Mir bleibt nur mein Schweigen.
JM
***
Schwarzer Tanz
Wie gern wäre ich in jahrtausendelang unberührten Räumen,
doch Entdecker stören die heilige Ruhe,
sie seien entschuldigt:
Wer sieht denn die Schönheit im Dunkel?
Wer hört die Stille,
wenn niemand da ist?
Gaia lässt ihre Töchter nach oben sprießen,
Atlas seine Söhne nach unten,
nach Ewigkeiten der Sehnsucht treffen sich die Kinder in der Mitte zum Kuss.
Die Götter, sie wohnen in heiligen Hallen,
und schlafen den langen und wohlverdienten Schlaf
nach der Erschaffung der Welt.
Ich tauchte in den See,
kristallklar meine Seele,
in die Stille der Stille,
ertrank und erstickte,
doch trank ich und nickte,
erstarrte zum festen Kristall
und trotzte dem wandelnden All.
Jenseits der Zeit in ewiger Schönheit,
kein Feuer, kein Wasser, kein Element
kann mich zerstören,
möchte ewig nur die Göttermelodei hören,
laufe mit Gott um die Wette,
doch schaff ich es nicht,
ihm ins Angesicht zu schaun,
sehe Gutes, sehe Böses,
Du Unbekannter,
zu Dir will ich,
weg von Dir will ich,
Du Engel- und Satanerschaffer.
Kristallene Klänge klirrten klar,
gefallene Engel zogen an den Talar,
sie forderten auf zum Tanz,
die weißen Flügel umfassten sie ganz,
das Gute und Böse vergessen,
die Einen von den Andern besessen.
Sie feierten der Stunden elf das Fest,
ein weiterer Tanz der Minuten sechs,
dann kam über die Menschen die Pest
– dies schreckliche Gewächs.
Schauer liefen über meinen Rücken
als ich Engel mit Teufeln tanzen sah.
Hört, was ich euch zu sagen habe:
Wie viele der Minuten dauerte das Fest?
Es ist die Zahl des Tieres
und sie lautet sechshundertsechsundsechzig.
Die Fliegen versammelten sich in Baal,
Vampire stahlen den heiligen Gral,
in tiefschwarzer Nacht
regierte dunkle Macht,
Satan war bestellt,
regierte fortan die Welt.
JM
***
Erwachen
Noch nach der Todesstunde,
noch in der Todesnacht,
gab Satan mir die Kunde,
ich sei in der Hölle erwacht.
Fern sei ich vom Himmel,
nun komme ewige Nacht,
es warte tierisches Gewimmel,
ach wär’ ich doch im Himmel erwacht!
Das Gute würde siegen,
Gott auf meiner Seite
gleich Engeln würd’ ich fliegen,
um mich herum nur Wolkenweite.
JM
***
Im Wald
In einem dunklen Wald
war ich suchend in Zeiten des Alleinseins.
Doch schon sehr bald
habe ich sie gefunden und war mit ihr eins.
– Es war die wahre Einsamkeit.
Der Wind brachte die Ahnung mystischer Zauber,
plötzlich stand ein grünes Bett aus Moos bereit:
Ich war geschützt durch seine Geister.
In den Schlaf gewogen durch der Bäume Rauschen
entstand der Wunsch zu sterben.
Ewig wollte ich Deinen Geschichten lauschen.
– Und so ganz eins mit Dir werden.
JM
***
Weiß
All dieses Weiß.
Ich weiß nicht,
was am Ende
mich gestöret hat.
Ich lag im Krankenhaus Bethanien,
am Fenster blühten die Geranien.
Mein Leben war fast ausgeblüht,
mein Herz – das war bemüht.
All dieses Wissen
um das Dies und Das
und was den Körper
wohl gestöret hat.
Der Geist,
er weiß nicht:
Soll er nun sein
oder soll er nicht?
Die Seele,
sie weiß nicht:
Kommt denn nun etwas
oder kommt das Nichts?
Ob weiß,
ob schwarz,
ob vielmehr nichts?
Ich wünschte mir
– das richtige Weiß.
Und fragte mich:
Wer weiß wohl
um das richtige Weiß
und das richtige Wissen?
JM
***
Traum am Rhein
Ich träume schon seit tausend Tagen
tagaus tagein denselben Traum,
es kommt ein Tag, da werd’ ich’s wagen:
Verlasse den gewohnten Raum!
Es soll ein neuer Tag erwachen
aus dem täglich’ Einerlei,
dann pack’ ich meine sieben Sachen
und wandere zur Loreley.
Ich schau’ dann auf den Alltag runter
– wie die Lore auf den Rhein.
Wir feiern Hochzeit und sind munter.
In Strömen fließt der köstlich Wein.
Mit ihr, die einst aus Stein geboren,
hab’ ich durchtanzt die halbe Nacht.
Sie hat mich zum Gemahl erkoren
und Arm in Arm sind wir erwacht.
Doch als ich traurig sie verließ
erstarrte sie zu Stein.
Weiß sie heute noch, wie ich hieß?
Ich bin wieder allein.
JM
***
Der Wind
Ich liebe es,
zwei Fenster zu öffnen
und eine Tür zu schließen,
damit mir der Wind,
der durch die Türrahmen weht,
ein Lied singt,
von sich
und von vergangenen Zeiten.
Wenn irgendwann einmal meine Asche
auf freiem Felde liegt,
möge er sie in alle Himmelsrichtungen zerstreuen.
Ich liebe es,
nachts ein Fenster zu öffnen
und das Rauschen
der vorbeifahrenden Züge zu hören.
Sie erzählen mir
von früheren Tagen und Menschen,
von Tränen und Hoffnungen,
von endgültigen Abschieden an Bahnhöfen.
Manchmal weiß ich nicht,
wonach ich mich sehne.
Bin ich süchtig nach Sehnsucht?
Sie kann so stark sein,
dass ich mich
und andere
vergesse.
Wäre ich doch selbst der Wind,
dann könnte ich ewig heulen,
mich Ausweinen über alles,
was nicht war,
nicht ist,
und nie sein wird.
JM
***
Ungelebtes Leben
Im Schrank die Jacke aus Leder
– das ungelebte Leben.
Die Zahl der Räder
war immer nur Vier gewesen.
Aus Vier mach’ Zwei,
fürchte um Dein Leben
und Du bist dabei.
Am Straßenrand hat’s dann ein Kreuz gegeben.
JM
***
Sein oder Nichtsein
Unterwegs zu mir.
Bin ich bei mir angekommen?
Ich suchte mich ein Leben lang
und fand immer den andern.
Was Du nicht bist,
kannst Du
nicht mit dem andern sein.
Wo Du nicht bist,
kannst Du
nicht mit dem andern sein.
Was Du nicht hast,
kannst Du
nicht mit dem andern haben.
Du kannst nicht den andern haben,
so wie Du Dich auch nicht selbst haben kannst.
Du kannst nicht der andere sein,
Du kannst nur Du selbst sein.
JM
***
Sehnsucht des Sommers
Dem Schoss der Natur im Himmelblau,
gilt ihm mein Sehnen?
Oder dem Schoss einer Frau,
will ich in ihm vergehen?
Der Einheit, nicht dem Alleinsein,
gilt mein Sehnen im Sommer.
Ich will nicht das Nein,
ich will Nähe für immer.
Die Lust wird in wilden Kämpfen siegen
in heißen Sommernächten im Traum,
die Körper werden sich wiegen,
die Phantasie siegt im Seelenraum.
In so mancher Sommernacht
wird ein Stöhnen von der Klage zur Lust sich wenden,
es wird dann wirklich vollbracht.
O möge es im Götterhimmel enden.
JM
***
Willkommen
Willkommen in der Welt zerbrochener Träume,
überall nur leere Räume.
Willkommen in der Welt verlorener Zeiten,
das Leben dauert nicht Ewigkeiten.
Willkommen in der Welt vergessener Menschen,
es gibt nichts mehr zu wünschen.
Willkommen in der Welt einsamer Dichter,
am Horizont flackern die Lichter.
JM
***
Haben und Sein
Was brauch’ ich Ruhm?
– Ich Kind des Glücks!
Wozu Reichtum?
– Geld hinterrücks?
Reich sind meine Träume!
– Wozu noch Ehrenräume?
All das Haben doch nur quält!
– Es ist das Sein, das zählt!
JM
***
Fernstenliebe
So fern,
doch so nah,
sehen nicht unsere Gesichter,
hören nicht unsere Stimmen,
ahnen uns als Menschen,
trotz Schweigen
kann Schreiben
verbinden.
JM
***
Das Mahnmal
Es war einmal
ein steinernes Mal,
ein Mahnmal,
das mahnte,
wie alle Mahnmale.
Doch mal,
da mahnte es auch nicht.
Da war ein Müller ganz erpicht:
Ein Mahnmal,
das mal mahnt
und mal auch nicht?
Mahnmale haben stets zu mahnen!
Wenn meine Mahlsteine
mal mahlen würden
und mal nicht!
Bei mir, da gibt’s sowas nicht!
Das Mahnmal
wird zu meinem Mahlstein!
Dies ist meine Pflicht!
Denn schlechte Mahnmale,
die mag ich nicht!
Da war ein Maler ganz erpicht:
Müller, lass’ mich das Mahnmal
bitte vorher nochmal malen,
ich würd’ so gern noch einmal
ein Gemälde von dem Mahnmal malen,
das mal mahnte
und mal nicht
und bald zum Mahlstein wird,
der immer mahlt
und nicht mal
und mal nicht.
Beim Malen war der Maler ganz erpicht:
Ich male immer einmalig gute Gemälde,
ich male nicht mal gut
und mal nicht!
Da war das Mahnmal ganz erpicht:
Das Gemälde wird wohl mal ein Mahnmal,
so wie ich,
das mal mahnt
und mal auch nicht.
JM
***
Von Dichtern und Dingen
Ein Dichter suchte
tiefe Dinge.
Er suchte, fand
und schwieg sie schließlich an.
Dunkle Lichter
strahlen ihn nun an.
Sie suchten, fanden
und schweigen ihn nun an.
Nur Ihr
macht mich zum wahren Dichter,
nur durch Euch
bin ich erwacht.
Nur Du
machst uns zu wahren Dingen,
nur Du
vollendest uns zu ganzer Pracht.
Der Dichter versenkte
sich ganz still,
in Wassern der Unsterblichkeit
– Die Dinge nicht mehr weit.
Wenn alle schließlich
ganz vereint,
ist Vater Tod
nicht mehr so weit.
JM
***
Falsche Clowns
Das Staunen ging verloren,
nur noch Machen, Machen, Machen.
Falsche Clowns waren erkoren,
nur noch Lachen, Lachen, Lachen.
Das Schauen ging verloren,
der Sternenhimmel unsichtbar
wenn wahre Sterne sind geboren.
Dumm lacht sich’s doch wunderbar.
JM
***
Meinungen
Man kann
der Meinung sein,
keine Meinung haben
zu müssen.
Doch glaube ich es nur,
denn zumindest
eine Meinung habe
ich ja,
nämlich diese.
Über Meinungen
kann man
geteilter Meinung sein.
Ich teile diese Meinung:
Mein Ung,
die habe ich,
doch bin ich
sie nicht.
Ich bin
auch kein Gnu,
doch habe ich
eins.
Doch lief es mir fort,
wie es Meinungen
zuweilen auch tun.
Und dies ist
keine Meinung,
auch nicht
Mein Ung,
sondern eine Tatsache.
Doch dies tut
nichts zur Sache,
denn Tatsachen
tun Sachen,
die Meinungen
nicht machen.
JM
***
Das Leben ist kein langer ruhiger Fluss
Ein junger Mann, der fand die Lösung:
Er stellt sich auf die Bücher der Erlösung.
Sie waren von ihm selbst geschrieben,
vom Leben ist ihm nichts geblieben.
Er macht einen Schritt daneben
– und ist nicht mehr im Leben.
Sein Körper hing,
die Seele ging.
Doch nirgends hin,
das Nichts war ihr im Sinn.
Er macht es seinem Gotte gleich,
das Nichts, das macht ihn reich.
Die Welt ist Gottes Sterben,
das Leben ist Verderben.
Der Tod, der ist Erlösung.
Der Tod: Er ist die Lösung.
JM
Philipp Mainländer zum Gedächtnis
***
Das Erwachen
Nach tiefem Traum
bin ich erwacht,
in einem Raum
voll dunkler Macht.
Weich bin ich gebettet,
doch ist der Odem schwer.
Bin ich nach langem Alb endlich gerettet?
O nein, dies ist keine Mär!
Da ist ein Knistern und ein Knastern,
ich taste mich nach oben fort,
ahne violette Astern,
will nur fort von diesem Ort.
Da ist ein Krabbeln und ein Kriechen,
ich schreie immerzu!
Wünsche endlich rasch zu siechen,
wünsche endlich die verdiente Ruh’!
Wo ist die Hölle,
wenn nicht hier?
Wer erhebt die Himmelszölle,
wenn nicht das schwarze Tier?
Böses noch einmal gesendet,
endlich kommt verdienter Schlaf,
als der Odem endlich endet.
Schlaf’ nun, schlaf’, mein weißes Schaf.
JM
***
Alter
Ach könnt’ ich doch
Dein Alter richtig schätzen!
– Ich werd’ es noch:
Ich werd’ mich gegenübersetzen!
Ach könnt’ ich doch
das Alter richtig schätzen!
– Ich werd’ es noch:
Denn Jugend wird sich setzen!
Der Tod:
Er wird mich nicht verletzen!
Den Körper:
Nur ihn wird er zersetzen!
JM
***
Vergessen
Steinerne Meere
ruhen im Frieden
süßer Düfte
in Gärten der Verirrungen;
im Schlaf des tausendfachen Schlafs
ruht jeder einsam hier.
Doch wenn des Nachts
gleich geruf’nen Engeln
sich schwarze Vögel finden,
heimlich gebeten,
Einsamkeit zu überwinden.
Und wenn zum Fluge
sie sich finden,
um Irdisches,
stets ohne Flügel,
fortzuspinnen.
Wenn zum Gesange
sie sich finden,
um ungelebtes Leben
zu erfinden.
Führt des Todes Selbstvergessen
zu neuem Leben;
das Spiel ist erst zu Ende,
wenn die Dämm’rung bringt die Wende.
JM
***
Ten Stars
This is a poem dedicated
to ten stars:
Ten stars were born,
ten stars lived their life,
ten stars died.
To
to
to
ten
ten
ten
star
star
star
re
re
re.
JM
***
Selten
Als im kalten Nordland
donnernd heiße Erde
aus Gaias Tiefen
in die Höhen flog,
wuchs kein Phönix
aus der Asche
– Staub blieb Staub.
Und als Europens Donnervögel
nicht mehr flogen,
dachte ich
an längst vergang’ne Zeiten.
Ich schaute
zum azurnen Himmel
– sah nur Weiten.
Keine Wolken,
keine Streifen.
Eine Stille,
eine selt’ne Ruh’.
Der Mensch
hört’ sich
– mal wieder zu.
Und als der Südwind
im Norden
endlich Frieden schuf,
wandelt Asche
sich zu Stein,
war der Staub
wieder verflogen:
Weiße Streifen
sich zu Wolken blähen,
hört dies Schreien
tausender von Krähen.
Hört gewohnte Ätherklänge,
Gegenwart – sie wird gewahr.
Spürt die altbekannte Enge,
Sterne wieder unsichtbar.
JM
***
Tod in Wien
Du suchtest die Musik
in jungen Jahren.
Und fandest nicht die Liebe
– über das Weib sprachst Du Dein Urteil.
Du suchtest die Musik
in jenen Jahren.
Und fandest nur
Dein ewig Weibliches.
Du suchtest die Musik
in jenem Jahr.
Was blieb Dir noch
als einer ihrer großen Männer?
Du suchtest die Musik
an jenem Tag.
Doch Sterben in des großen Mannes Sterbehaus
macht Dich nicht groß.
Du suchtest die Musik
in jener Nacht.
Was Du im Schlaf geträumt
bleibt Dein Geheimnis.
Du suchtest die Musik
an jenem Tag.
Und brachst Dir selbst das Herz.
Es war schon längst gebrochen
und die, die Dich gut kannten,
empfanden nur noch Schmerz.
Du hast sie nicht gefunden.
Der Schlaf, er sei nun stark.
Das Böse Du gewollt,
das Gute dennoch kommt.
Vielleicht wirst Du sie hören,
vielleicht, vielleicht auch nicht.
Die Liebe ist unsterblich,
vergiss die Liebe nie.
JM
Otto Weininger zum Gedächtnis
* * *
Dem Feuer geweiht
Ich steh‘ nun schon seit Stunden
an diesem düst’ren Ort.
Die Wächter drehen ihre Runden
und Gott ist von mir fort.
Da zünden sie das Feuer an,
es quillt ganz langsam auf.
Zum Tode ich bestimmt, doch wann?
– Ihn nehm‘ ich gern inkauf.
Auf Schreie sie erpicht,
hier sei mein Stolz,
ich schreie nicht
trotz Flammenholz.
Kind der Hölle,
schrien die Hassgesichter,
erfüllt von böser Völle.
– Nur irdisch, ihre Höllenlichter.
JM
* * *
Herrin der Träume
Ein Ich im Land von vielen Träumen,
wollt‘ lenkend sich verlier’n in Purpurräumen.
Per se geht dies nicht,
die Auflösung hat Gewicht,
das Lenken wird stets es versäumen.
JM
* * *
Man lernt dazu
Haiku nicht erkannt
nun nicht mehr so unbekannt
hab es glatt verkannt
JM
* * *
Schwarzer Tunnel
Es wiegen sich
die Massen
nicht in Sicherheit.
Die Welle
schwingt
im bösen Rhythmus.
Es begann
mit Möglichem
im Chaos.
Es war
ein Kommen
und ein Gehen.
Es sei:
Nur fort
von diesem düst’ren Ort.
Es werde
gesucht
die Treppe nach oben.
Sie ist
Versuchung
des Jenseits.
Sie führt
aus dem Diesseits,
der Hölle,
in weiteres Verderben,
keiner will hier unten
sterben.
Das Licht
am Ende
des schwarzen Tunnels,
es wird heller,
schneller,
immer schneller,
kein Zurück.
Es kam der Tag,
an dem sie
über Leichen
gingen.
Und weiter spielt
das Todeslied
noch lang dazu.
Es spürt
der Mensch
in sich
das Tier.
Wo ist die Hölle,
wenn nicht hier?
JM
* * *
Der ewige Flug
Stark
war ich,
der Wille,
er war groß.
Doch die Einsicht
kam zu spät,
als es soweit war,
da wollte ich’s
nicht mehr.
Doch erst,
nachdem ich es getan.
Zu spät,
es war
schon längst gescheh’n.
Es gibt Gedanken,
die folgen nur auf Taten.
Gründe hatte ich genug,
auf einem Grund
liegt bald
mein immer Schon.
Toter Körper.
Es war ein Flug,
den ich immer gewünscht,
Sekunde,
nur ein Wort,
Ewigkeit,
überall,
das Leben,
endlich,
passt
in einen Augenblick,
die Augen,
riss ich auf.
Das Leben
war kein Höhenflug,
doch fliege ich
nun doch,
der lang ersehnte Flug.
Da ist Abschied,
doch tot,
das bin ich
nicht.
Was danach kommt,
was kümmert’s mich?
Das Danach,
das gibt es nicht.
Das Hier und Jetzt
ist das,
was zählt.
Ich tat es
um des Fluges Willen
und um der Ewigkeit,
unsterblich
bin ich
sicherlich.
Was danach kommt?
– Fragen?
Sich
nur
Schwache.
JM
* * *
Nonsens des Konsens
Vergewaltigte Tränen
gefallener Menschen
ergießen sich über
gefallene Bäume.
Der Eile geopfert,
den Zeiten entwachsen
im Lande
Le.
So soll
es sein,
das Haben-Sein.
Es soll?
Es muss,
denn schnell soll sein,
was schnell
sein muss.
Wie langsam
doch die Bäume wuchsen
auf Gründen
grüner Hügel.
Ein Hoch
den weißen Bahnen,
im schwarzen Dunkel
tief.
Und langsam fließen
blut’ge Tränen.
Und schnell
sind rote Linien.
JM
* * *
Das Ende des Wortes
Am Ende der Zeiten
war das Wort am Ende.
Entweder gab es Zerstörung,
dass es nicht mehr sein konnte,
oder absolute Harmonie,
dass es seiner nicht mehr bedurfte.
Die Menschen schauten sich an
– und verstanden sich schon.
Und man gedachte
in wortlosem Denken
der Zeiten des Wortes.
Auch die Dichter,
jene,
die meinten,
es bedürfe ihrer noch,
um Harmonie zu vollenden.
Verführt waren sie
durch die Worte
„Am Anfang war das Wort“.
Dies war in Wahrheit ihre Sünde,
die ihnen nie bewusst war.
Und sie klebten jahrtausendelang
ihre klebrigen Zettel
auf die Dinge.
Und merkten gar nicht,
wie sie sie vergewaltigten,
wie sie die Welt vergewaltigten
und sich über sie erhoben.
Und da fiel ihnen endlich wieder ein,
dass die Tiere nicht redeten.
Und sie fanden die wahre Weisheit.
Und fortan schlachteten sie keine Tiere mehr.
Und als die Welt endlich wortlos war
. . .
JM
* * *
Vom Wert des Redens und Schweigens
Seit Jahrtausenden
ruft der Berg
in seine Tiefen.
Und glücklich sind,
die ihm entkommen.
Und überall
der Rede Wert.
Die Zeichen schwarz
auf weiß,
der Bilder viel,
der Jubel groß.
Doch die,
zu Tausenden
im Berg geblieben,
sind nirgendwo
der Rede Wert.
Die Zeichen schwarz
auf schwarz,
der Bilder wenig,
die Trauer groß.
Und die,
die reden,
können schweigen.
Doch falsches Schweigen
ist nichts Wert.
JM
* * *
Der letzte Gang
Die Türe schwer
und leider oft verschlossen,
nach heil’ger Messe
alle Bänke leer.
So trete ein
am späten Morgen,
in Weihrauchduft
eröffnet ist die alte Welt.
Auf,
zum Gang im Kreuz,
im Kirchenkreuze
unter festem Himmelszelt.
Zu seh’n die Martern,
die dereinst erlitten
von unser
aller Held.
Gemein war einst der Pöbel,
des Römers spitze List.
Gekreist bin ich
um leere Bänke.
Gekreuzigt er
auch hier und jetzt.
Auf dem Altar
der Einsamkeit
zu opfern
hastig Stadt.
Gen Mittag hungrig,
das Brot,
es ist verschlossen,
das Mahl der Massen war gereicht.
Der Wein,
er war schon längst vergossen.
Da saß ich so
den ganzen Tag,
in kühlen Schatten
nach dem Sonnengang.
Es dämmert so geschwinde,
der Schatten immer länger,
bis Dunkelheit regiert
das dunkle Schiff.
Da spür’ ich
den Versucher,
er nähert sich,
zu suchen.
Zwiegespräch
des Einsamen.
Ich träum‘ auf Kirchenbänken
vom alten
Je,
gekreuzigt in
Je
rusalem.
Um Mitternacht
ich auferstanden
und zum Altar
schnell aufgesprungen.
Das Seil,
zu hängen über’s Kreuze,
ein Schritt nach vorn,
es war um mich gescheh’n
– nun werd‘ ich Jesu wiederseh’n.
Hinter Kirchenmauern
wollt‘ ich rasten.
Es war die letzte Rast
und enden sollt‘ sie nie.
Nun ziehe ich des Nachts
durch dunkle Kirchengrüfte,
doch flieg ich auch
im Gothenbau
jenseits schmaler hoher Säulen
zu farbenfrohen Fensterhimmeln.
Der Erde und dem Himmel nahe,
dem Himmel und der Erde.
Doch such‘ ich welches Ziel?
Und ewig suchend,
nie gewiss,
ich
Engel welchen Lichts?
JM
* * *
Lied eines sterbenden Philosophen mit gesenktem Haupt
Gelöscht ist das Neuronenfeuer,
das Ich – ich lach‘ mich tot,
Substanzen sind mir nicht geheuer,
das Wasser tat ihm Not.
Es endet das Neuronenfeuer,
der Geist – schwebt über Wassern,
Substanzen sind mir nicht geheuer,
das Schweben wird er lassen.
Da endet das Neuronenfeuer,
die Seele – Gott im Himmel,
Substanzen sind mir nicht geheuer
– Philosophenkopfgewimmel.
Und der Philosoph lachte,
wie er noch nie gelacht hat.
JM
* * *
Die Frage nach dem Sinn des Lebens
All Ihr Frager,
nach den Sinnen
– soviel gehört
und auch geseh’n.
Ach würdet Ihr Euch doch
auf’s Handeln versteh’n!
– Legt Hand an Euch
oder lasst es sein,
diese Frage ist echt
– mit Ihr seid Ihr allein!
Die Frage nach dem Sinn des Lebens
ist insofern recht vergebens.
Keine Frage, nur der Wunsch:
Erhöret mich und spendet Trost,
eigentlich will ich nur weiter leben,
doch fehlt mir was
– danach zu streben.
JM
* * *
Gemach
Gemach, gemach
im Schlafgemach.
Am besten fängt’s gemächlich an,
sich dennoch steigernd dann und wann.
Da ist ein Fühlen, Tasten, Küssen
– vom Kopf bis zu den Füssen.
Da ist ein Wallen hier und dort
– auch Feuchtigkeit an manchem Ort.
Es spannt sich stärker da und dort,
die Kleider sollen endlich fort.
Und sind sie endlich weg,
dann wird’s so richtig keck.
Wie geht’s wohl weiter?
– Es wird so richtig heiter.
Wer macht den nächsten Schritt?
– Nicht enden soll der lange Ritt!
Sie wollen’s wirklich beide,
keiner den Anderen beneide.
Wer gibt den Rhythmus,
wer den nächsten Kuss?
Wie lässt sich nur die Eile halten,
sich nur die Lust verwalten,
wenn gut Ding Weile haben will?
– Jetzt halt‘ doch endlich still!
Da ist Umarmen, Stöhnen,
gegenseitiges Verwöhnen,
bis zum letzten Wallen
– dann nur noch Fallen.
…
Es geht nicht länger,
muss passieren,
vereint zu nie gekannten Höhen.
Doch wer hoch fliegt,
der muss tief fallen,
vergisst sich selber noch dabei.
Da ist die lange Explosion,
gewollte Implosion,
ein innig Geben-Nehmen,
die Lösung aller Rätsel,
kein Platz zum Denken mehr.
Da ist das Nichts,
die Leere,
Erschöpfung,
vielleicht Schlaf.
Kommt doch das Denken
– Was war das?
JM
* * *
Einst
Einst
warst Du voller Sehnsucht,
nach dem Wahren.
Und es kamen die Träume.
Irgendwann
verschwand die Sehnsucht.
Irgendwann
verschwanden auch die Träume.
Und Du fandest die Wahrheit,
und entdecktest,
dass sie nicht das Wahre ist.
JM
* * *
Die Blinden
Die Blinden,
sie sehen
Dein Inneres
nicht.
Der Kreis,
der nie war,
er zerbricht.
Dein Auge,
es weint,
Du bist
blind.
JM
* * *
Am Morgen
Ich wache morgens auf
und wünsche mir, der Tag wär‘ schon vorbei.
Ich wache morgens auf
und hasse die Sonne.
Ich wache morgens auf
und sehne mich nach der Nacht zurück.
Ich wache morgens auf
und fühle mich vom Tag vergewaltigt.
Ich wache morgens auf
und frage mich, warum die Nacht so kurz ist, obwohl sie so lang sein könnte wie der Tag. Das liegt wohl daran, dass wir schlafen, mit flüchtigen Träumen, oder traumlos. Während uns die Bürokratie des Tages, des Alltags, endlos erscheint.
Ich wache morgens auf
und wünsche mir, noch länger liegen bleiben zu können.
Ich wache morgens auf
und langweile mich zu Tode, wenn ich an Menschen denke, mit denen ich heute zu tun haben werde, zu tun haben muss.
Ich wache morgens auf
und frage mich, warum der Tag nicht so tief zu mir ist wie die Nacht.
Ich wache morgens auf
und fühle mich nicht wie neugeboren.
Ich wache morgens auf
und mein Körper tut seine Pflicht.
Ich wache morgens auf
und frage mich, wann ich morgens nicht mehr aufwache.
Ich wache morgens auf
und frage mich, wann ich endlich vom Aufwachen, von den vielen Morgenden und Tagen befreit bin und endlich die ewige Nacht kommt.
Ich wache morgens auf
und frage mich, warum das Erwachen nicht grundsätzlich in der Nacht passieren kann. Dann ist es am aufregendsten, während es am Morgen am gewöhnlichsten ist.
Ich wache morgens auf
und frage mich, warum die Nacht nicht der Alltag ist.
Ich wache morgens auf
und frage mich, warum man die Nacht nicht angemessener würdigt.
Ich wache morgens auf
und fühle mich schon vom Kaffee abhängig.
Ich wache morgens auf
und keiner interessiert sich für meine Nachtgedanken.
Ich wache morgens auf
und gähne den Tag an.
Ich wache morgens auf
und fühle mich, als müsste ich meine Frau – die Nacht – verlassen.
Ich wache morgens auf
und ertrinke in Alltäglichkeit, obwohl ich noch nach der Nacht dürste.
JM
* * *
Take it easy
Armer Tor denk‘ nicht an morgen
und mach‘ Dir keine Sorgen.
Dort ist ein Tor,
Tag für Tag stehst Du davor.
Nach des Lebens langem oder kurzem Lauf
geht es eines Tages auf.
Es wird der Tag des Todes sein
und er gehört Dir ganz allein.
JM
Platen
9. Juli 2012August von Platen
* Ansbach 24.10.1796
† Syrakus 5.12.1835
Aphorismen, Essays, Kurzgeschichten, Vermischte Meinungen und Sprüche
2. Juli 2012Sprache als Wesensmerkmal des Menschen
Stiefkinder der deutschen Sprache
Der endgültige körperliche Tod
Die Krankheiten der Philosophen
Die Frage nach dem Sinn des Lebens
Anthropisches Prinzip und Information
Rationalität und Emotionalität
Die Zeit sieht sich nicht selbst
Körper und Kopf oder Körper und Geist?
Dick und Doof oder wie es in manchen Internetforen zugeht
Vermischte Meinungen und Sprüche
Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen.
* * *
Philosophieren heißt Sterben lernen.
* * *
Der Tod geht uns nichts an; denn solange wir existieren, ist der Tod nicht da, und wenn der Tod da ist, existieren wir nicht mehr.
* * *
Das Leben der Philosophen ist im Kern ein Nachdenken über den Tod.
* * *
Simplicity is the highest form of sophistication.
* * *
Der freie Mensch denkt an nichts weniger als an den Tod; und seine Weisheit ist ein Nachsinnen über das Leben.
* * *
Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.
* * *
Grau, teurer Freund, ist alle Theorie,
Und grün des Lebens goldner Baum.
* * *
Es ist der nackte, schneidende Verstand, der die Natur, die immer unfaßlich und in allen ihren Punkten ehrwürdig und unergründlich ist, schamlos ausgemessen haben will und mit einer Frechheit, die ich nicht begreife, seine Formeln, die oft nur leere Worte und immer nur enge Begriffe sind, zu ihrem Maßstabe macht.
* * *
Der Tod ist das Prinzip des Lebens …
Das Leben ist um des Todes willen.
* * *
Die große Gelegenheit, nicht mehr Ich zu sein.
Schopenhauer über den Tod
* * *
Wir sind so gerne in der freien Natur, weil diese keine Meinung über uns hat.
* * *
Glaubt ihr denn, dass die Wissenschaften entstanden und gross geworden wären, wenn ihnen nicht die Zauberer, Alchemisten, Astrologen und Hexen vorangelaufen wären als Die, welche mit ihren Verheissungen und Vorspiegelungen erst Durst, Hunger und Wohlgeschmack an verborgenen und verbotenen Mächten schaffen mussten? Ja, dass unendlich mehr hat verheissen werden müssen, als je erfüllt werden kann, damit überhaupt Etwas im Reiche der Erkenntnis sich erfülle?
* * *
Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: “Ich suche Gott! Ich suche Gott!” — Da dort gerade Viele von Denen zusammen standen, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein grosses Gelächter. Ist er denn verloren gegangen? sagte der Eine. Hat er sich verlaufen wie ein Kind? sagte der Andere. Oder hält er sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns? Ist er zu Schiff gegangen? ausgewandert? — so schrieen und lachten sie durcheinander. Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. “Wohin ist Gott? rief er, ich will es euch sagen! Wir haben ihn getödtet, ihr und ich! Wir Alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir diess gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden? Hören wir noch Nichts von dem Lärm der Todtengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch Nichts von der göttlichen Verwesung? — auch Götter verwesen! Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besass, es ist unter unseren Messern verblutet, — wer wischt diess Blut von uns ab? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnfeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Grösse dieser That zu gross für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine grössere That, — und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser That willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!” — Hier schwieg der tolle Mensch und sah wieder seine Zuhörer an: auch sie schwiegen und blickten befremdet auf ihn. Endlich warf er seine Laterne auf den Boden, dass sie in Stücke sprang und erlosch. “Ich komme zu früh, sagte er dann, ich bin noch nicht an der Zeit. Diess ungeheure Ereigniss ist noch unterwegs und wandert, — es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen. Blitz und Donner brauchen Zeit, das Licht der Gestirne braucht Zeit, Thaten brauchen Zeit, auch nachdem sie gethan sind, um gesehen und gehört zu werden. Diese That ist ihnen immer noch ferner, als die fernsten Gestirne, — und doch haben sie dieselbe gethan!” — Man erzählt noch, dass der tolle Mensch des selbigen Tages in verschiedene Kirchen eingedrungen sei und darin sein Requiem aeternam deo angestimmt habe. Hinausgeführt und zur Rede gesetzt, habe er immer nur diess entgegnet: “Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?”
* * *
Solange du noch die Sterne fühlst als ein “Über-dir”, fehlt dir noch der Blick des Erkennenden.
* * *
Ich mißtraue allen Systematikern und gehe ihnen aus dem Weg. Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit.
* * *
Subtile is the Lord
* * *
Führt zwar der Weg der Naturerkenntnis zunächst zur Entzauberung der Welt, so wird an dieser Grenze des jeweils erreichten Wissens der Anstoß des Anderen und Fremden fühlbar als Wiederherstellung des Unerkannten in immer anderer Gestalt und Unmittelbarkeit.
* * *
Wir haben von unseren Vorfahren das heftige Streben nach einem ganzheitlichen, alles umfassenden Wissen geerbt. Bereits der Name der höchsten Lehranstalten erinnert uns daran, dass seit dem Altertum und durch viele Jahrhunderte nur die universale Betrachtungsweise voll anerkannt wurde. Aber das Wachstum in die Weite und Tiefe, das die mannigfaltigen Wissenszweige seit etwa einem Jahrhundert zeigen, stellt uns vor ein seltsames Dilemma. Es wird uns klar, dass wir erst jetzt beginnen, verlässliches Material zu sammeln, um unser gesamtes Wissensgut zu einer Ganzheit zu verbinden. Andererseits aber ist es einem einzelnen Verstande beinahe unmöglich geworden, mehr als nur einen kleinen spezialisierten Teil zu beherrschen.
Wenn wir unser wahres Ziel nicht für immer aufgeben wollen, dann dürfte es nur den einen Ausweg aus dem Dilemma geben: Dass einige von uns sich an die Zusammenschau von Tatsachen wagen, auch wenn ihr Wissen teilweise aus zweiter Hand stammt und unvollständig ist – und sie Gefahr laufen, sich lächerlich zu machen.
* * *
“Was ist die Wahrheit?” ist eine grundlegende Frage. Aber was ist sie neben “Wie kann man das Leben ertragen?” Und sogar diese verblasst im Vergleich zu jener anderen: “Wie kann man sich ertragen?” – Das ist die entscheidende Frage, auf die uns eine Antwort zu geben niemand imstande ist.
* * *
Unser eigentliches Vermögen: die Stunden, in denen wir nichts getrieben haben. Sie sind es, die uns formen, uns individualisieren, uns unterscheiden.
* * *
Der Selbstmord ist das einzige Thema, um das es in der Philosophie geht.
* * *
Wenn Du nie die Berge gesehen hast, hast Du nie gelebt.
Sie sind die Vertreter Gottes auf Erden.
* * *
Jede hinreichend fortschrittliche Technologie ist von Magie nicht zu unterscheiden.
* * *
Ich habe Dinge gesehen, die ihr Menschen niemals glauben würdet. Gigantische Schiffe, die brannten, draußen vor der Schulter des Orion. Und ich habe C-Beams gesehen, glitzernd im Dunkeln, nahe dem Tannhäuser Tor. All diese Momente werden verloren sein in der Zeit, so wie Tränen im Regen.
Zeit zu sterben.
Roy Batty
* * *
Humor
Zum Humor gehört das lockere Eingeständnis von Unwissenheit. Wenn es einen selbst betrifft, wenn man also von anderen aufgezeigt bekommt, dass man sich in einer Situation mangels Hintergrundwissen komisch verhalten hat. Das Verhalten passt dann oft nicht zu dem Verhalten, das man in der Situation eigentlich erwartet hätte. Man hat Humor, wenn man eingesteht, dass man sich tatsächlich komisch verhalten hat. Und hinterher darüber lachen, zumindest darüber schmunzeln kann.
Wenn es andere betrifft, so gehört zum Humor Verständnis für die Unwissenheit der anderen. Wenn wir bei anderen solche Situationen entdecken und darüber lachen, so zeigen wir Humor: Wir verzeihen dem Anderen sein Fehlverhalten, wir entdecken etwas Neues, eine neue Konstellation von Situation und Verhalten. Allerdings muss sich dieses Fehlverhalten in gewissen Grenzen bewegen. Man muss noch darüber lachen können. Wenn Dritte durch dieses Fehlverhalten Schaden leiden, so ist dies nicht unbedingt humorvoll.
Aber selbst hier gibt es eine Extremform des Humors: die Schadenfreude. Die Schadenfreudigen lachen in der Regel nicht, aber sie freuen sich über den Schaden eines Anderen, zum Beispiel eines Konkurrenten oder Nebenbuhlers.
Mit der Religion ist es nun so beschaffen, dass die Regeln und Grenzen des Verhaltens stärker festgelegt sind. Der Humor und das Lachen stellen dagegen die Regeln und Grenzen infrage. Die Religion lebt von Regeln und Dogmen, von Geboten und Verboten. So lässt sich mit Menschen, die einer etablierten Religion anhängen, zwar in Alltagssituationen in der Regel lachen, aber der religiös erzogene Mensch hat gewöhnlich die Grenzen seiner Religion immer im Hinterkopf. Er muss in einer Situation beurteilen, ob er aus Sicht seines Glaubens überhaupt lachen darf, steht also gewissermaßen unter dem Zwang eines Filters. So ist es auch kein Wunder, wenn in Religionsgemeinschaften selbst der Humor und das Lachen durch Rituale kanalisiert werden. Dort gibt es dann Feste der Fröhlichkeit, bei denen die Gläubigen diesen Filter eine Zeitlang ablegen können und nicht Angst davor haben müssen, Grenzen zu überschreiten, die ja ansonsten allseits bekannt sind. Schwerlich wird man unter ihnen Anhänger des sogenannten schwarzen Humors finden, welche sich dadurch auszeichnen, dass sie Spaß daran haben, Grenzen des Humors auszuloten und zuweilen zu überschreiten.
Was ist denn der Faust anderes als Erkenntnisgewinn aus dem Dialog weißer und schwarzer Mächte? Der Faust ist ein Dialog zwischen einem Wissenschaftler und dem Grenzüberschreiter Mephisto, nicht zwischen einem Gläubigen und dem Teufel. Es gibt eine enge Verbindung von Humor und Wissen beziehungsweise Unwissenheit. Oft zeigt sich auch bei näherer Betrachtung, dass die Situation gar nicht so humorvoll ist, sondern dass sich derjenige, über den man gelacht hat, in gewisser Hinsicht, nämlich aus seiner nur ihm zur Verfügung stehenden Perspektive und gemäß seines Wissensstandes, durchaus angemessen verhalten hat.
Da aber so der Humor und das Lachen auch wichtige Quellen der Weisheit sind, nimmt es nicht wunder, dass es um das Wissen und die Weisheit der Anhänger etablierter Religionen nicht immer gut bestellt ist. Denn es kommt ja nicht zu einer dynamischen Erweiterung von Regeln und Dogmen, deren inhärente Eigenschaft Starrheit ist. Aber daraus ergibt sich auch der alte traditionelle Gegensatz von Wissenschaft und Religion.
Wer har nun mehr Humor? Der Glaubende oder der Wissende? Der Glaubende hat offensichtlich größere Grenzen. Der Wissende kann sein Wissen durch Humor erweitern. Er fordert den Dialog heraus. Er hat nichts zu verlieren, er kann nur gewinnen, nämlich an Wissen. Der Glaubende kann seinen Glauben verlieren. Wodurch? – Durch Wissen. Wenn er sich allerdings durch den Wissenden nicht überzeugen lässt oder nicht überzeugen lassen will, hat er in der Tat verloren. Er hat dann zwar weiter seinen Glauben, aber er bleibt allein. Nicht ganz allein, er bleibt natürlich mit Gleichgläubigen vereint. Allerdings ohne wahren Dialog, nur in stetiger Bestätigung des schon bekannten Glaubens.
JM
* * *
Glauben und Wissen
Die Frage, ob man atheistisch an Gott glauben könne, lässt sich insofern mit ja beantworten, wenn “atheistisch” nicht im absoluten Sinne verstanden wird, sondern so, dass mit diesem Begriff gerade nicht der Gott der traditionellen Weltreligionen gemeint ist. Diese lassen sich zwar auch heute noch nach wie vor zum Ausgangspunkt der Orientierung in der Gottesfrage machen, dies muss aber nicht die einzige Möglichkeit sein, zumal der moderne Mensch unter dem Einfluss der Erkenntnisse der Philosophie und der Naturwissenschaften steht.
Aber immer noch gibt es natürlich auch nach wie vor für einen Wissenschaftler – gerade bei Naturwissenschaftlern ist dies auch häufig der Fall, wenn nicht gar die Regel – die Möglichkeit strenger Atheist zu sein, womit dann der Atheist im absoluten Sinne gemeint ist. Hier stehen eigentlich diejenigen in der Beweispflicht, die den Atheisten vom Gegenteil überzeugen wollen. Nicht der Atheist steht in der Beweispflicht, die Nichtexistenz Gottes zu demonstrieren, sondern derjenige, der die positive Existenz von etwas behauptet. Der Atheist muss insofern ja noch nicht einmal die Nichtexistenz Gottes behaupten, ebenso wie er nicht die Nichtexistenz eines fliegenden Spaghettimonsters und noch vieler anderer, unendlich vieler, nichtexistenter Dinge behaupten muss.
Aber selbst ein nüchterner Naturwissenschaftler kann durch persönliche Erlebnisse, die ihn an Gott denken oder ihn vielleicht sogar Gott fühlen lassen, Orientierung in der Gottesfrage finden. Die Erkenntnisse der Philosophie und der Naturwissenschaften regen jedoch selbst auch zum Staunen an und das Interessante ist ja gerade, dass sich bei ihnen die Gottesfrage, wenn sie sich denn stellt, auch auf immer neue Weise stellt. Sollte dies nicht der Weg eines modernen religiösen Menschen sein, wenn er nicht auf einem Auge blind sein will?
Für den religiös geprägten vormodernen Mensch war die Vorstellung eines Jenseits eine Trostspenderin. Es ist jedoch immer leicht, auf ein Jenseits zu verweisen, der Sieg ist immer auf Deiner Seite, das Wahrhafte sei ja nicht irdisch, sondern jenseitig, unbeweisbar, nur zu glauben. Aber es existiert.
Was lässt sich nicht alles gegen das Leben und den Körper mit einer solchen Haltung rechtfertigen? Die vielen Götter der Griechen waren ein Zeichen ihrer Achtung vor der Vielfalt der Natur. Es ging ihnen nicht um die Schöpfung allein oder um einen alleinigen Schöpfer, sondern sie registrierten, dass in der Natur mächtige Kräfte am Werke sind; der Ursprung von Naturforschung und Philosophie.
Der Monotheismus, der die Natur zugunsten einer Schöpfung und eines Schöpfers ignoriert, ist ein anthropozentrisch verklärter Rückschritt. Beim Monotheismus wird Gott zu einem Abstraktum, der nur noch geglaubt, aber nicht, wie etwa bei den Griechen, in diversen Naturerscheinungen gesehen und gehört werden kann. Und ein Abstraktum, das nicht gesehen und gehört werden kann, aber dennoch existieren soll, lässt sich schwer widerlegen. Es ist so ähnlich wie mit dem Schwerterkampf gegen jemanden, der eine Tarnkappe trägt. Die schlagenden Argumente können ihr Ziel nicht treffen. Der Mensch ist in erster Linie ein philosophierendes und staunendes Wesen. Er ist entzückt vom Unbekannten, das vielleicht durch Erkenntnis entdeckt werden kann. Er weiß um eine große Einheit der Welt. Ein Glaube ist da überflüssig. Es ist ein Wechselspiel von Staunen und Erkennen. Und es ist ein Miteinander im Staunen und Erkennen. Nun kommt jemand daher und sagt: Ich habe etwas gesehen, das Du nicht gesehen hast. Schlimmer: Das Du nicht sehen kannst. Glaube mir, was ich gesehen habe, und Du wirst glücklich. Ein anderer sagt: Schau, dort sehe ich etwas, das erzeugte Staunen in mir. Das kannst Du auch sehen. Lass uns gemeinsam staunen und die Natur entdecken. Ist in ihr nicht das wahrhaft Göttliche?
Die glauben wollen, sollen glauben.
Die wissen wollen, sollen wissen.
Gott weiß um sich selbst.
Er ist vollkommene Einheit.
Er glaubt nicht an sich.
Dies würde einen Mangel bedeuten.
Wer ist nun näher an Gott?
Die Glaubenden oder die Wissenden?
Das Schlimme an Religionen ist, dass um ihren Ursprung ein Schleier des Geheimnisses rankt. Deshalb sind sie so erfolgreich. Die wahren historischen Verhältnisse sind nicht mehr so wichtig. Außerdem würden sie dem Gläubigen seinen Glauben nehmen, denn aus dem Glaubenden würde ein Wissender, also letztlich ein areligiöser Mensch.
Jeder Glaube unterliegt einer Gefahr, nämlich der Gefahr, die beweisbare Wahrheit zu ignorieren. Vielleicht wird uns die Wissenschaft irgendwann zeigen, dass diese Wahrheit sowohl beweisbar als auch fühlbar ist.
Wir brauchen nicht mehr Glauben und Religion, wir brauchen mehr Philosophie und Wissenschaft. Philosophische Diskussionen sind interessant, die zum Gegenstand haben, was der “wahre Gott” sein könnte.
Die Religionen sagen über Gott: Das höchste vollkommenste Wesen, der Grund der gesamten Wirklichkeit und des gesamten Geschehens, das höchste Gut. Der Pantheismus sagt über Gott: Die Identität mit der gesamten Natur, die Einheit der Natur, die Totalität des Universums, die Ganzheit, die Einheit von Materie und Geist, die Implikation des Guten. Ich meine, der Pantheismus hat die stärksten Argumente. Zumal er auch die modernen Naturwissenschaften einbeziehen kann. Viele Naturwissenschaftler sind zutiefst erfüllt von der Schönheit und Tiefe des Universums und der Naturgesetze. In den traditionellen Religionen geht es meist nur um den Menschen, der mehr oder weniger recht handelt, wobei ein pseudopersönlicher Gott vorgibt, was rechtes Handeln zu sein hat.
Die Naturwissenschaften sind in einem gewissen Sinne komplementär zu den Weltreligionen. In letzteren geht es um jeweils ihren speziellen Gott und die Menschen, in ersteren um die ganze Natur und die Menschen. Wobei sich das Verständnis von “ganzer Natur” ständig erweitert. Die traditionellen Weltreligionen erklären mit ihrem, jeweils ganz speziellen und absolut gesetzten Gottesbegriff ein weiteres Naturforschen für überflüssig, indem sie gar keine spezielle Aussage über die Natur machen, außer dass Gott alles erschaffen habe. Gott hat die Welt und Verhaltensregeln für die Menschen geschaffen. Punktum.
Religiöse Fundamentalisten fangen bei Gott an und bleiben bei ihm stehen. Naturwissenschaftler forschen, erkennen und staunen und gelangen erst im Unendlichen zu Gott. Ein religiöser Fundamentalist wird deshalb nie forschen, erkennen und staunen, sondern nur seine alten Formeln ewig wiederkäuen. Er wird deshalb auch nie richtig glücklich, weil ihm das Staunen fehlt. Er wird aber auch nie zum wahren Gott gelangen, da er fälschlicherweise meint, schon bei ihm angefangen zu haben.
Die Vielfalt der Natur ist auch ohne Gott, im Sinne eines Schöpfers der Welt, erklärbar, auch ohne Gott schön. Ja, man wundert sich, dass diese Vielfalt der Formen aus sich heraus entstehen kann. Man sieht in ihnen Freiheit verwirklicht, nicht die Abhängigkeit von einem Schöpfergott.
Aber wie wäre es um einen Gott selbst bestellt? Weiß er um sich, erfährt er sich, glaubt er an sich? Denkbar ist, dass er um sich weiß und sich selbst erfährt. Aber wozu muss er dann noch an sich glauben? Und wenn die Menschen um das Selbstwissen und die Selbsterfahrung Gottes wissen: Warum müssen sie dann noch an ihn glauben? Und wenn Gott sich selbst nicht rational erschließen kann: Ist dies nicht ein Mangel? Was für ein Gott wäre dies? Auf jeden Fall kein Allmächtiger. Eher ein Philosoph, der um seine eigene Existenz rätselt und sie zugleich erfährt.
Also redet Gott nicht, auch nicht zu uns. Also hat er auch keine schriftlichen oder mündlichen Quellen für uns hinterlassen, in denen er uns ein absolutes Wertesystem präsentiert. Als Wissender redet er nicht. Folglich sollten wir uns an Gott ein Beispiel nehmen. Weniger reden. Mehr Schweigen. Mehr Staunen. Mehr Philosophieren. Mehr Erfahren. Weniger auf Redende hören. Die Menschen hören auf die Redenden, nicht auf die Schweigenden. Und verlernen so ihr Schweigenkönnen. Ganz zu schweigen vom Schweigen der Natur und vom Schweigen in der Natur, des wahrhaft Heiligen. Er vergisst sich in uns und hat Anteil an unserer individuellen Persönlichkeit. Wir vergessen uns in Gott und haben Anteil am Ganzen. Der Mensch wäre somit ein notwendiger Bestandteil Gottes. Gott ein notwendiger Bestandteil des Menschen.
Wer legt fest, wie unwissbar die Welt ist? Man stelle sich vor, ein paar Mächtige legen einfach fest, dass die Welt unerkennbar ist. Und sie legen auch noch fest, dass die Menschen bitte keine Mühe für die Erkennung und Erkenntnis der Welt aufwenden sollen, da sie ja sowieso unerkennbar ist. Dass also all das Tun um die Erkenntnis und das Wissen sowieso sinnlos ist.
Sollte die Welt in gewisser Hinsicht unerkennbar sein, dann ist dies auch ein Teil unseres Wissens und wir müssen diese Erkenntnis in unser Wissen integrieren. Sie kann zu einem Staunen über die Welt führen. Die Welt kann gar nicht an sich unerkennbar sein. Dazu wissen wir schon zuviel, was nicht alles falsch sein kann.
Die Welt kann aber durchaus Aspekte der Unerkennbarkeit haben. Vielleicht ist die Welt gerade nur dann wirklich schön, wenn sie diese hat. Wenn es also so etwas wie Geheimnisse oder Mystik gibt. Diese Dinge könnte man auch göttlich nennen. Aber sind sie nun ein Teil Gottes oder ein Teil der Welt? Könnte sich das Problem vielleicht dann lösen, wenn Gott und Welt gleichgesetzt werden? Es ist nicht einzusehen ist, dass der BegriffGott oder göttlich von den etablierten Religionen gepachtet sein sollte. Ich beanspruche diese hohen Begriffe für mich, ich gebrauche sie, denn die Welt ist wahrhaft göttlich.
Kann der Gläubige durch seinen Glauben ein glückliches Leben erlangen? Allein die Denkmöglichkeit, dass sich der Glaube nicht erfüllt, sollte ihn aufhorchen lassen und zu einem Hinterfragen führen, ob das Leben nicht auch ohne einen Glauben glücklich sein kann. Ob das Leben also notwendig von einem Glauben begleitet sein muss, um glücklich zu sein. Wenn er seinen Glauben für wahr hält, hat er ja keinen Grund, nach Alternativen zu suchen, sondern richtet sein Leben nach einer Jenseitsvorstellung ein. Er glaubt und denkt also ständig an etwas Jenseitiges und ignoriert damit das tatsächliche, “diesseitige” Leben.
Das Problem ist nicht nur der Gläubige als Gläubiger, sondern der Gläubige als Missionar, also als jemand, der auch andere davon überzeugen will, dass das wahre Leben etwas Jenseitiges ist. Und hier droht eine Gefahr. Das Problem ist nicht der einzelne Gläubige. Mag er mit seinem Glauben glücklich sein. Das Problem ist die Religion als gesellschaftliches Machtphänomen. Diese Macht wird zum Beispiel auf Kinder ausgeübt: Lebenslust auf das “diesseitige” Leben kann hier durchaus frühzeitig verloren gehen.
Vielleicht ist es ganz gut, wenn uns die Wissenschaft endgültig beweist, dass es kein Leben nach dem Tode gibt. Manche Menschen möchten endgültig sterben können. Die Endlichkeit des Lebens macht es erst wirklich schön und existenziell. Verachten Menschen, die ewig weiterleben wollen, nicht das einmalig individuelle körperliche Leben? Menschen werden durch Religionen von ihrem wirklichen Leben abgelenkt und auf ein Jenseits vertröstet. Die so religiös erzogenen Menschen leben eigentlich für ein Phantom. Sie verwirken ihr diesseitiges Leben und verachten es letztlich, sie erkennen dies nur nicht und behaupten das verkehrte Gegenteil, indem sie ständig von dem Jenseits als dem wahren, noch kommenden und wirklichen Leben sprechen, statt ihr jetziges und einziges Leben tatsächlich zu leben. Das Versprechen vom Jenseits wird jedoch nie erfüllt. Wie tragisch muss ein so verirrtes Leben sein? Möglicherweise (und glücklicherweise?) hat die Natur es so eingerichtet, dass wir endgültig sterben und nach dem Tod nichts mehr kommt.
Die Wissenschaftsgeschichte zeigt, dass das Unbekannte oft durch ganz irdische und eben nicht göttliche Dinge erklärt werden kann. Dennoch gibt es immer noch manche Gottgläubigen, die sich das Spekulieren nicht nehmen lassen, und den den Hintergedanken haben, dass sich hinter den Dingen vielleicht doch noch Gott selbst verbergen könnte. Doch hinterher, wenn die Wissenschaftler das Unbekannte auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt haben, behaupten sie, dass damit ja immer noch nicht Gott erklärt sei. Auf dem Thron sitzen sie eigentlich immer: Zunächst auf dem der Spekulation, dann auf dem der Besserwisserei.
Es ist falsch, zu meinen, dass Wissenschaftler notwendig gottgläubig oder religiös werden müssten, wenn sie mystische Erfahrungen machen. Oder dass gläubige oder religiöse Menschen in puncto mystischer Erfahrung den Wissenschaftlern etwas voraus haben. Natürlich gibt es ganz persönliche mystische Erfahrungen, aber diese müssen nicht notwendig die Erkenntnisse der Wissenschaften in Frage stellen oder über den Haufen werfen, sie können auch in Einklang mit ihnen stehen. Die Erfahrung der Allgegenwärtigkeit an verschiedenen Orten mag durchaus eine Parallele in der räumlichen Unbestimmtheit mancher Phänomene in der Quantenmechanik haben.
Die dogmatisch Ungläubigen werden im Gegensatz zu den dogmatisch Gläubigen immer wieder von der Wissenschaft bestätigt. Die Geschichte der Wissenschaft, ihr Fortschritt, ist eine Geschichte des Niedergangs von Zahl und Art der Eigenschaften Gottes; für Gott bleibt immer weniger übrig.
Das wissenschaftliche Weltbild dringt leider nicht zu allen Menschen vor. Dies hat auch damit zu tun, dass die Wissenschaftler zwar alles dafür tun, dieses Weltbild in akademischer Hinsicht zu erweitern, aber wenig, um es “unter die Leute” zu bringen.
Religiöse Fundamentalisten meinen, ihr eigenes existenzielles Gefühl hätte notwendig mit Gott, ihrem Gott, dem etablierten Gott ihrer etablierten Religion zu tun. Ist dies nicht auch mangelndes Selbstbewusstsein? Mystische Erfahrungen müssen nicht zwangsläufig nur individueller Freiheit zugute kommen. Sie können durchaus auch ein Gefühl der großen Einheit vermitteln. Und wenn der Wissenschaftler hier an Gott denkt, soll ihm dies nicht genommen werden.
Es gibt eine Parallele zwischen moderner Wissenschaft und Religion. Die Wahrheiten moderner Wissenschaft lassen sich ebenso wie diejenigen der Religion oft nicht direkt vermitteln, man denke etwa an die Quantenmechanik, man denke aber auch an die zunehmende Spezialisierung in den Wissenschaften.
Können wir nicht leicht an die falschen Erleuchteten und Meister geraten? Vielleicht waren alle Religionsstifter zunächst erleuchtete Meister und hinterher wurde etwas anderes aus ihnen gemacht. Selbst heute könnte ein schlauer Mensch aus einem erleuchteten Meister einen neuen Religionsstifter machen und diese Religion für seine eigenen Zwecke instrumentalisieren.
Mich interessiert nicht nur, ob man durch mystische und meditative Erfahrungen zu Wahrheiten gelangt, sondern wie über diese Wahrheiten gesprochen wird, wie sie mitgeteilt werden. Ich glaube, die meisten Dinge, die zum Beispiel in den weisen Sprüchen fernöstlicher Weisheiten auftauchen, haben viele von uns selbst schon durchdacht. Aber dabei war es eben ein dynamisches Wechselspiel aus Erfahrung, Fühlen, Erkennen und Denken. Und dies ist auch erfüllter, als wenn da am Anfang nur ein schlau daherkommender Spruch eines Meisters steht, dem die Schäfchen brav zu folgen haben. Die Schäfchen bleiben dann eben, möglicherweise ganz im Sinne des Meisters – was der für wahre Hintergedanken hat, weiß ich nicht – Schäfchen. Sie vollziehen dann unter axiomatischer Anleitung des Meisters Erfahrungen, haben sie aber nicht selbst gemacht. Der Meister steht in der Beweispflicht, er muss die absolute Wahrheit ausbreiten: Wie sehen die Zusammenhänge zwischen theoretischer Physik und östlicher Erleuchtung aus? Meditationserfahrungen allein reichen hier nicht aus, weder eigene, noch ihre Mitteilung durch Andere. Mir geht es um die Verbindung zu Erkenntnis und Wissenschaft. Wir können nicht fröhlich vor uns hin meditieren und die Ergebnisse der Wissenschaften links liegen lassen. Tagsüber nüchterner Wissenschaftler und abends Versenkung und das Vergessen von Wissenschaft. Die Welt ist eine Einheit und es muss auch darum gehen, diese Einheit nicht nur zu erfahren, sondern auch zu erkennen.
Nun ließe sich behaupten, dass sich gewisse Wahrheiten nur meditativ erfahren lassen. Dies mag so sein, aber es reicht immer noch nicht hinsichtlich absoluter Wahrheit. Die stolzen meditativen Einzelgänger sind gefordert. Nicht immer nur die Wissenschaftler: Sie haben in mühevoller Teamarbeit ein wunderbares konsistentes Weltbild gebaut, das offen für Erweiterungen und Ergänzungen ist. Die Meditativen sind diejenigen, die große Schritte auf die Wissenschaft zugehen und die Ergebnisse der Wissenschaften in ihr Weltbild integrieren müssen. Sonst fehlt ihnen etwas und wird ihnen wohl immer etwas fehlen. Ob ihr bestehendes Weltbild, das mitunter meint, ohne die Wissenschaften auskommen zu können, klein oder groß ist, lasse ich einmal dahingestellt. Aber ein rein religiöses Weltbild ist im Vergleich zu einem wissenschaftlichen doch recht schematisch. Ich glaube nicht, dass man sich als moderner aufgeklärter Mensch – und die Aufklärung ist ein Produkt westlicher europäischer Philosophie, und nicht eines östlicher Weisheit – mit einem religiösen Weltbild zufriedengeben kann. Man kann heute nicht einen Sprung von der Physik in östliche Traditionen machen, der Zwischenschritte in der Philosophie ausspart. Ein Mensch, der durch die Schule der Physik und Philosophie gegangen ist, kann unmöglich ein spiritualistisches oder religiöses Weltbild kritiklos übernehmen. In differenzierterer Form kann man auch bei westlichen Denkern wie Schopenhauer, Nietzsche oder Cioran nachlesen, was vermeintlich genuin östliche Weisheit ist. Die östlichen Meister bringen es in kurzen und prägnanten Sätzen auf den Punkt, dies ist ihre Stärke. Aber auch ihre Schwäche: Es ist eben alles viel differenzierter. Wenn alles viel einfacher wäre, hätten die Philosophen dünne statt dicke Bücher geschrieben.
Dinge, die wir noch nicht verstanden haben, liegen oft jenseits unserer Vorstellungswelt. Dies zeigt, wie determiniert wir durch das sind, was als bekannt vorausgesetzt wird, ob in Wissenschaft oder Religion. Aber im Gegensatz zum Zen-Schüler kann der Wissenschaftler auf dem, was er sich schon rational und logisch erarbeitet hat, aufbauen, und muss nicht wieder bei Null anfangen. Der Zen-Schüler und Koan-Rätsellöser hat es da schwieriger. Erst hinterher wird er nicht mehr so viel grübeln und sich den Problemen über eine höhere Bewusstseinsebene nähern. Interessant wäre es nun, wenn man Fallbeispiele von Wissenschaftlern hätte, die zugleich Zen-Schüler oder gar Zen-Meister sind. Ich kenne solche Studien nicht, könnte mir aber vorstellen, dass das Eine das jeweils Andere positiv befruchten kann. Und hier hätten wir ja dann gewissermaßen eine Einheit von Wissenschaft und Religion. Sie würde sich in der Praxis meditierender Wissenschaftler zeigen, die einem Wechselspiel von Rationalität und Meditation unterliegen.
Es ist offensichtlich so, dass wir die große Einheit der Welt nicht beschreiben können, da wir selbst zu dieser Einheit gehören. Wir können uns bei unseren Beschreibungsversuchen dieser Einheit nicht entziehen, nicht aus ihr heraustreten. Dies lehrt ja schon die Quantenmechanik; man ersetze Beschreibung durch Messung. Diese Einheit ist für uns ansatzweise in Wissenschaft oder Mystik erfahrbar, aber nicht ganz. Unwillkürlich wird man hier an das sich selber denkende Denken des unbewegten Bewegers des Aristoteles erinnert.
Die Wissenschaftler stehen in der Pflicht, ihr Weltbild “unter die Leute” zu bringen. Wir sind alle Menschen mit ganzheitlichen Bedürfnissen und nicht nur Fachleute. Das Bedürfnis nach Einheit steht jedoch den millionen, künstlich erzeugten Bedürfnissen unserer kapitalistischen Konsumwelt diametral entgegen. Wir sollen gerade nicht eine Einheit sein, sondern aus ebenso vielen millionen Teilen wie millionen Bedürfnissen bestehen.
Trotz des Anerkennens der Bedeutung von Mystik und Meditation lassen sich die rationalen Fragen nicht beiseite schieben, sie bleiben bestehen: Warum hat das Wasserstoffatom bestimmte Energiezustände? Durch mystische Erfahrung lässt sich diese Frage nicht beantworten, und es ist übertrieben zu behaupten, dass sich mit mystisch-meditativen Erfahrungen mit einem Mal der große Zusammenhang verstehen lässt. Es mag ein Gefühl für diesen Zusammenhang geben, aber er wird dabei nicht erklärt, schon gar nicht en detail. Im Gegenteil: Wenn man nach einer “trunken” mystisch-meditativen Erfahrung als “nüchterner” Wissenschaftler wieder in die Strukturen der Welt schaut, gelangt man zu der Erkenntnis, dass einem Mystik oder Meditation auch nicht vollständig dabei helfen können, diese Strukturen aufzuklären.
Ich widerspreche der verbreiteten Auffassung, dass es eine Arbeitsteilung zwischen Wissenschaft und Religion gibt oder geben sollte, und dass es Grenzen gibt, bei denen die Religion noch etwas sagen könne, jedoch nicht mehr die Wissenschaft. Man halte sich den überheblichen Anspruch der Religion hier vor Augen und – nebenbei bemerkt – den zu bescheidenen der Wissenschaft.
Sicherlich spiegeln die verschiedenen Religionsformen auch kulturelle Vielfalt wieder. Und kulturelle Vielfalt ist auf den ersten Blick erhaltenswert. Der Zusammenhang von Religion und Kultur soll hier gar nicht bestritten werden. Die Religionen bieten dem Menschen tatsächlich auch Formen, die er in seinem alltäglichen Leben zu seiner Orientierung mitunter sinnvoll nutzen kann.
Es gibt jedoch hier einen Widerspruch zwischen dem Anspruch auf kulturelle Vielfalt und dem Anspruch der Religionen selbst, zumindest einiger von ihnen. Letztere behaupten nämlich, dass nur sie im Besitz der Wahrheit über den wahren Gott sind, und dass nur der Gott ihrer eigenen Religion der einzige und wahre Gott sei.
Den meisten Religionen ist die Annahme gemein, dass es ein höchstes Wesen gibt, nämlich Gott. Nun angenommen, dieser Gott existiert wirklich, in welcher Form auch immer. Auch wenn er für uns heute nicht wirklich in seiner Gänze schaubar und erkennbar ist, so sollte doch eine zukünftige Wissenschaft, vielleicht eine zukünftige physikalische Theorie, etwas über dieses höchste Wesen, das irgendwie mit diesem physikalischen Universum zusammenhängt, wenn es nicht gar selbst dieses ist, aussagen können. Und hier gelangen wir zwangsläufig an einen Punkt, bei dem die Wissenschaft ein gehöriges Wort mitzusprechen hat. Religionen im klassischen Sinne können uns hier allein keine ausreichende Auskunft mehr geben. Und was wäre dies auch dann überhaupt noch für eine Religion, die die Aussagen der Wissenschaft über den dann “wahren” Gott ignoriert und links liegen lässt?
Ich würde folgende starke These aufstellen wollen: Vorausgesetzt Gott existiert wirklich, so wird uns die Physik darüber aufklären, was er wirklich ist. Ich bin kein Physikalist, nehme aber an, dass die Welt eine große Einheit ist. Ich habe durchaus Sympathien mit dem Pantheismus, aber auch mit Aristoteles (das sich selber denkende Denken, der unbewegte Beweger) und Hegels Weltgeist.
Wenn Gott jedoch nicht existiert, sind wir völlig auf unsere eigene Existenz zurückgeworfen. Ich denke, dass uns Nietzsche mit seinem Satz “Gott ist tot” auch darauf aufmerksam machen wollte. Der Existenzialismus hat schon einige starke Argumente für sich, wie Selbstverantwortung und Selbstbewusstsein. Und hier habe ich Sympathien mit Nietzsche, den man als Existenzialisten ansehe kann, und der uns mit dem Gedanken der ewigen Wiederkehr vor Augen geführt hat, dass wir diese unsere individuelle Existenz anerkennen, achten und sogar vollständig bejahen sollten. Nach Nietzsche müssen wir dann sogar dazu bereit sein, unser einmaliges individuelles Leben unendlich oft auf haargenau dieselbe Art und Weise immer wieder und wieder zu leben.
Eine rein philosophische, philosophiegeschichtliche, religiöse oder religionsgeschichtliche Auseinandersetzung mit Gott halte ich für unzureichend. Heute sollten die modernen Wissenschaften und insbesondere die moderne Physik in die Rede über Gott mit einbezogen werden. Wir müssen auch an die Aussagen der Physiker selbst denken: Einstein sagte von sich selbst, dass er Pantheist sei und an den Gott Spinozas glaubt. Ein anderer Physiker, Boltzmann, sagte über die Maxwellschen Gleichungen: “War es ein Gott, der diese Zeichen schrieb?”
Selbst wenn wir, ganz unphysikalisch, Gott als Schöpfer des Universums ansehen, kommen wir nicht umhin, die Gleichungen der theoretischen Physik auch auf diesen Schöpfergott zu beziehen. Denn diese Gesetzmäßigkeiten sorgen dafür, dass es in diesem Universum eine Stabilität physikalischer Strukturen geben kann. Diese Stabilität sorgt aber auch dafür, dass wiederum komplexere Strukturen, bis hin zur DNA, stabil sein können.
Natürlich ist man versucht, hier an eine vollendete Form von Kunst, vielleicht wäre sie “Gotteskunst” zu nennen, zu denken. Dennoch ist dieser Schluss nicht notwendig ist, was wiederum mangels Kenntnis der wahren Verhältnisse um das Universum nicht ausreichend begründet werden kann. Dieser Mangel könnte dann ebenso zu der Aussage verleiten: Das Universum erscheint wie ein großes Kunstwerk. Was an ihr jedoch wiederum nicht gefallen könnte, wäre die Zweiteilung von Künstler und Kunstwerk, von Schaffendem und Geschaffenem. Wäre es nicht “schöner”, wenn es eine Einheit wäre, wenn also Künstler und Kunstwerk zusammenfielen? Da aber hier immer noch der Begriff der Kunst als primärer Begriff gebraucht wird, und nicht derjenige der Existenz oder der Natur, könnten die Sympathien denn doch beim Naturbegriff liegen. Folgende Reihenfolge erschiene hier sinnvoll: Natur (möglicherweise identisch mit Gott, möglicherweise ungeschaffen und ewig existent), Existenz (die sich im Individuum Mensch mit Geist und Gefühl zeigt, die aber nicht vollständig auf Natur reduziert werden kann, sondern auf ihr superveniert) und Kunst (als Auseinandersetzung des existenziellen Wesens Mensch mit der Natur und mit sich selbst). Die Kunst würde hier also nur dem Menschen vorbehalten sein.
Es wäre ein Szenario in der Zukunft denkbar, bei dem die Physik an ihr Ende gelangt. Gott würde dann in einem letzten Akt der Physik als höchste erkennbare Struktur des Universums erkannt und erfasst, und zwar im materiellen und geistigen Sinne. Vielleicht würden die Physiker dann feststellen, dass das Universum als materielle und geistige Struktur auf allen Ebenen holistisch Informationen austauscht und tatsächlich alles mit allem verbunden wäre. Sie würden Prinzipien verstehen, wie dieser Informationsaustausch stattfindet und würden so auch zu einem neuen Verständnis von Geist gelangen. Physik und Metaphysik würden schließlich fließend ineinander übergehen. Die Einheit der Wissenschaft würde mit der Feststellung der Einheit des Universums Hand in Hand gehen. Das Universum (Gott?) würde seine eigene Einheit in diesem letzten Akt verwirklichen.
Vielleicht leben wir tatsächlich in der Leibnizschen Welt der besten aller möglichen Welten, auch wenn uns dies aus menschlicher Perspektive natürlich nicht so erscheint. Vielleicht ist Gott tatsächlich von Trauer erfüllt, wenn er an die ihm innewohnenden negativen Folgen denkt, die Freiheit mit sich bringt. Eine Freiheit, die er sich selbst gegeben hat, damit es solche Dinge wie etwa die Liebe gibt. Und vielleicht musste er sich entscheiden, ob er auf Freiheit gänzlich verzichten soll oder ob er sie unter Inkaufnahme von Gefahren zulassen will. Aber was wäre dies auch für eine Sicherheit, in der keine Freiheit möglich ist? Konnte Gott sich überhaupt anders entscheiden?
Wissenschaftler haben eine Motivation, Wissenschaft zu treiben. Diese Motivation liegt in allen möglichen, auch durch die Lebenswelt bestimmten Bereichen. Die Wissenschaft wurde nicht nur deshalb vorangebracht, weil es in ihr so schön streng zugeht.
Der Gedanke an Gott könnte – in welcher Form auch immer – auch für den Wissenschaftler eine zusätzliche Inspiration sein. Die Gotteshypothese, so hypothetisch sie auch sein mag, könnte etwa Physiker dazu motivieren, das Ganze des Universums, das möglicherweise auch ein göttliches Ganzes ist, im Auge zu behalten. Wenn sie dieses mögliche göttliche Ganze von vornherein für unmöglich halten, werden sie wahrscheinlich auch nicht in entsprechende Richtungen forschen, sondern davon ausgehen, dass es im Universum letztlich im wesentlichen voneinander separierte und separierbare Entitäten gibt. Die meisten großen Physiker waren jedoch tatsächlich von einem holistischen Erkenntnisinteresse bestimmt.
Auch aus physikalischer Sicht ist die Welt ja eine Ganzheit, die sich unserem Erkenntnisvermögen beharrlich entzieht. Wenn man die Quantenmechanik auf das gesamte Universum anwendet, ergibt sich das Problem, für das gesamte Universum Wellenfunktionen bzw. Zustandsvektoren aufzustellen und zu berechnen. Dies führt uns unmittelbar zu der Frage, wo wir mit unseren Theorien eigentlich stehen und wie begrenzt sie sind.
Selbst wenn wir vermuten, dass es möglicherweise ein göttliches Ganzes gibt, ist die wissenschaftliche Annäherung an dieses Ganze jedoch schwierig, wenn nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt, da es sich ja um ein metaphysisches und nicht physikalisches Problem handelt. Wir kommen daher überhaupt nicht darum herum, hier auch Hypothesen aufzustellen.
In der Wissenschaft selbst hätte es keinen Fortschritt gegeben, wenn das Aufstellen bestimmter Hypothesen nicht erlaubt gewesen wäre oder von vornherein für überflüssig gehalten worden wäre. Man stelle sich vor, ein paar mächtige Physiker des 19. Jahrhunderts hätten durchgesetzt, dass über die Existenz eines Äthers nicht diskutiert werden darf, weil es den Äther nun einmal nicht gibt bzw. nicht zu geben hat. Hier hätte die Lebenswelt mächtiger Physiker Einfluss auf die physikalische Forschung selbst gehabt. Diese Physiker hätten letztlich verhindert, dass es eine kontroverse wissenschaftliche Diskussion über den Äther gegeben hätte, die wissenschaftsgeschichtlich schließlich experimentell mit dem Michelson–Morley-Experiment und theoretisch mit der speziellen Relativitätstheorie zu seiner Verwerfung führte.
Könnte es sich nicht ebenso als gefährlich herausstellen, das Aufstellen von Hypothesen über Gott für überflüssig zu erklären? Menschen, die bereit dazu sind, die Gotteshypothese zu verwerfen, könnten ja auch prinzipiell bereit dazu sein, unsinnig erscheinende, aber durchaus für die weitere wissenschaftliche Entwicklung fruchtbare physikalische Hypothesen zu verwerfen.
Man sollte jedoch nicht zu oft das Wort Gott in den Mund nehmen, gerade Physiker nicht. Wenn die Physiker jedoch diesen Begriff an der ein oder anderen Stelle öfter einmal benützen würden, würde dies vielleicht langfristig dazu führen, dass man ihn nicht immer nur aus dem Mund der Vertreter etablierter Religionen oder religiöser Fundamentalisten hören würde. So verschieden die Physiker sind, sie sind so verschieden wie andere Menschen auch, so einheitlich im Gegensatz zu sich widersprechenden Religionen ist doch ihr Weltbild. Hat uns die Physik dann nicht auch mehr zu sagen?
Braucht man überhaupt noch die Religion, wenn man sich mit Physik und Philosophie beschäftigt? Alle Diskussionen über Gott lassen sich auch auf philosophischer Ebene führen, und werden sie ja letztlich auch. Dennoch kann man noch nach Gründen suchen, warum die Religion eines religiösen Mensch gerade in der Physik und Philosophie verankert sein sollte.
Das Projekt der klassischen Aufklärung ist offensichtlich gescheitert. Die Erfahrung der letzten 200 Jahre hat gezeigt, dass mächtigen religiösen Fundamentalismen kein Einhalt geboten wurde. Milliarden von Menschen auf diesem Planeten stehen unter dem Einfluss dieser Fundamentalismen. Vielleicht bedarf es einer neuen Aufklärung, die religiöse Aspekte stärker einbezieht. Vielleicht auch durch den Zwischenschritt einer neuen Religion, die von Physikern und Philosophen in verantwortungsvoller Weise erschaffen wird. Eine wahre Religion kann nur eine solche sein, die den Ergebnissen der modernen Physik philosophisch aufgeklärt gegenübersteht und ihnen Rechnung trägt. Eine solche Religion könnte den Glauben an Gott als Ganzheit aus universeller Intelligenz und Liebe widerspiegeln. In einem wahrhaften menschlichen Miteinander könnten die Menschen in einer Einheit aus Religion, Physik und Philosophie in der Ganzheit des Universums vielleicht einmal friedfertig und erfüllt leben.
Kant hat die metaphysisch bedingten Grenzen klassischer Religion aufgezeigt. Über eine mögliche zukünftige Religion, die sich an der modernen Physik orientiert, hat Kant nichts ausgesagt. Kant klingt nicht unreligiös, wenn er schreibt: “Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.” Dies ist für mich die faszinierendste Stelle bei Kant.
Zur Verteidigung des Glaubens lässt sich anführen: In jedem Glauben steckt ein bisschen Hoffnung, und sei sie auch noch so winzig.
Aller nüchternen Wissenschaft zum Trotz steckt im Glauben die Hoffnung, dass Gott tatsächlich existiert. Wenn man dies positiv auffasst, heißt dies eigentlich nur, dass es vielleicht den großen Zusammenhang wirklich gibt und die Dinge der Welt nicht einfach zusammenhanglos nebeneinander existieren. Aller Religionskritik zum Trotz steckt im Glauben also etwas Positives, das sich durch Wissenschaft nicht klein reden lässt. Einfach, weil die Wissenschaft noch nicht so weit ist, und wenn sie so weit ist, wird keine Wissenschaft als Wissenschaft mehr erforderlich sein, da sie schließlich zu einem vollendeten Wissen geworden ist. Es bedarf aber dann auch keines Glaubens mehr, die absolute, wissenschaftlich beweisbare Gottesgewissheit würde an seine Stelle treten. Der Glaube bezieht sich somit auch auf einen fernen Punkt der Zukunft, über den die Wissenschaft noch gar nichts aussagen kann. Der Mensch hat offensichtlich das Bedürfnis, sich selbst in einem großen Zusammenhang zu sehen. Auch die Philosophie kann dieses Bedürfnis und somit den Glauben als solchen nicht relativieren.
Hier ist nicht an einen speziellen Glauben einer speziellen Religion zu denken, sondern an den Glauben in seiner Essenz, den alle Religionen gemeinsam haben. Auf diesen Glauben sollten sich die Weltreligionen wieder gemeinsam berufen, statt sich gegenseitig anzufeinden.
JM
* * *
Bedürfnis
Die Zahl der Bedürfnisse muss unendlich groß sein, denn der Konsum muss unendlich groß sein. Die Kritikfähigkeit muss 0 sein, die Dummheit muss unendlich sein. Wer dumm ist, kauft unkritischer. Das Visuelle muss dominant sein, da mit ihm ein Maximum an Werbeinformation transportiert werden kann. Das Akustische ist auf ein Hämmern reduziert, auf das Einhämmern von versteckten Werbebotschaften. Die Innerlichkeit muss 0 sein, sie behindert nur den Konsum der unendlich vielen externen, permanent künstlich erzeugten unendlich vielen Bedürfnisse. Die Wichtigkeit der Bedürfniserfüllung muss unendlich sein. Der Reichtum der Manipulatoren der Masse muss unendlich sein. Der Mensch verschwindet zu einem winzigen unsichtbaren Punkt, aufgebläht durch eine Hülle vermeintlich erfüllender Bedürfnisbefriedigungen. Die Befriedigung muss aber 0 sein, denn die Unzufriedenheit muss unendlich sein, da Zufriedenheit Konsumstillstand bedeutet. Das Lachen überdeckt das bisschen Innerlichkeit.
Bekommt die Gesellschaft nicht das, was sie erzeugt? Der Mensch soll heute vor allem ein Konsumwesen mit unendlich vielen Bedürfnissen sein, damit die künstlich erzeugten, unendlich vielen, überflüssigen Bedürfnisse konsumiert und befriedigt werden können.
Ein wichtiges Bedürfnis wird jedoch nicht befriedigt und bleibt unerfüllt: Das Bedürfnis des Menschen nach Natur. Der so von der Natur entfremdete Mensch flüchtet sich in Konsumwelten, die vermeintlich einen Ersatz für das Indernatursein und das Naturerlebnis liefern. Das Triebhafte, das sich ursprünglich in der Natur “ausleben” konnte, lebt sich nun in diversen anderen Formen aus, bis hin zur Gewalt. Da das laute Rauschen eines Wasserfalles nicht mehr vernommen werden kann, bedarf es des Rausches und des Beschallens. Da die Stille der Natur nicht mehr erfahren werden kann, bedarf es zur Kompensation des Sichanschweigenmüssens in überschallten Räumen. Deshalb die Massenbeschallung allerorten, die damit beide unerfüllten Naturerlebnisse ersatzbefriedigt: die überwältigenden Geräusche in der Natur und das Erleben der Stille in ihr.
Der so entfremdete Mensch weiß noch nicht einmal, dass auf diese Art und Weise sein ursprüngliches Bedürfnis nach Natur seine Befriedigung findet. Diese Befriedigung kann natürlich nur unvollständig sein. Der Ersatz ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Die Gesellschaft wird in den Konsumwelten triebhafter und gewalttätiger, da sich Triebhaftigkeit nicht vollständig ausleben kann, vollständiges Ausleben von Triebhaftigkeit kann ja nur in der Natur stattfinden. Ebenso dazu bei trägt der permanente Input an Reizüberflutung, der sich einen Output suchen muss und ihn im Triebhaften findet. Da ein natürliches Leben, Erleben und Ausleben in der Natur nicht mehr stattfinden kann, gibt es Orte des Massenauslebens, mit riesigen Beschallungsanlagen, die für Stille sorgen, sprich: Das Schweigen in der Natur wird durch das aus der Beschallung folgende Sichanschweigenmüssen ersetzt. Da dies natürlich kein Ersatz für Naturerfahrung sein kann, staut sich innere Unzufriedenheit an, deren Abbau wiederum in anderen, noch raffinierteren Konsumwelten gesucht wird, und so fort. Ein unendlicher Regress in andere und noch subtilere Konsumwelten, die von einem System getragen werden, das permanent unendlich viele Bedürfnisse erzeugen muss, die gleichzeitig nie zur vollen Befriedigung gelangen dürfen, damit die Quelle nicht versiegt. Dieses Muster meinte man ja irrtümlicherweise in der Natur vorgefunden zu haben: Die vermeintliche, aber nur vermeintliche, unendlich große Quelle von Ressourcen, aus der man sich freudig bedienen kann, ohne dafür zu bezahlen. Nun will man eine nicht versiegende Quelle schaffen, für die man nicht nur nichts bezahlen muss, sondern für die man auch noch Geld bekommt.
Hier besteht dann in der Tat ein Widerspruch zu den Naturgesetzen bzw. dem Energieerhaltungssatz. Die Konsumwelten mit ihren Perpetuum Mobiles rebellieren gegen die Erhaltungssätze der Natur und sind sich dieser Rebellion noch nicht einmal bewusst.
Es muss Public Viewing geschaffen werden, da Nature Viewing nicht mehr möglich ist.
Doch, für ein paar Menschen ist es noch möglich! Für wen wohl? Für die reichen Menschen des Geldes, die sich teure Expeditionen leisten können. Die aber in ihrem Alltag, durch ihr Wirken in ihrer alltäglichen Geschäftspraxis dafür sorgen, dass der überwältigenden Mehrzahl der Anderen das Naturerlebnis versperrt bleibt.
JM
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Bewusstsein
Ich gestehe ein, der Affe mag rudimentäre Formen von Selbstbewusstsein haben.
Aber in dem Moment, in dem er dieses Selbstbewusstsein als Selbstbewusstsein erkennt (und dieser Akt ist schon ein Akt philosophischer Reflexion, die Akte, die darauf folgen erst recht!), ist er schon Mensch und mag er auch noch so sehr wie ein Affe aussehen. Entwickelt der Mensch sich aber tatsächlich zum Affen zurück, so wird er sein Selbstbewusstsein nicht mehr als Selbstbewusstsein erkennen. Die menschliche Kultur würde zusammenbrechen. Natürlich kann man das Verhalten des Affen (Gruppenbildung, Werkzeugbenutzung, etc.) auch schon Kultur nennen. Aber diese Kultur schafft keine Dinge, die für sich stehen und keinen Sinn haben. Der Mensch ist dasjenige Wesen, das Dinge schaffen kann, die keinen Sinn haben. Und zwar ganz bewusst. Denn nur er weiß, was Sinn ist. Ein Affe reflektiert nicht über den Sinn. Alle Reduktionsversuche, wie “Der Mensch ist ja in Wahrheit auch nur ein reines Naturwesen” oder “Wenn der Affe schon intelligente Eigenschaften hat, gar rudimentäre Formen von Selbstbewusstsein, so kann der Mensch ja gar nicht soviel mehr sein”, drehe ich um: Die Tatsache, dass wir als Menschen bei Affen “menschliche Eigenschaften” entdecken, heißt nicht, dass es in Wahrheit eigentlich nur tierische Eigenschaften oder Eigenschaften eines Naturwesens gibt. Die menschlichen Eigenschaften bleiben bestehen. Sie sind dann beim Affen genauso unerklärlich wie beim Menschen, da sie dann genuin menschliche Eigenschaften sind. Wenn wir den Geist beim Affen entdecken, heißt das ja nicht, dass wir dazu genötigt sind, anzunehmen, dass es den Geist nicht gibt und dass er auf Natur reduziert werden kann. Wir können feststellen, dass der Affe über Aspekte des Geistes verfügt, die auch der Mensch hat, aber eben nicht alle, wie etwa die Reflexion über die Selbstreflexion. Und wenn wir den Geist als Substanz betrachten, und er mag in Wahrheit Substanz sein, ob gottgeschaffen oder in einer faktisch vorliegenden dualistischen Struktur der Welt, so können wir uns als Neurowissenschaftler noch so sehr anstrengen: Wir werden den Geist nicht aus der Welt schaffen und auf erweiterte tierische Intelligenz oder neuronale Raffinesse reduzieren können. Vielleicht wird die Entwicklung der Neurowissenschaften auch in die Richtung gehen, dass sie irreduzibel Geistiges immer mehr entdeckt, ob in tierischen oder menschlichen Gehirnen. Neurowissenschaftler – selbst Philosophen der “Philosophie des Geistes” – benutzen den Begriff des Geistes zwar nicht mehr, aber sie könnten irgendwann dahin gelangen, dass sie ihn notgedrungen benutzen, weil sie erkennen, dass es tatsächlich die naturwissenschaftlich nicht erkennbare Substanz Geist als irreduziblen Bestandteil des Seienden gibt.
Ich gestehe ein, dass es sinnvoll ist, nach den biologischen und evolutiven Ursprüngen unseres Bewusstseins zu suchen, zum Beispiel Primatenforschung zu betreiben. Wenn das Ergebnis jedoch ist, dass Geist wesentlich Materie ist, sich gar auf Materie reduzieren lässt, so hilft uns dies hinsichtlich Moral nur beschränkt weiter. Es hilft uns vielleicht dabei, eine Genese der Moral zu finden, es hilft uns, welche biologischen Faktoren bei der Moralentwicklung eine Rolle spielen, aber es hilft uns bei einem wesentlichen Punkt nicht, um den es bei aller Moral wesentlich geht: Nämlich bei der Frage des moralischen Sollens. Wir müssen uns im Hinblick auf dieses moralische Sollen wesentlich auch als freie vernunftbegabte Geistwesen verstehen, die aus Freiheit und Verantwortung autonom handeln. Wir müssen letztlich so handeln als hätten wir Geist, selbst wenn wir ihn aus materieller Sicht gar nicht haben. Selbst wenn es naturwissenschaftlich gesehen zu einer Reduktion des Geistes auf die Materie kommt, ist das Feld der Moral in seinem wesentlichsten Punkt noch gar nicht berührt.
Man muss einen Unterschied zwischen dem Geist als Gegenstand der Naturwissenschaften und dem Geist als moralisches Postulat machen.
JM
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Glück
Kann man ohne den Glauben an einen Gott glücklich sein? Oder gibt es das wahrhafte Glück vielleicht nur ohne diesen Glauben an Gott? Oder gibt es das wahrhaftes Glück sogar nur dann, wenn Gott nicht existiert? Der Mensch mit seinem Glück allein. Keiner da, der das Geschehen von oben betrachtet, kein Gott, dem man sein eigenes Glück zu verdanken hat, so wie alles im Leben – gerade heute – alles so geregelt ist, dass man immer irgendjemandem für irgendetwas dankbar sein muss, für die vielen Bedürfnisse, die erzeugt und befriedigt werden.
Allein mit sich und durch sich allein allein glücklich sein. Das sind Momente, in denen der Mensch nichts anderes will als sein eigenes Glück, besser: Er ist sein eigenes Glück.
Es stellt sich die Frage, ob es so etwas wie “gerechtes Glück” gibt. Wenn wir an die Formen des Glücks denken, es sind sogar die meisten Formen des Glücks, die mit dem zwischenmenschlichen Miteinander zusammenhängen, wie zum Beispiel diejenigen der Liebe zwischen zwei Menschen, der Eltern-Kind-Liebe oder der Freundschaft, so sind diese Formen doch in gewisser Weise auch vom Glück, im Sinne zufälligen Glücks, abhängig. Denn es ist ja meist so, dass man den Menschen, den man liebt oder zum Freund hat, zufällig kennengelernt hat. Man kann zwar hoffen, dass einem ein Mensch über den Weg läuft, den man lieben oder zum Freund haben kann, aber es gibt hier keine Glücksgarantie. Auch wenn man sich darum bemüht, selbst wenn man sehr sozial eingestellt sein und viele gute soziale Kontakte haben sollte, ist dies immer noch nicht eine Gewähr dafür, auch einen passenden Menschen zu finden. Denen, die den passenden Menschen, die ihnen meist zufällig über den Weg laufen, begegnen, sei ihr Glück natürlich gegönnt. Man würde sich dies für sich selbst ja auch wünschen. Aber ist diese Form des Glücks nicht auch dadurch im wesentlichen ein durch zufälliges Glück bedingtes Glück? Was ist mit denen, die dieses zufällige Glück nicht hatten? Haben die nur Pech gehabt? Insofern ist wohl ein Aphorismus Nietzsches zu verstehen, in dem er schrieb, dass die Liebe auch ungerecht sei und an die Falschen reichlich austeile. Nietzsche hatte wohl eher negative Erfahrungen mit Frauen, am Beispiel Nietzsches könnte man die These aufstellen, dass bei jemandem, der an einem Mangel an Eros leidet oder bei dem dieser Mangel offenbar nach allem, was man über seine Kontakte beziehungsweise vielmehr fehlenden Kontakte zum anderen Geschlecht weiß, objektiv vorliegt, sich die unausgelebten Energien des Eros zwangsläufig einen Weg in der Liebe zum Geistigen suchen. Aber auch andere alleinstehende Philosophen, wie zum Beispiel Kant, fallen einem hier als Beispiele ein. So verschieden diese beiden Philosophen sind – der eine war viel unterwegs, der andere nur einem Ort, der eine schrieb eher locker, der andere eher streng, der eine suchte den Kontakt zu Frauen, der andere nicht -, so ähnlich sind sie sich in diesem Punkt.
Die Verliebtheit des ungewollt frauenfernen Denkers Nietzsche zu einer Frau, nämlich zu Lou Salome, wurde nicht erwidert. Man stelle sich vor, die hätten zusammengefunden. Gäbe es dann überhaupt die Werke Nietzsches? Kann man überhaupt wahrhaft kritisch schreiben, wenn man glücklich verliebt ist? Verhindert die rosarote Brille nicht auch das Kritische?
Wenn man Verliebte beobachtet, fällt einem, als scheinbar unbeteiligtem Dritten, oder auch Fünftem, nämlich dem bekannten “Fünften Rad am Wagen”, doch so Einiges auf, das den Verliebten selbst wohl nicht so auffallen mag, schon gar nicht in dem Maße.
Ähnliches erlebt man, als derjenige, der in dieser Situation als außenstehender Beobachter zwangsläufig zu einer gewissen Passivität verurteilt ist, auch bei langjährigen Partnern oder auch Eltern im Beisein ihrer Kinder. Und diese Auffälligkeiten sind für Dritte eben oft nicht nur positiver, sondern auch oder vielleicht sogar hauptsächlich negativer Art.
Nämlich dadurch, dass die beiden Verliebten (oder eben die beiden langjährigen Partner oder die Eltern im Beisein ihrer Kinder) oft sehr stark aufeinander fixiert sind, vernachlässigen oder ignorieren sie andere, auch noch anwesende Personen. Der nahestehende und geliebte Mensch steht im Vordergrund: Ihm wird die ganze Aufmerksamkeit geschenkt; er wird anhimmelnd angeschaut; wenn er spricht, fällt die Klappe und man ist, als immerhin auch anwesender Dritter eigentlich doch nicht so richtig anwesend. Das Umfeld der sich Nahestehenden relativiert sich zu einer bloßen Kulisse und man spürt intuitiv, wie viel mehr der Andere geschätzt wird als man selbst, eben der bloße Dritte.
Aber nicht nur Ignoranz fällt einem dazu ein, sondern auch, …, ja, was ist es, wie soll man es nennen? – Langeweile vielleicht? Dadurch, dass diese Menschen so aufeinander fixiert sind, dass man als Dritter in der Regel nicht einbezogen wird, erst recht nicht in einem Gespräch, das diesen Namen verdient. Dieses reduziert sich oft auf einen bloßen Dialog der sich Nahestehenden. So wird es wirklich langweilig für den Dritten. Er langweilt sich, wenn er Menschen sieht, die sich hauptsächlich nur positiv anhimmeln und somit gerade das Gegenteil von kritischer Auseinandersetzung praktizieren, was ja per se nichts Negatives sein muss, gerade wenn man an interessante philosophische Auseinandersetzungen denkt.
Daraus folgt ein erster wichtiger Schluss: Verliebte sind die unphilosophischsten Menschen, die man sich vorstellen kann. Sie zeichnen sich ja gerade dadurch aus, dass sie nichts hinterfragen, schon gar nicht ihren Partner, ihre Beziehung oder ihre aktuelle Lebenssituation, deren markantestes Merkmal nun einmal das aktuelle Verliebtsein ist. Der Himmel ist von hellblau bis rosarot alles, nur nicht schwarz. Schwarz ist er allenfalls, wenn einen der Partner wieder verlassen hat. Vielleicht, weil er sich wieder “frisch” verlieben konnte und so auch weiterhin ein unkritischer Mensch bleiben konnte; eine Rolle, in der er sich vielleicht selbst nur allzu gut gefällt, oder eben ein Mangel, den er sich nicht als solchen eingestehen will. Und durch das Verliebtsein lässt sich in der Friede-Freude-Eierkuchen-Welt der Verliebten dieser Mangel ja auch relativ leicht überdecken. Und wenn er doch wieder zum Vorschein kommen sollte, verliebt man sich halt neu, und so fort. Wenn der Andere mich schon mag, mich anhimmelt – kurz und knapp: in mich verliebt ist – so ist mit mir doch offenbar alles in Ordnung, oder?
Das kritische philosophische Gespräch ist vielen Verliebten somit offenbar fremd. Aber dem Menschen mit einem Hang zur Philosophie werden dann solche Menschen ebenso fremd, da sie offensichtlich diejenigen sind, die am weitesten von der Philosophie entfernt sind.
Und wenn man dann gewisse Radiosender (na die, mit den scheinbar ewig jugendlichen Sprechern) einschaltet, hat man zuweilen den Eindruck, dass dort hinter dem Mikrofon auch nur lauter verliebte Menschen sitzen, die Ätherwellen quillen quasi nur so rosarot über von Positivität. Was tut man infolgedessen? – Man schaltet das langweilige Radio ab. Die reden alle so positiv, dass der Klang ihrer Stimmen schon wieder an perfekte Werbestimmen erinnert. Und die Werbung folgte ja auch zugleich. Wie dies alles zusammenpasst. Dieser unkritische Mensch wird ja gerade von der Werbung und den obskuren Interessen des allgegenwärtigen, heiligen Marktes, der hinter dieser Werbung steckt, gefordert. Dies ist ja gerade der Mensch, der als unkritischer Konsument gewollt wird. Er soll gefälligst unendlich viel konsumieren, er soll unendlich viele Bedürfnisse haben, die durch den Kauf unendlich vieler Produkte ihre Befriedigung finden sollen. Und dabei immer schön cool und verliebt bitte. In anderen Medien geht es ähnlich zu, zum Beispiel im Fernsehen oder im Internet. Hier gibt es auch zuhauf nur glückliche, wahrscheinlich nur frisch verliebte Menschen, wie ihr zur starren Positivität verurteiltes mediales Auftreten jedenfalls nahelegt. Und dann fällt mir wieder ein, warum ich grinsende Gesichter in der Werbung nicht mag. Aus demselben Grund, dieses kalte und starre Lächeln ist allgegenwärtig. Und man kann nur noch wegschauen. Und mit der Zeit registriert man, dass man immer öfter die Augen schließt, weil man einfach nicht mehr kann.
Und schließlich fragt man sich, was für den Menschen wohl besser ist: traute Zweisamkeit oder philosophische Einsamkeit?
Auch hinsichtlich der Ergebnisse der Evolutionstheorie, Evolutionären Erkenntnistheorie und Soziobiologie ist das oben beschriebene Verhalten der Verliebten gegenüber Dritten aufschlussreich: Fortpflanzung ist da wahrscheinlicher, wo sich die Paare schon näher kennen. Zumindest bei Menschen ist es so, dass in der Regel ein intimer Kontakt von einem längeren sozialen Vorspiel eingeleitet wird. Und dieses Vorspiel haben Verliebte schon hinter sich oder sie sind mittendrin, wohingegen ein außenstehender Dritter hier noch nachholen müsste, der Fortpflanzungsakt dann natürlicherweise auch später eintreten würde. Und das romantisch verliebte Pärchen ist sich dieser nüchternen Raffinesse der Evolution noch nicht einmal bewusst. Soziales Verhalten geht hier mit evolutionären Vorteilen einher, das ist ja gerade die These der Soziobiologie.
Aber die Kultur spielt natürlich dennoch eine Rolle, in der das Pärchen sozialisiert wurde. Es gibt indigene Völker am Amazonas, bei denen Partnerwechsel alltäglich sind und zu einer funktionierenden Gemeinschaft dazu gehören. Es gibt feste Partnerschaften, bei denen es aber dennoch Usus ist, dass auch einmal ein anderer Mann aus dem Dorf Kontakt zur Frau hat. Wenn hier der angestammte Mann der Frau neidisch auf den anderen Mann ist, wird das von der Dorfgemeinschaft überhaupt nicht gern gesehen. Es schadet dem sozialen Frieden. Dieser Frieden ist aber gerade durch solche Bräuche gegeben, denn dass es ein natürliches Bedürfnis nach Seitensprüngen gibt, zeigt sich doch auch in unserer Gesellschaft. Nur wird es hier verurteilt, bleibt im Stillen oder es wird sich eben geschieden. Unsere “fortschrittliche” Gesellschaft könnte von solchen sogenannten “primitiven” Kulturen lernen.
Schließlich stellt sich die wichtige Frage, ob es eine Form des Glücks gibt, die jedem offen steht, ohne dass es eines zufälligen Glückes bedarf. Die Antwort liegt auf der Hand: Das Glück der Einsamkeit. Die Einsamkeit steht jedem Menschen offen, zum Beispiel die Einsamkeit in der Natur in einem Wald, am Meer oder im Gebirge. Wenn es also eine gerechte Form des Glücks gibt, eine, die nicht von einem zufälligem Glück abhängt, so ist sie das Glück der Einsamkeit. In der Einsamkeit kann man glücklich sein, man findet zu sich, zur Natur, man stellt sich philosophische Fragen, man hat individuelle Eindrücke, die vielleicht literarisch verarbeitet werden, etwa in Gedichten oder Romanen. Philosophie und Literatur ergeben sich hier unmittelbar als essentielle Dinge, die mit dem Glück elementar zusammenhängen.
Das Glück ist vielgestaltig, das Glück der Einsamkeit ist jedoch aus oben genannten Gründen stärker zu gewichten. Die Einsamkeit ist der letzte Hort des Glückes, wenn einem alle anderen Formen des Glückes versagt blieben.
In einer freien Gesellschaft darf es keine Präferenz einer bestimmten individuellen Lebensführung geben. Ob sich jemand für die Einsamkeit entscheidet oder für Beziehungen. Arrogant finde ich die Haltung von Politikern, die in Sonntagsreden im Hinblick auf Wahlerfolge zu oft das abgegriffene Stichwort “Familie” in den Mund nehmen, so ähnlich wie sie sich auch bei Rentnern anbiedern. Arrogant gegenüber denjenigen, die gar nicht in einer Familie leben wollen, vielleicht noch nicht einmal einen Partner haben wollen, sondern einfach nur allein leben wollen. Das heißt natürlich nicht unbedingt, dass keinen Kontakt zu anderen Menschen haben wollen.
Wirkliches und komplettes Glück ist wohl dasjenige, über das später, nachdem das erlebnishafte Glück geschehen ist, als Glückserlebnis reflektiert wird. Ich würde Glück gerade als Einheit aus dieser Erlebnis- und Reflexionskomponente definieren. Denn man würde die erste Komponente ja gar nicht ewig wollen. Wenn man die Wahl hätte, würde man aus diesem Zustand trotz seiner Glückshaftigkeit irgendwann heraus wollen. Denn alles, was ewig dauert, wird irgendwann gleichförmig, wird zur Hölle, und sei es am Anfang noch so schön. Und man würde schließlich freiwillig in das reflexive Moment der Glücksreflexion übergehen. Diese Reflexion ist gerade die Befreiung aus der ersten Form des Glückes unter der Prämisse seines nicht einlösbaren Ewigkeitsanspruchs.
Dafür spricht auch, dass das Denken die einzige Tätigkeit ist, die man im Prinzip ohne zu Ermüden machen kann. Selbst im Schlaf und im Traum denken wir noch.
Das wahre Glück ist das komplette Glück aus Erlebnisglück und Reflexionsglück. In der Rückschau des Reflexionsglückes kommt das Glück dann zu seiner wahren Einheit, zu seiner wahren Geltung.
Ohne die Philosophie können wir also unmöglich wirklich und wahrhaftig glücklich sein und werden.
JM
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Literatur
Wenn Ihr Eure Schriften stellen wollt,
wäre es gegenwärtig angebracht,
über die Frage nachzudenken,
warum Ihr Euch
– nicht einfach Autoren nennt.
Irgendwie klingt der Begriff des Schriftstellers hochtrabend. Als ob die Welt nur darauf wartet, dass der Schriftsteller denn nun endlich seine Schriften zur Verfügung stellt. Er lässt sich hernieder und stellt seine Schriften. Ach was müssen wir ihm dankbar sein. Jemand, der im stillen Kämmerlein gesessen hat und nur geschrieben hat – nicht jeder von denen hat wirklich was erlebt oder steht mitten im Leben, manche haben auch nur einen wohlklingenden bekannten Namen – und uns nun seine Schriften stellt. Und es gibt so viele von ihnen. Wenn sie alle so wichtig sind und ihre Schriften stellen, müssen wir sie alle lesen? Wenn doch jeder stellt, ist doch sicher jeder wichtig. Wer sagt mir, was ein richtiger Schriftsteller ist, der würdig seine Schriften stellt, sodass sie wirklich gestellt und nicht nur dahingestellt sind? Wir nennen ja auch nicht jeden, der um etwas bittet, gleich Bittsteller.
Wird es heute angesichts der Literaturflut und Kritikflut in den Feuilletons nicht immer schwieriger, Schriftsteller von Schriftstellern zu unterscheiden? Jeder ist etwas Besonderes, jeder erzählt eine besondere Geschichte, tausende von besonderen Besonderheiten. Wo bleibt bei der Flut von Besonderheiten noch das Besondere? All diese lebenserfahrenen Schrift-Steller stellen ihre Besonderheiten aus. Und auf den Leser strömen diese tausenden Besonderheiten ein und er muss das Besondere am Besonderen erkennen. Und er muss sich anstrengen. An jeder noch so bescheuerten und langweiligen, aber vor vermeintlicher Lebenserfahrung nur so strotzenden Geschichte muss er das Besondere herausfinden.
Interessante Biografien lese ich lieber als konstruierte Romane.
Dabei sage ich mir: Mensch, das ist wirklich passiert! Da musste gar nichts mehr konstruiert werden.
Ist absolut fiktionales Schreiben überhaupt möglich? Oder ist dies nicht auch schon durch die Person bzw. Biografie des Autors, also seine persönliche Realität, verfärbt?
Texte lassen sich als Quellen so akzeptieren, wie sie sind, aber zusätzlich besteht meinerseits als Leser ein Interesse am Autor selbst. Wenn ich einen Roman lese, lese ich sehr schnell auch die Biografie des Autors, weil sie mich einfach brennend interessiert. Oft kommt dabei sogar heraus, dass ich die Biografie interessanter als den Roman selbst finde. Reale Personen und Ereignisse beeindrucken mich stärker als fiktive Figuren und Geschehnisse. Aus dem bekannten Grund: Die Personen haben tatsächlich gelebt und die Ereignisse sind tatsächlich passiert.
Es scheint einen neuen Trend in der Literatur zu geben: Man lese die Biografien zu oder von bestimmten Berühmtheiten und konstruiere daraus einen Roman. Allen diesen Romanen ist eines gemeinsam: Sie gehen anhand von Biografien oder von biografischem Material sehr detailliert auf das Leben der betreffenden Personen ein. Zwischen sehr nah an der Biografie angelehnten Abschnitten, finden sich in den Romanen dann mehr oder weniger fiktional konstruierte Teile, bei denen man den Eindruck hat, dass sie die an der Biografie angelehnten Abschnitte auch miteinander verbinden. Mir geht es als Leser dann oft so, dass ich registriere, aha, da kommt wieder ein biografisches Detail, vermutlich aus einer Biografie. Dann kommt wieder ein bisschen Fiktionales. Dann kommt wieder etwas aus der Biografie, usw. Als Leser, der sich vielleicht selbst ein bisschen mit den betreffenden Biografien auskennt, oder der zumindest ein Gespür für das Biografische hat, fühle ich mich dann in diesem Wechsel manchmal unwohl. Am Anfang fällt es noch kaum auf, aber dann spürt man diesen Wechsel immer öfter bei fortschreitender Lektüre. Hinzu kommt natürlich, dass man die Biografien selbst, als solche, schon sehr interessant findet.
Einerseits finde ich es gut, dass man diese interessanten Personen in einem Roman würdigt oder sie in eine Geschichte einbindet, andererseits finde ich es langweilig, weil ich die biografischen Informationen ja schon mitunter kenne. Erblasst das Fiktionale über das per se schon interessant Biografische nicht gegenüber dem Leben dieser Menschen selbst, um die es geht?
Als Leser sage ich mir oft bei der Lektüre, gut, dann könnte ich ja auch gleich in die Biografie schauen. Als Leser mit Phantasie kann ich mir vieles aus der Biografie auch selbst konstruieren, ich mache mir meine eigenen Gedanken. Aber ich wäre wahrscheinlich sehr vorsichtig, dann auf dieser ohnehin schon interessanten Basis, die auf eigenen Füssen stehen kann, etwas Fiktionales zu konstruieren. Ich denke, hier muss man sehr sehr behutsam vorgehen.
Mir sagte einmal eine sehr von sich überzeugte Autorin, Schriftstellerin nannte sie sich noch nicht – dazu reichte es wohl für sie selbst dann doch noch nicht, dass die Figuren ihres Romans absolute Phantasieprodukte seien und ihr Roman absolut nichts mit ihrem eigenen Leben zu tun hat. Tja, was soll man dazu sagen? Diese Phantasien entstehen doch im realen Leben. Wenn die Autorin morgens aufsteht, die rote Sonne in der Morgenröte sieht, sich anschließend an den Schreibtisch setzt, anfängt zu schreiben, eine neue Fantasyfigur kreiert, die hauptsächlich rot ist, ist das dann nur Zufall? Ich denke, viele Autoren wissen nicht, was in ihrem Unbewussten so abläuft, sie kennen aber auch die Verbindungen ihres Unbewussten zur Realität nicht. Ich habe eine Lösung: Sie wollen es gar nicht wissen. Daraus folgt für mich, dass ich gar keine Lust dazu habe, etwas von solchen Autoren zu lesen. Sie schirmen mich als Leser mit ihrem Geschriebenen von ihrer eigenen Realität ab. Sie wehren sich gegen die Leser, die sich für ihr Privates interessieren und dafür, wie der Autor die Realität, seine Realität, auffasst. Unproblematischer ist es bei Autoren, die philosophische Ansichten über ihre Realität, zumindest in Abschnitten oder Unterabschnitten, in ihren Romanen äußern. Ich mag solche Literatur, wo man auch einmal philosophisch durchatmen kann und nicht nur Fiktionalität schlucken muss.
Ich bin immer skeptisch, wenn mir ein Autor sagen will, sein Text sei rein fiktional. Will er mir damit sagen, dass er sich selbst beim Schreiben ignoriert hat? Mich interessiert immer auch der Autor und seine persönliche Realität. Und dieses Interesse lasse ich mir auch nicht nehmen, noch nicht einmal vom Autor selbst. Er will sein Werk als rein fiktionales Werk – sprich im Klartext: als großen Roman – verstanden wissen. Zumindest erhofft er sich, dass es ein großer Roman ist oder vielmehr wird. Und er muss vielleicht deshalb die Fiktionalität seines Romans so betonen. Biografien kann man dann später schreiben, wenn sich die Romane verkauft haben. Hinterher ist der Autor dann auch eher zu dem einen oder anderen Zugeständnis bereit, was die Beziehung zwischen den Inhalten seiner Romane und seinem eigenen Leben angeht.
Die beiden Hauptquellen der Literatur sind das Reale und das Fiktionale. Das Fiktionale ist zugegebenermaßen das originäre Feld literarischer Gestaltung und der Kreativität des Autors sind keine Grenzen gesetzt. Hier lässt sich Sprache gezielt einsetzen, um eine bestimmte Wirkung zu entfalten. Hier lässt sich mit Sprache spielen.
Aber Literatur, bei der das Reale im Vordergrund steht, zum Beispiel Romane, die am tatsächlichen Leben des Autors orientiert sind, und bei dem es dem Autor darum geht, das Erlebte möglichst natur- und originalgetreu zu schildern, lebt davon, dass sie das Reale (Gegebene, Erlebte, Phänomenologische) auch tatsächlich erlebnis- und gedankengetreu (bzgl. der Erlebnisse und Gedanken in der Situation, die beschrieben wird) wiedergibt. Hier lässt sich mit Sprache nicht beliebig spielen, hier geht es darum, eine Situation in ihrem Stream of Consciousness adäquat wiederzugeben.
Bei der Romanflut, die es heute auf dem Markt gibt, wird nur eine geringe Anzahl dieser Romane auf realen Erlebnissen basieren. Ich glaube, die heutige Zeit unterliegt der Gefahr, das Literarische mit dem Fiktionalen gleichzusetzen. Mir geht es heute beim Lesen vieler Romane so, dass ich den Eindruck habe, hier wird perfektionistisch und dreifach durchgekaut – natürlich fiktional – seitens des Autors eine Geschichte vorexerziert. Oft werden da schräge Typen beschrieben, extreme Typen, wie sie schräger nicht sein können, treffen aufeinander und es gibt das Chaos, aus dem uns der Autor dann den Weg weist. Was weiß ich, eine Künstlerin und ein Rechtsanwalt in einer komplizierten Beziehung auf 500 Seiten. Auf meinen Einwand, dass mich die Personen des Romans langweilen, sagte ein Bekannter: Tja, da musst Du durch, so ist halt unsere Gesellschaft, hier wird unsere Gesellschaft beschrieben. Ich muss also einen 500-Seiten-Roman mit Figuren, die mich langweilen, lesen, nur um etwas über den Zustand unserer Gesellschaft zu erfahren, was ich ohnehin schon aus den Medien weiß?
Die Kommerzialisierung von Literatur (Romanflut etc.) geht mit dem einseitigen Verständnis von Literatur als rein fiktionaler Literatur einher. Fiktionale Literatur lässt sich quasi unendlich produzieren. Was für den realen Markt gilt, nämlich die Anpreisung quasi unendlich vieler Produkte, die die angeblich vorhandenen Bedürfnisse befriedigen sollen, gilt auch für den modernen kommerzialisierten Literaturbetrieb. Hier soll es unendlich viele Lesebedürfnisse geben, denen die entsprechenden Produkte (Romane) gerecht werden sollen.
Dies funktioniert aber nur bei einem Verständnis von Literatur, bei dem einseitig das Schwergewicht auf das Fiktionale gelegt wird. Dieselben Mechanismen, die den Markt als Ganzes bestimmen, bestimmen auch den modernen Literaturmarkt. Der Leser wird entmündigt: Schau, Dir fehlt etwas in Deinem grauen Bürgeralltagsleben, lies die Bücher des Autors XY und Du wirst glücklich. Aber ein Buch reicht nicht, lies alle; ein Autor reicht nicht, lies alle. So werden heute Marktinteressen befriedigt. Was in den Büchern steht, was der Autor geschrieben hat, kannst Du in Deinem ärmlichen Leben gar nicht erlebt haben. Die Alltagswelt ist grau, flüchte Dich in fiktionale Welten und Du wirst glücklich.
Und nun versteht man auch, warum Literatur mit dem Realen als Quelle out und Literatur mit dem Fiktionalen als Quelle in ist. Und wir unterliegen offensichtlich unbewusst diesen Mechanismen und setzen Literatur generell mit fiktionaler Literatur gleich. So wie unser Konsum im Alltag generell durch und durch organisiert ist (oder organisiert sein will, etwa durch Werbung, die das suggeriert), ist auch unser Literaturkonsum durchorganisiert. So wie es neue Produkte (angeblich notwendig und ohne die man nicht glücklich werden kann) gibt, gibt es auch neue Romane (der neue Roman des bekannten Autors XY). Und die Konsumspirale lebt von selbst.
Und nun versteht man auch, warum Autoren nichts von ihrem realen Leben erzählen oder schreiben. Weil dann die Quelle und damit die Selbstläuferspirale aus neuer fiktionaler Literatur und dem entsprechenden Literaturkonsum versiegen würde. Die Konsumenten würden sagen: Aber so ist der Autor ja wirklich, das steckt also dahinter, immer dieselbe Geschichte und nicht viele, wie uns der Autor weiß machen will. Und da wundert es wiederum nicht, warum viele Autoren um ihr Privatleben ein Geheimnis machen, nämlich nicht nur um des Privaten willen.
Steht ein Bestseller deshalb ganz oben auf der Bestsellerliste, weil bei seinen Lesern ein wirkliches Lesebedürfnis erfüllt wird? Oder ist es nicht eher so, dass er gekauft wird, weil er oben steht, bekannt ist und das Bekannte halt gekauft wird? Sonst könnte es ja nicht gekauft werden, allenfalls zufällig. Und ganz zufälligerweise findet der Bestellerleser dann das Gelesene, das viele andere Bestsellerleser auch gut finden, ebenfalls gut. Und letztlich ist es dann auch gut. Harry Potter muss also gut sein. Punkt.
Das Nichtlesen von Büchern tut manchmal richtig gut. Es bleibt Zeit für eigene Reflexionen. Oder es bleibt auch mal Zeit für nichts.
Ich weiß für mich, dass es viel Literatur gibt, die ich nicht mag und ich frage mich, warum sich gerade diese Literatur so exzessiv verkauft. Und letztlich frage ich mich dann, warum ich selbst viel Literatur kritisch sehe und andere überhaupt nicht, nämlich die vielen Leser dieser Literatur.
Ist es wichtiger zu wissen, was man mag, als zu wissen, was man nicht mag? Zum Beispiel weiß ich meist, was ich nicht lesen will, und habe dadurch mehr Zeit für andere Dinge, zum Beispiel für Bücher, die ich lesen will. Da ich mir aber oft unsicher bin, unsicher sein muss, welche der vielen neuen Romane denn aktuell nun wirklich lesenswert sind, weil man sie unmöglich alle lesen kann, spielt dieses Nichtlesenwollen oft eine größere Rolle als das Lesenwollen. Denn es gibt ja noch gar kein Kriterium dafür, warum ich denn nun diesen neuen Roman unbedingt lesen will oder lesen sollte. Wenn ich aber weiß, dass es ein Autor ist, der mich früher schon langweilte, werde ich eher zu einem anderen Buch greifen. Die Erfahrung und die Gesetze der Wahrscheinlichkeit sind ein Auswahlkriterium bei diesem Prozess.
Fakten interessieren mich in psychologischer und soziologischer Hinsicht schon, zum Beispiel Bestsellerlisten, die nun einmal, weiß der Teufel warum, in der Welt sind. Und die Frage, warum Millionen Menschen dieselben Bücher kaufen und warum gerade diese.
Sollten sich also die Autoren, die auf Bestsellerlisten stehen, berufen fühlen? Wer hilft ihnen bei diesem Sich-berufen-Fühlen? Nicht doch der Markt und seine Mechanismen?
Warum gibt es so viele Menschen, die einen bestimmten Geschmack haben, zum Beispiel eine unstillbare Leselust nach Harry-Potter-Romanen? So vielfältig, wie die Welt zu sein scheint, ist sie dann wohl doch nicht.
Die Auswahl von Literatur findet oft unter der Prämisse von Bestsellerlisten statt, beziehungsweise nach dem, was in Buchhandlungen halt auffällig arrangiert ausliegt. Wenn sich jemand für ein Thema interessiert, wird er Informationen einholen und gezielter lesen. Ich behaupte, dass diese zweite Gruppe gegenüber der ersten in der Minderheit ist und ich frage mich, warum das so ist.
Wie sollte für einen potenziellen Leser ein Vorgehen nach der Trial-and-Error-Methode angesichts der heutigen Romanflut überhaupt möglich sein?
Ich las kürzlich einen Roman, der mir von einem Bekannten empfohlen wurde. Mit einer gewissen Pflicht las ich ihn, las ich ihn weiter, auch wenn er mich langweilte. Nach 100 Seiten kam eine Seite, bei der ich plötzlich 100% dabei war. Es ging um eine philosophische Reflexion über den Tod.
Beim nächsten Mal frage ich mich, ob ich wegen eines singulären Ereignisses in einem dicken Roman wieder einen dicken Roman lesen soll, der mich auf 100 Seiten oder mehr langweilt, und ob ich nicht eher eigene Reflexionen über den Tod anstellen soll oder gezielt nach Literatur über den Tod suchen soll. Und so geht es mir mit vielen Büchern. Die Dinge, die mich interessieren, habe ich vorher schon im Kopf, interessieren mich per se irgendwo philosophisch. Es sind die wesentlichen Dinge. Ich brauche nicht immer eine komplizierte Geschichte X in einem Beziehungsgefüge mit Person Y und Z, um mir über Dinge des Lebens Gedanken zu machen. Und dann gibt es Autoren, die überhaupt nicht philosophisch reflektieren können und lediglich in diesem Beziehungskram verharren. Und es langweilt mich einfach.
Nur etwa jeden 10. Roman, den ich lese, finde ich auch wirklich gut. Und das ist alles Zeit, die für gute philosophische Literatur flöten geht. Am schlimmsten ist es, wenn ich ein interessantes philosophisches Werk lese und zeitgleich einen langweiligen Roman. Nicht auszuhalten ist dieser Gegensatz. Deshalb mag ich Romane mit philosophischen Einschlägen, da gibt es Raum zum philosophischen Durchatmen.
Das Motto des unbekannten und verkannten Autors muss lauten: Ich schreibe etwas, was eigentlich alle wünschen, aber was noch nicht auf dem Markt ist.
Ich könnte mir vorstellen, das dies eine Schreib-Wunschvorstellung noch nicht bekannter Autoren beziehungsweise Möchtegern-Schriftsteller ist, die bekannter werden wollen und sich den großen Abstand zum großen Literaturmarkt nicht eingestehen wollen.
Ich bestreite, dass vor dem Auftauchen des ersten Harry-Potter-Romans eine Lese-Wunschvorstellung von Millionen von Menschen – den künftigen Harry-Potter-Lesern – vorlag (“Das wollten Wir alle immer schon lesen!”).
Im Prinzip habe ich nichts gegen Harry Potter, ich wundere mich nur über diese Hysterie, die selbst Erwachsene befällt. Ich finde, dass Harry-Potter-Romane ihren Platz haben, aber irgendwo als Buch für Jugendliche einer bestimmten Altersgruppe.
Vielleicht ist unsere Gesellschaft so vom Bildhaften reizüberflutet, dass sie des Bildhaften bedarf, um nur ansatzweise zu Reflexionen zu gelangen. Und dies spiegelt ein trauriges Bild unserer Gesellschaft wieder. Selbst in der Literatur muss also das Bildhafte und die Bildersprache dominant sein, damit Leute überhaupt zum Lesen kommen. Wie traurig. Die Harry-Potter-Filme bestätigen eigentlich meinen Eindruck, dort zeigt die unterschwellige Bilddominanz ja dann wieder ihr wahres Gesicht, auf mich wirken sie jedenfalls reizüberflutend, die Möglichkeiten von Software werden hier im Übermaß ausgenutzt. Philosophische Reflexion gibt es immer nur ansatzweise, letztlich siegen wieder die Bilder. Und wenn man durch ein Bild zum Nachdenken angeregt wird, kommt gleich wieder das nächste. Ja nicht abstrakt reflexiv denken. Aber wirkliche Reflexion geht über das Bildhafte hinaus.
Das “Interesse” der Massen an Harry-Potter-Romanen könnte doch nur eine Bestätigung dafür sein, dass die Menschen das Bildhafte ihrer medialen Umgebung (Fernsehen, Filme, etc.) nun in Büchern bestätigt sehen oder es unbewusst bestätigt wissen wollen. Das Bildhafte, nicht wirklich Reflexive, wird für sakrosankt erklärt. Diese Bilderwelt der äußeren Sinnesreize ist also wirklich, und wo man in der Bilderwelt des Fernsehens und der Filme vor lauter Sehen eigentlich keine Zeit zum Nachdenken über diese Bilder hat, kann man nun wenigstens ansatzweise, durch das Lesen von Harry-Potter-Romanen, über Bilder, die auf einen einwirken, nachdenken. Aber ist dieses ansatzweise Nachdenken, dieses ansatzweise Denken nach den Bildern, wirkliche Reflexion? – Von philosophischer Reflexion, die sich irgendwann einmal notwendig, wenn sie als solche authentisch sein soll, von Bildern und dem Bildhaften verabschieden muss, ganz zu schweigen.
Aber davon ab: Ich gönne der Autorin von Harry Potter ihren Erfolg.
Woran leidet die moderne Literatur? An Germanisten, die sich zum Romanschreiben berufen fühlen? Solchen, die zum Beispiel in perfektionistischer Manier antike Mythen auf eine moderne Handlung in Paris oder Berlin übertragen und sich intellektuell auskotzen und ihre akademische und feuilletonistische Gebildetheit heraushängen lassen? (Und mich nebenbei damit zu Tode langweilen und quälen – weil, zu weit weg vom Leben, aber auch von wirklicher Reflexion, da zu schablonenhaft).
Wir streben durch Reflexion, auch wenn sie aussichtlos ist, auch wenn sie endlos und unendlich ist, danach, uns dem Geheimnis zu nähern. Das ist Philosophie. Ich denke, die Philosophie muss im Verhältnis zur Literatur stark gemacht werden. Der Wert der Philosophie ist im Vergleich zu Romanen und zur Literatur insgesamt in den Medien und in der Öffentlichkeit unterrepräsentiert. Allenfalls führt das Philosophische in wenigen Romanen ein Nischendasein. Die große Masse der Romane ist Beziehungskramselbstgeilheit.
Sind Beziehungen (und damit auch Kompromisse in Zweisamkeit, Dreisamkeit, …) wichtiger als philosophische Reflexionen (in kompromissloser Einsamkeit)?
Ich finde, es sollte ein gesundes Maß geben. Ich denke, dass in den meisten Romanen lediglich zum Ausdruck kommt, dass Beziehungen wichtig sind und unser Leben ausmachen (ausmachen sollen). Das Element der Einsamkeit und der philosophischen Reflexion kommt mir in vielen, vielen Romanen viel, viel zu kurz.
Ich konstatiere einen Mangel an Philosophischem in der modernen Literatur und den Büchern der Bestsellerlisten, was ich schade finde, da ich meine, dass das Philosophische ein wichtiges Gut ist, auch für Literatur. Das Leben an sich mit all seinen Beziehungswelten schätze ich, aber ich denke, dass es jenseits dieser Dinge auch noch die berechtigte reflexive Welt des Philosophischen gibt. Und die kommt mir in moderner Literatur zu kurz. Und ich denke, dass der Literaturkonsum mit den Bestsellerlisten einen Spiegel unserer Gesellschaft darstellt, in der das Philosophische out zu sein scheint. Es ist ja auch dasjenige, das hinterfragt, zum Beispiel den Konsum von etwas. Und das stört die etablierten Kräfte des Marktes nur.
In der Existenzialität meines Lebens hat das phänomenologische Denken seinen festen Platz. So wie mein Auge sieht, nimmt das sinnesnahe Denken das Gesehene präreflexiv und schließlich reflexiv wahr.
Mir begegnen auf der Straße in meinem Alltag ständig Menschen, die auf den ersten Blick einfach erscheinen, aber wo eine große Erkenntnistiefe festzustellen ist. Solche Menschen müssen wir zu einer Literatur führen, die ihrer Erkenntnistiefe gerecht wird, nämlich zu einer philosophisch gehaltvollen Literatur. Es wäre schade, wenn solche Menschen durch Marketingmenschen bei Harry Potter stehen blieben und etwas Anderes erst gar nicht in die Hand nehmen.
Ist Harry Potter ein Fluch oder ein Segen? Ich weiß es nicht. Ein Fluch ist er, wenn Harry Potter der Maßstab von Literatur für den modernen, durch die elektronischen Medien beeinflussten jungen Menschen überhaupt ist. Und sich dieser dann mit anderer, nicht an für ihn an Harry Potter herankommender Literatur nicht mehr auseinandersetzt.
Das Lesen erschöpft sich nicht in der Konstruktion von Szenerien, von Bildern und Symbolen, sondern es ist von zeitgleicher Reflexion begleitet. Unsere Gesellschaft hat einen Draht zu Bildern, auch zu der Symbolik in Bildern, aber sie gibt sich oft mit dem Bildhaften und Symbolhaften zufrieden, und die Reflexion über diese Bilder unterlässt bzw. vernachlässigt sie. Vielleicht wissen viele Menschen ja noch nicht einmal, welche philosophischen Adern sie haben. Stattdessen verharren sie im Äußerlichen, Bildhaften, Symbolischen, Beziehungsmäßigen und Kompromittierenden.
Es müsste wohl jeder ein guter Schriftsteller sein, der aus seiner Perspektive einfach nur das wiedergibt, was er erlebt. Wir müssten es akzeptieren, er beschreibt ja nur seine Erlebniswelt, welche Kritik sollten wir üben? Auch wenn er einen begrenzten Wahrnehmungshorizont hat, auch wenn er einen begrenzten geistigen Horizont hat, wir haben zu akzeptieren, dass er ein guter Schriftsteller ist, weil er das getreu wiedergibt, was er erlebt hat oder fiktional konstruiert hat, um das Erlebte aufzufüllen oder umgekehrt das Konstruierte und Fiktionale durch Erlebtes anzureichern.
Vielleicht besteht heute das Problem, dass jeder als ein guter Autor gelten kann. Man braucht nur die Zeitungen aufzuschlagen, einschlägige Tages- und Wochenzeitungen. Jeder ist ein guter Schriftsteller. Wieder gibt es einen neuen, wieder ein neuer und großer Roman, und sofort. Der Literaturmarkt lebt davon, auch die Kritiker. Und ich frage mich oft, was denn nun neuer ist als das Neue, das in der letzten Woche angepriesen wurde oder in der Woche zuvor.
Und ich denke, da gibt es Autoren, die so von sich überzeugt sind, weil sie die oben genannten Fähigkeiten haben. Und sie haben Erfolg oder nicht, unabhängig davon gehen sie mit dem Kopf durch die Wand, genauso wie sie ihre Bücher aus ihrer fiktional-realen Erlebniswelt heraus schreiben. Als Leser kann man sich dieser Welt nur unterwerfen, man ist ihr ausgeliefert. Das will der Autor: Seht her, was ich hier an skurrilen Dingen schildere, eine Welt für sich, die in sich abgeschlossen ist.
Wo bleibt da die Reflexion? Wo wird da der Leser einbezogen? Ich persönlich bevorzuge Literatur, bei der ich reflexiv einbezogen bin, bei der ich mir auch eigene Gedanken machen kann. Bei der der Autor dem Leser auch die Möglichkeit gibt, reflexiv einbezogen zu sein. Es ist für mich als Leser befriedigender als nur passiv einer skurrilen Geschichte aus dem Horizont des Autors ausgeliefert zu sein.
Wir haben also offenbar nicht das Problem, dass es zu wenig gute Autoren gibt, sondern zu viele. Wobei “gut” aber so definiert ist, dass eher Deskriptivität als Reflexivität ein Bewertungskriterium ist. Und ich denke, dass unsere bildlastige Konsumwelt ein Grund dafür ist, warum das so ist.
Würden wir die lang verschachtelten Sätze eines Thomas Mann heute überhaupt noch aushalten? In den fünfziger Jahren, als es gerade mal das Radio gab, kaum Fernsehen und schon gar kein Internet, schon eher, denke ich. Und nun schaue man sich einmal einen Roman von Thomas Mann an, man nehme den Zauberberg. Wie man dort als Leser reflexiv einbezogen wird. Welche philosophischen Gedanken man sich über die Zeit machen kann. Und dann nehme man im Vergleich dazu einen modernen Roman aus einer beschränkten Ich-Perspektive (die zuweilen auch mit der Beschränktheit des Autors selbst zusammenhängen mag), in der einfach nur eine bildüberflutete Geschichte erzählt wird, skurril, mit chaotischen Figuren, wo der ganze Roman nur von diesem Chaos getragen wird, hinter dem eher ein Pseudosystem denn ein System steckt. Bei dem ich als Leser gar nicht die Möglichkeit habe, mitzumachen. Es ist wie passives Fernsehgucken: apathisch, teilnahmslos, unreflexiv.
Welche Kritik sollte einen so gestrickten Autor also treffen? Sie kann doch nur aus der Realität kommen, die er beschreibt. Und die ist halt oft die, in der er sich selbst als Autor befindet. Wenn Kritik nicht möglich ist, so ist es doch ganz schön, dass die Realität des Autors dem Autor selbst Grenzen setzen kann.
JM
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Ein Meister der Dingmystik war Rilke. Er verlor sich ganz in den Dingen, wurde mit ihnen eins. Dies ging so weit, dass er sich in den Dingen wiederfand.
Aber nicht nur das, auch die Dinge fanden sich in ihm. Sie beginnen durch den Dichter zu sprechen. Der Dichter macht sich zum Sprachrohr der Dinge und verhilft ihnen so aus ihrer Passivität heraus, vollendet sie in ihrem ganzen Dingsein. In der Einheit von Dichter und Ding, Dichtung und Angedichtetem, Schweiger und Angeschwiegenem, findet sich oft die Ahnung des Todes. In Worten und zu Lebzeiten lässt sich diese Einheit nämlich nie ganz verwirklichen, auch nicht in den Worten des Dichters. Auch diese Trauer der unerreichbaren Einheit kommt in Gedichten, speziell in denen Rilkes, ständig zum Ausdruck. Der Tod ist ein Kulminationspunkt dieser unverwirklichten Einheit, er ist zugleich die Hoffnung auf diese Einheit.
JM
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Kunst
Spiegelt der Massenkonsum von Kunstwerken, die gemeinhin als “schön” eingestuft werden, nicht auch Klischeevorstellungen von Schönheit wieder? Ein berühmtes Beispiel für ein solches Kunstwerk wäre das Monalisabild von Leonardo da Vinci. Hier findet sich der bekannte anmutige Blick einer schönen Frau. Wobei Frauen ja eher schön sind als Männer. Wäre ein männliches Analogon zum Monalisabild überhaupt vorstellbar?
Es gibt ein Selbstportrait von Albrecht Dürer, das ihn als jungen Mann zeigt. Der Bekanntheitsgrad dieses Bildes reicht bei weitem nicht an den des Monalisabildes heran. – Warum ist das so?
Spiegeln unsere etablierten Empfindungen des Schönen nicht unsere kulturellen Prägungen wieder? Und nun sind wir offenbar soweit, dass wir uns Monumenten der Schönheit, wie etwa derjenigen des Kunstwerkes Monalisa, unterwerfen. Und dies empfinde ich – als kitschig. Und nicht nur die schlechten Kopien dieses Bildes. Die kulturelle Prägung unserer Empfindungen des Schönen wird übersehen. Dass dieses Bild vielleicht auf eine objektive Art und Weise schön ist, zum Beispiel aufgrund gewisser Symmetrieeigenschaften, interessiert die Menschen als Kunstkonsumenten wahrscheinlich überhaupt nicht mehr. – Das Monalisabild ist schön. Punkt. Warum stehen im Louvre in Paris, wo das Bild hängt, die meisten Menschen vor dem Monalisabild? – Weil es schön ist oder weil es berühmt ist? Oder ist alles Berühmte und vermeintlich Schöne in der Kunst sowieso schön? Oder ist es berühmt, weil es wirklich schön ist? Oder wurde es seit Jahrhunderten gut vermarktet, sagte man also in der Kunstwelt und ihren Märkten, dass etwas schön sei, damit es berühmt wird?
Zeigt sich an der Tatsache, dass bekannte Kunstwerke – das Monalisabild ist wohl das Beispiel par excellence für ein Kunstportrait – oft kopiert werden, nicht auch die Kitschpotenzialität des Kunstwerkes selbst? Muss die Einstufung als Kitsch also notwendig nur für Kopien bzw. schlechte Kopien eines Kunstwerkes gelten? Oder muss man nicht den Mut haben, auch Kunstwerke selbst als Kitsch einzustufen, vor allem solche, die massenhaft kopiert werden? Gut, dass wäre für das Bild von Leonardo vielleicht wirklich eine überzogene Forderung. Leonardo war wirklich ein großer Künstler, nicht nur das, er war auch Techniker und Wissenschaftler, ein wahres Universalgenie. Nicht umsonst nennt man ihn “den großen Leonardo“. Aber ist dann nicht auch alles, was er geschaffen hat, grundsätzlich Kunst? Diese Grundsätzlichkeit würde man weniger bekannten Künstlern, wenn sie dieselben Werke geschaffen hätten, nicht ohne weiteres zugestehen. Es wären Beispiele von anderen, weniger bekannten Künstlern denkbar, die wir als Kitsch bezeichnen würden, wenn wir vermuteten, dass sie gar nicht von ihnen selbst stammen, sondern kopiert sind. Oder wenn wir nicht wüssten, dass es sich überhaupt um Künstler handelt.
Und muss dann ein Kunstwerk nicht wieder ein Stück weit vom Sockel gehoben werden? Und sind dann die ägyptischen Pyramiden nicht eher Kunstwerke, da sie nicht in dem Maße kopiert werden können, in den Ausmaßen schon gar nicht? Warum bezeichnen wir also gerade das Kleine, das kopiert werden kann, als Kunst, und nicht das Große? Weil es von einem Künstler stammt und nicht von vielen?
JM
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Theater
Es ist heute kaum noch möglich, sich ein klassisches Werk in seiner Ursprünglichkeit anzuschauen.
Stattdessen gibt es immer nur moderne Neuinterpretationen. Da muss der neue Intendant mit einer neuen Neuinszenierung auf sich aufmerksam machen. Und man ist jedes mal enttäuscht, wenn man in die Oper oder ins Theater geht und gern eine klassische Aufführung mit historischem Zeitgeist und Bühnenbild sehen will und stattdessen nur weiße Wände mit modern gekleideten Schauspielern zu sehen bekommt, die einem über die Hintertür mit dem moralischen Zeigefinger des Intendanten daherkommen. Das kann einem heute in der Tat die Lust an der Oper und am Theater vergraulen. Also nicht die Tatsache, dass die Oper oder das Theater aufgrund ihres historischen Gewichtes und ihrer Tradition versteinern und ergrauen, sondern dass sie ständig modern interpretiert werden müssen. Das könnte auch ein Grund dafür sein, warum immer weniger Menschen in die Oper oder ins Theater gehen. Sie wollen Geschichte und Tradition, aber sie bekommen ungewollt und ungefragt immer nur Modernität.
JM
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Romantik
Ich mag eine romantische Ader haben. Ich nehme einen großen Zusammenhang in der Natur einfach einmal an. Wenn man daran erinnert wird, dass ein inneres Gefühl einer äußeren Struktur in der Natur ähnelt, ist es doch eher ein Beweis dafür, dass es so etwas wie eine übergeordnete Harmonie zwischen der Natur und dem Innenleben des Menschen gibt. Die Natur macht doch objektiv gesehen etwas mit diesem Menschen, sie wirkt auf ihn ein und dieser Mensch hat dann ein Gefühl.
Romantiker suchen tatsächlich Trost in der Natur, aber sie finden ihn nicht allein deshalb, weil sie ihn dort gesucht haben. Die Natur tut das tatsächlich mit ihnen. Wenn die Natur die beste aller möglichen Naturen ist, sollten in ihr Schönheit und Harmonie immanent sein, und es sollte dann auch den großen Zusammenhang geben. In der mystischen Schau mag sich der Mensch tatsächlich in die Gottnatur hineinzuversetzen.
JM
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Aufstieg
Der Aufstieg erfolgte an der Ostküste, allein.
Es wurde kälter, Nebel zog auf. Der Berg war noch kurz zu sehen. Dann lichtete sich der Nebel. Der Nebel kroch an den Berghängen aufwärts, als ob die Natur, als ob Gott selbst Dir den Vorhang öffnen will.
Ich war schließlich ganz oben, da verzog sich der Nebel plötzlich ganz. Ich hatte plötzlich die Steilküste des Westteils unter mir. Unter mir waren 500 m Wand. Ich hielt mich an einem Felsen fest. Vielleicht weil ich in Versuchung war, mich herunterzustürzen und diesen Augenblick Ewigkeit werden lassen wollte. Ich habe in meinem Leben noch nie einen so atemberaubenden Anblick erlebt. Man muss sich das vorstellen. Diese Brandung, wie sie an die Felsküste donnert. Und Du hörst diese Brandung noch auf 900 m donnern. In einem göttlichen Rhythmus, der Dich die Weite des Atlantiks ahnen lässt. Du kannst Dich in diese Weite fallen lassen und Du fühlst Dich geborgen, Du ahnst die Größe des Universums und denkst Dir: Es kann gar nicht anders sein. Ich war Teil des Geschehens.
Unter mir, einsam ein Haus, um das sich so manche Geschichten ranken.
Ich ging einen steilen Weg zum Strand herunter. Auf dem Weg dachte ich mir, dass das Geheimnis der Existenz des Menschen und der Welt sich in der Begegnung des Menschen mit der Natur zeigt. Die Seele scheint sich beim Anblick des Meeres in der Unendlichkeit aufzulösen und die Fragen nach der Endlichkeit des eigenen Lebens, der Zufälligkeit der eigenen Existenz und dem Rätsel, warum überhaupt etwas existiert, erwachen im Menschen. Warum stehe ich auf diesem Planeten und nicht auf einem anderen in einer Millionen von Lichtjahren fernen Galaxie? Wäre ich statt hier dort, so wäre dieses Hier sehr fern für mich.
Und ich schaute am Strand in die Augen eines Menschen und sah das Nichts. Und ich wusste: Nach dem Tod kommt nichts. Und ich weinte.
Dann dachte ich wieder: Äonen hast du gelebt, Äonen wirst Du noch leben.
JM
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Individualität
Warum ist Coolness heute so in? Weil die Menschen damit mangelnde Individualität überdecken können? Warum haben sie wenig Individualität? Weil viele von Natur aus zunächst einmal schwach sind und weil alles Mögliche auf sie einströmt, weil sie im wahrsten Sinne des Wortes reizüberflutet werden. So eine Art Abwehrreaktion findet da statt. Viel Input und wenig Output. Die Medien tragen ihr Ihriges dazu bei. Schwache Individuen lassen sich in Ihrem Konsumverhalten besser steuern. Bedürfnisse werden erzeugt, die eigentlich überflüssig sind. Aber wenn es von sehr vielen konsumiert wird, ist es trendy, und wenn es trendy ist, ist es wichtig.Es wird oft gesagt: Jeder Mensch ist einmalig auf der Welt; jeder ist ein einmaliges Individuum. Darin liegt sicher viel Wahrheit. Jeder ist wirklich einmalig und unterscheidet sich auf irgendeine Weise vom Anderen.
Wenn man jedoch bestimmte gesellschaftliche Modeerscheinungen betrachtet, die das einzelne Individuum sehr stark bestimmen, fragt man sich, ob dieser Satz wirklich immer so konsequent gilt. Diese gesellschaftlichen Erscheinungen bewirken doch gerade, dass sich Menschen immer ähnlicher werden, sei es in Bezug auf Aussehen, Geschmack, Musik- oder Medienkonsum. Manchmal hat man den Eindruck, dass sich bestimmte Menschen gar nicht so gravierend voneinander unterscheiden: Sie sind sich nun einmal sehr ähnlich in puncto Aussehen, Geschmack, Musikhören, etc. In mir erzeugt dies manchmal Angst und Abneigung, dass sich die Menschen so stark ähneln, da ich gleichzeitig diese große Masse vor Augen habe und in den Modeerscheinungen eine Willkürlichkeit sehe. Ich hätte es lieber, wenn mir die Menschen auch als wirklich einmalige Individuen gegenüberstünden. Manche tun dies in der Tat, aber sehr viele auch nicht, und ich frage mich dann, wo denn eigentlich der große Unterschied zwischen diesem und jenem ist? Letztere wirken auf mich nur in der Weise, dass sie irgendwelchen Modeerscheinungen anhängen, die sehr viele Andere auch bestimmen. Meine Frage ist nun folgende: Was ist das Ausschlaggebende, das einen Menschen zu einem einmaligen Individuum macht?
JM
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Architektur
Früher gab es eine Einheit von Wissenschaft und Kunst. Der Künstler brachte das Weltbild der Epoche zum Ausdruck. Bei den Griechen ist diese Einheit von Wissenschaft, Kunst und Philosophie deutlich sichtbar. Auch in der Architektur vergangener Epochen zeigt sich der Bezug zu einem Weltbild, wie am Beispiel der Gotik und des Christentums ersichtlich ist. Heute ist der Bezug der Architektur zu einem Weltbild nicht erkennbar, es dominiert reine Funktionalität.
JM
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Freiheit
Die gesellschaftlichen Verhältnisse sind offenbar derart, dass die Frage nach einem freien Willen nicht zu allen gesellschaftlichen Schichten vordringt. Eigentlich hätte man nach der Aufklärung etwas anderes erwartet. Das bedeutet doch offensichtlich, dass das Projekt der Aufklärung entweder gescheitert oder noch nicht an sein Ende angelangt ist.
Welche Auswirkungen gäbe es auf die heutigen gesellschaftlichen Verhältnisse, könnte ein freier Wille bewiesen oder widerlegt werden? Vorausgesetzt dieser Beweis oder Gegenbeweis würde zu allen gesellschaftlichen Schichten vordringen.
Ist es nicht gerade die Stärke des Kapitalismus, dass er gegen diese Frage immun ist? Ob die vielen Konsumenten nun einen freien Willen haben oder nicht, kann ihm doch egal sein, insofern seine Produkte auch tatsächlich gekauft werden. Das Angebot an Produkten ist überwältigend groß, und muss es im Sinne des Kapitalismus auch sein. Dies ist ja die Philosophie des Kapitalismus: Befriedigte Bedürfnisse stehen dem Kapitalismus diametral entgegen, es muss immer neue Produkte, Bedürfnisse und Bedürfnisbefriedigungen geben. Was macht es bei diesen vielen, gleich guten Produkten (jeder Hersteller produziert ständig gleich gute, nur in seinen Worten “bessere” Produkte) für einen Unterschied, ob der Konsument aus freiem Entschluss ein Produkt kauft oder aufgrund äußerer Determination? Die Werbung des Herstellers soll ihn ja gerade determinieren, er soll gefälligst das Produkt kaufen. Der Hersteller will ja nicht an den freien Willen des Konsumenten appellieren und ihn wegen seiner eigenen freien Entscheidung, die eine Folge seines freien Willens ist, zum Kauf animieren. Aus Sicht des Kapitalismus könnte die Welt also wunderbar deterministisch eingerichtet sein. Eigentlich braucht der Kapitalismus den freien Willen nur für seine eigenen Führungskräfte, für die Ideen zu neuen Produkten und Bedürfnissen. Aber was ist dies für ein freier Wille, der ständig neue überflüssige Produkte und Bedürfnisse erzeugt? Diese neuen Produkte sollen schlussendlich gekauft werden, und da spielt es keine Rolle, ob der Käufer selbst einen freien Willen hat oder nicht. Was nützte auch ein freier Wille ohne die Möglichkeit des Genusses? Und der Genuss, v. a. der blinde, wird seitens des Kapitalismus tagtäglich propagiert.
Bedeutet ein freier Wille nicht auch die Möglichkeit des Verzichts? Verzicht ist jedoch für den Kapitalismus ein Fremdwort. Deshalb ließe sich durchaus die Hypothese aufstellen, dass ein Beweis der Existenz des freien Willens und seine Verbreitung in allen gesellschaftlichen Schichten mit dem Niedergang des Kapitalismus einhergehen würde. Aber hiermit sind wir wieder im gewissen Sinne so weit, wie zu Beginn der Aufklärung. Und nichts spricht dagegen, dass weitere 200 Jahre ins Land ziehen.
Ein Beweis der Nichtexistenz eines freien Willens würde allerdings zu der Frage führen, ob man diese bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse weiterhin in ihrer vollen Determination so haben “will” oder nicht. Oder ob man zumindest deterministisch irgendwie das deterministische Geschehen beeinflussen kann, um wenigstens in diesem ganzen Geschehen nicht leiden zu müssen. Denn Leiden gibt es offensichtlich, freier Wille hin oder her. Auch das Leid des Kapitalisten. Nun stellt sich ganz unabhängig von der Frage, freier Wille ja oder nein, auch die Dummheit des Kapitalisten heraus, die zu seinem eigenen Leid geführt hat. Er hat für sein eigenes egoistisch bedingtes, unternehmensberaterisch optimiertes Leid gesorgt, indem er die Kaufkraft der wenigen Konsumenten, die bei ihm in Lohn und Brot stehen, auf Kosten eigenen Profitinteresses niedrig gehalten hat. Diese Konsumenten sind aber nicht nur die Konsumenten seiner eigenen, sondern auch die der Produkte anderer Produzenten. Von Arbeitslosen und der Nichtexistenz von Mindestlöhnen ganz zu schweigen. Erübrigt sich da nicht die Frage, warum denn niemand seine Produkte kauft?
Nun greift der Staat ein, um gegen das Leid von Konsument und Kapitalist vorzugehen. Ob mit freiem Willen oder determiniert sei einmal dahingestellt. Wir befänden uns alle in einer nur kurzen schlechten Übergangsphase. Das goldene Zeitalter unendlichen Wirtschaftswachstums kommt bestimmt. Hoffentlich gibt’s da noch genug Straßen, auf denen die vielen Autos fahren und auch stehen können.
Der Begriff der Freiheit ist sehr allgemein, vielleicht zu allgemein, auch wenn ihm etwas per se Positives anzuhaften scheint.
In einer pluralistischen Gesellschaft gibt es unterschiedliche Vorstellungen von Freiheit, die miteinander kollidieren können.
Welche Freiheit zählt mehr? – Diejenige des reichen Sportwagenfahrers, der auf der Autobahn 200 fahren kann oder diejenige des armen Autobahnanwohners, der ungestört ein Buch lesen will?
Freiheit muss begrenzt werden, wenn wahre Freiheit möglich sein soll. Die wahre Freiheit ist die Freiheit des Individuums, das sich persönlich entfalten will. Aber ist persönliche Entfaltung durch schnelles Autofahren wichtiger als persönliche Entfaltung durch Bücherlesen?
In einer konsumorientierten Gesellschaft scheint es hinsichtlich der Freiheit kein begrenzendes Maß nach oben zu geben. Der maßlose Konsum wird ausdrücklich gewünscht: Im Sinne der Produzenten, Konsumenten, Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Aber definiert sich wahre Freiheit im wesentlichen durch Konsum? Sind die wahrhaft freien Momente nicht gerade diejenigen, in denen man nicht konsumiert, in denen man fühlt und reflektiert?
Warum muss Menschen exzessiver Konsum ermöglicht werden und warum müssen die Konsequenzen dieses exzessiven Konsums von denen toleriert werden, die sich ihm nicht hingeben? Warum wird auf erstere mehr Rücksicht genommen? Warum muss der Lärm der unbegrenzt Feiernden, warum muss die äußerliche Freiheit, von denen, die ihre Ruhe haben wollen, die ihre innere Freiheit hochhalten, toleriert werden? Wird hier nicht mit zweierlei Maß gemessen?
Warum wird man als umweltbewusster Mensch dazu genötigt, sich einen überdimensionierten benzinfressenden und kohlendioxidausstossenden Sportgeländewagen anzuschauen und anzuhören? Haben sich die Erbauer dieser Protzautos einmal Gedanken darüber gemacht, welchen Unfrieden und welche Wut sie erzeugen? Letztlich welche Unfreiheit sie bei anderen erzeugen?
Die Freiheit hat da ihre Grenze, wo die Freiheit des Einen die Freiheit des Anderen behindert.
Ein anderes Beispiel wäre das Rauchen. Rauchen ist Aktivität. Nichtrauchen ist Passivität. Es ist nun ein argumentativer Trick der Raucher, die Nichtraucher zu den Aktiven zu erklären: Nichtrauchen sei auch eine Aktivität, und die kollidiere mit der Aktivität der Raucher.
Freiheit muss Grenzen haben: Rauchen schadet per se der Umgebung, Nichtrauchen schadet nicht per se der Umgebung.
Letztlich hat universelle Freiheit in einer Gesellschaft dort ihre Grenzen, wo die partikulare Freiheit des Einen die partikulare Freiheit des Anderen fundamental beeinträchtigt. Der Freiheitsbegriff einer konsumorientierten kapitalistischen Gesellschaftsordnung ignoriert die Differenzen in den partikularen Freiheiten seiner Bürger. Wo geistige Freiheit zugunsten einer Konsumfreiheit geopfert wird, wird letztlich die Freiheit selbst geopfert. Konsumfreiheit ohne geistige Freiheit ist keine Freiheit, sondern ein Gefängnis. Sicherheit durch materielle Versorgung führt nicht zu Freiheit, wenn nicht zugleich geistige Freiheit vorhanden ist. Manche wissen vor lauter Konsumvernebelung noch nicht einmal von ihrem Potenzial zu geistiger Freiheit.
JM
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Ganzheit
Vorausgesetzt die Welt ist eine Ganzheit. Lassen sich dann Aussagen über dieses Ganze als Ganzes machen? Also solche, die nicht nur Aussagen über Teile des Ganzen sind?
Es ist eigentlich schon unzulässig und wird dem Ganzen als Ganzem nicht gerecht, wenn das Ganze begrifflich geteilt wird, indem von Objekten gesprochen wird, die in irgendeiner Form Teile des Ganzen sind oder vielmehr sein sollen.
Schon bei einem Teil, etwa einem Sandkorn, besteht das Problem, eine Aussage bzgl. dieses Sandkornes an sich zu machen und es ausführlich zu beschreiben. Denn schon hier gilt ja ein ganzheitlicher Zusammenhang. Das Objekt hängt ganzheitlich mit dem Ganzen zusammen: Was ist die Geschichte des Sandkorns? Wie alt ist es und wie ist es entstanden? An welchen Orten befand es sich zu welchen Zeiten? Wo ist genau sein Schwerpunkt? Bewegt sich aktuell das Sandkorn oder nicht? An welchen Orten befinden sich die Siliziumatome? Wenn man auf ein konkretes Sandkorn Bezug nimmt, muss man es auch von seiner Außenwelt abgrenzen können, um überhaupt noch von einem konkreten Sandkorn sprechen zu können. Aus physikalischer Sicht könnte ja nur eine Interaktion von Elementarteilchen vorliegen. Dabei wäre das Sandkorn nach den Gesetzen der Quantenmechanik ein Bestandteil des Ganzen. Das Sandkorn lässt sich jedoch näherungsweise von seiner Umwelt isoliert betrachten. Das Ganze selbst jedoch nicht, da es gar keine Umwelt hat. Vielleicht lassen sich sowieso nur Aussagen über Objekte machen, die sich von ihrer Umwelt näherungsweise isolieren lassen. Der Objektbegriff lässt sich gerade so definieren. Wir machen etwas auf sprachlicher Ebene zu einem Objekt, wenn wir es begrifflich in irgendeiner Form von seiner Umwelt isolieren. Die zweifellos mit dem Objekt interagiert, die Interaktion geht ja sogar so weit, dass eine Einheit aus Objekt und Umwelt, aus Teilwelt und Welt, besteht. Wenn wir diese Objektdefinition zugrunde legen und zusätzlich festlegen, dass Aussagen immer Aussagen über Objekte sind, lässt sich in der Tat über das Ganze als Ganzes keine Aussage machen. Mit dem Ganzen soll ja nicht nur ein kosmologisches Ganzes assoziiert werden. Kosmologische Aussagen über ein physikalisches Universum als physikalisches Ganzes lassen sich durchaus machen, auch wenn es dazu einer Idealisierung bedarf, in der etwa Galaxien als Massenpunkte angesehen werden. Auch die Perspektive der Elementarteilchenphysik auf das Ganze ist begrenzt und kann nur Teilaspekte beinhalten. Selbst wenn es ein elementarstes Teilchen gäbe und man unter Berücksichtigung von Unschärfen bestimmte Informationen (Ort, Geschwindigkeit, Impuls, Energie, etc.) aller elementaren Teilchen hätte, liesse sich nur eine Aussage hinsichtlich des Teilchenaspekts des Universums machen. Andere Aussagen, etwa darüber, warum diese Teilchen zu lebenden Strukturen agglomerieren, liessen sich nicht machen.
Manche physikalischen Gesetze mögen exakt und letztgültig sein. Die Aussage, dass ein bestimmtes dieser Gesetze zu allen Zeiten und an allen Orten gilt, ist eine starke Aussage über einen Aspekt des Universums, lässt aber immer noch keine Aussagen über die konkreten Objekte des Universums und ihr Verhalten zu. Diese Gesetze selbst können trotz ihrer Exaktheit nicht in einen direkten Bezug zu allen konkreten Bestandteilen des Universums gebracht werden. Physikalische Gesetze erklären nicht die individuelle Form und differenzierte materielle Zusammensetzung einer konkreten Galaxie, sie hat eine individuelle Geschichte. So universell gültig physikalische Gesetze auch sein mögen, sie erklären nicht die individuelle Existenz konkreter Objekte, die alle ihre individuelle Geschichte haben.
Der Einzige, der wohl eine Aussage über das Ganze machen könnte, wäre ein hypothetischer Gott, der als universelle Intelligenz dieses Ganze komplett beobachten könnte oder gar mit diesem selbst identisch wäre.
Welchen Sinn sollte aber auch eine Aussage über das Ganze haben? Selbst wenn wir wüssten, was alles in der Welt stattgefunden hat, inklusive aller privaten Empfindungen aller Subjekte zu allen Zeiten, wüssten wir immer noch nicht, was dieses Ganze dann in seiner Totalität sein sollte. Es wäre ja denkbar, dass alle Teilaspekte des Ganzen, die je passiert sind, dann immer noch zu etwas supervenieren, das jenseits unserer Vorstellungswelt liegt. Vielleicht ist es so ähnlich wie beim kompliziertesten Objekt, das wir kennen, dem menschlichen Gehirn: Wir wissen nicht, oder werden vielleicht auch nie wissen, wie aus neuronalen Zuständen mentale Zustände werden und was mentale Zustände eigentlich sind. Das Mentale an sich könnte etwas für uns Transzendentes sein, das auf komplexen materiellen Interaktionen superveniert.
Genauso könnte es mit dem Ganzen sein. Wir könnten für dieses Transzendente hinsichtlich des Ganzen einen Namen verwenden: Gott. Der menschliche Geist könnte auf einer niedrigeren Ebene das sein, was Gott für das Ganze ist. In einer transzendenten Welt könnte es wiederum zu einer Interaktion dieser beiden für uns transzendenten Dinge kommen. Vielleicht zeigt sich im Menschen metaphysisch gesprochen das Schauen Gottes auf sich selbst.
Selbst wenn wir im Besitz aller möglichen Informationen über alle Teilaspekte des Universums wären, könnten wir immer noch keine Aussagen über das Universum als Ganzes in seiner holistischen Totalität machen. Und dies noch unter der wohlwollenden Annahme, dass es zeitlich und räumlich endlich ist, und dass die Zahl aller physischen und mentalen Dinge, die es je gegeben hat, endlich ist. Schon dies ist eigentlich unmöglich: Man kann nicht wissen, welche subjektiven Empfindungen ein konkreter Außerirdischer X in Galaxie Y zur Zeit Z hatte. Auch könnten subjektive Empfindungen per se nicht vollständig für andere Subjekte informationell erfassbar sein.
Ist das Universum nicht auch zu jeder Zeit eine andere Totalität? Auf der holistischen Ebene müsste man erklären, wie sich der Übergang von einer Totalität zur nächsten vollzieht und was wiederum die Ganzheit all dieser Totalitäten ist.
Es ist schwierig über das Ganze zu sprechen. Wittgenstein würde sagen: Worüber man nicht reden kann, da muss man schweigen. Er würde allerdings auch sagen: Und dies ist das Mystische. Und ein religiöser Mensch könnte wiederum sagen: Und die Totalität des Mystischen ist Gott.
JM
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Essenz
Worauf kommt es im Leben an?
– An den Tod zu denken.
JM
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Zeit
Bei Rundwegen ziehe ich es vor, gegen den Uhrzeigersinn zu gehen. So habe ich das Gefühl, mich dem alltäglichen Lauf der Dinge und der Zeit zu widersetzen.
Mitunter komme ich dann an Wegpunkte, bei denen vermeintlich kurze Zeitpunkte zu langen Augenblicken werden. Dies geschieht in bestimmten Landschaften, an gewissen Orten: in Wäldern, an Stränden oder in Gebirgen. Der Raum eröffnet mir dort eine Tiefe, die mir von der Zeit verweigert wird.
Schreitet die Uhr in ihrem Sinne fort, Sekunde für Sekunde, gehe ich in meinem Sinne gegen sie, Schritt für Schritt. Und dies sei mein Sinn. Unterwegs begegne ich mir manchmal selbst, meinem sogenannten Inneren oder was ich dafür halte. Dies sind Momente, in denen mich die Zeit wieder in ihrem Sinne mitreißen will. Ich wehre mich dagegen, indem ich versuche, mich in etwas Äußeres – den Wald, das Meer, die Berge – zu versenken. Und frage mich, wie schon der heilige Augustinus, wann ich eigentlich wirklich bin. Das Jetzt ist bald schon vergangen, die Vergangenheit sowieso, das Zukünftige ist noch nicht, und der gegenwärtige Zeitpunkt ist ein punktuelles Nichts. Dies reißt mir den Boden unter den Füssen fort und ich wünsche mir nur, ewig zu sein wie ein Stein. Doch auch er ist ja nicht ewig. Was ist überhaupt ewig?
Das neue Jahr hat begonnen und es ist ein Sterben überall. Als ob die Sterbenden den Jahresanfang nutzen, ihren Zweifel an und schließlich ihren Willen gegen ein neues Jahr für sich festzumachen. Ein Jahr, das auch nur ein wiederkehrendes ist, wie schon die Jahre zuvor. Auch hier bekundet sich Protest und Rebellion gegen die Zeit.
Für mich, den sterbenden Wanderer, wäre es eine Erfüllung, beim Wandern zu sterben. Dieser Wunsch und die Möglichkeit seines tatsächlichen Eintretens in jedem Augenblick erheben das Wandern zu einer Suche nach dem Tod, dem Sinn des Daseins und der eigenen Existenz.
Solange Dein Herz noch schlägt …
solange Du Deine Schritte noch gehst …
solange schreitet der Zeiger stetig fort …
Doch wenn Dein Herz schließlich steht –
und wenn Dein Gang endlich zu Ende geht –
erst dann wird auch der Zeiger endlich steh’n –
Quo vadis?
Sua sponte
per se per pedes
per aspera ad astra.
Omnia tempus habent.
Saxa loquuntur,
nosce te ipsum.
Memento mori,
mors certa,
hora incerta.
JM
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Theoria cum Praxi
Reine Belesenheit reicht zu einer Urteilsfähigkeit, also einer Fähigkeit, sich Urteile über etwas zu bilden, wohl nicht aus. Wenn jemand hauptsächlich nur liest, ist er zwar in der Tat sehr belesen, aber vermutlich zugleich alltagsfern, da das Lesen nun einmal in Studierstuben und stillen Kämmerleins stattfindet. Reine Belesenheit reicht auch insofern nicht aus, da mit ihr noch keine Schreibfähigkeit verbunden ist; der Prozess des Schreibens ist ja auch irgendwo ein urteilender. Außerdem läuft man Gefahr, die Urteile anderer, nämlich derer, die man gelesen hat, über die man also belesen ist und wegen derer man belesen ist, zu überschätzen. Ein gesundes Alltagswissen und -verständnis gewinnt man wohl durch den Verkehr mit anderen; die Straße scheint hier ein passenderer Ort zu sein als die Studierstube oder das besagte Kämmerlein.
Auf der anderen Seite gibt es jedoch auch Menschen, die meinen, da sie fest in einer Alltagswelt verwurzelt sind und Kontakte zu allen möglichen Leuten haben, sie könnten sich auch über alles mögliche Urteile bilden und diese aussprechen. Dies geht dann zu oft in die Hose, da es zur Urteilsbildung auch eines Wissens, mitunter auch eines belesenen Wissens bedarf. Wissen eignet man sich gewöhnlich durch Lesen an.
Demnach scheint es so zu sein, dass es eines gesunden Mittelweges aus Belesenheit und Wissen einerseits und Alltagsverwurzeltheit andererseits bedarf, um aus dieser gesunden Mitte heraus wahrhaft ausgewogene Urteile fällen zu können. Justitia lässt grüßen. Ihre Augen sind verbunden, nicht nur, um nicht vom Anblick des Alltags abgelenkt oder gar verführt zu werden, sondern auch, um nicht der Belesenheit zu verfallen. Theoria cum Praxi.
Ein anschauliches und aktuelles Beispiel wäre ein Urteil über sozial Bedürftige. Reine Belesenheit könnte hier zu dem voreiligen Urteil führen, dass der Betroffene mit dem staatlich zugewiesenen Geld auskommen kann. Wenn man den Alltag eines solchen Betroffenen aber einmal persönlich und in praxi mitgemacht hat, wird man um dieser praktischen Erfahrung willen sein Urteil wohl anders fällen. Und ähnlich ist es um viele praktische Fragen bestellt, die beurteilt werden wollen.
Es zeige sich der Mensch, der von sich behauptet, er hätte diesen goldenen Mittelweg gefunden, er würde bereits gemäß einer Ausgewogenheit von Theorie und Praxis leben. Man müsste ihn für einen Gott halten. Warum soll man ihm auch glauben? Weiß man, wie belesen er wirklich ist? Weiß man, welchen Draht er zum praktischen Leben wirklich hat? Muss man ihn für lebenserfahren halten? Wer darf von sich behaupten, dass er lebenserfahren ist? Wer darf einen anderen lebenserfahren nennen?
Was ist wahre Bildung? Offensichtlich eine solche, die dazu führt, dass man sich ein Urteil bilden kann, nachdem man sich ein Bild gemacht hat. Ein Bild der Sachlage in der Praxis, das möglicherweise mit einem bekannten Bild aus der Theorie verglichen werden kann. Theoria cum Praxi.
JM
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Philosopheninseln
Eine Gefahr ist dort gegeben, wo sich Philosophen auf unangreifbare Kategorien, etwa idealistischer oder existenzialistischer Art, wie die des Geistes oder der Freiheit, zurückziehen. Von dieser, allerdings nur scheinbar sicheren und unangreifbaren Warte aus, meinen sie mitunter, die Wissenschaften, die durch eine Offenheit gegenüber neuartigen Phänomenen gekennzeichnet sind und deren Erfahrbarkeit allein schon durch die fortschreitende technologische und experimentelle Entwicklung gegeben ist (wie etwa in den Neurowissenschaften), allein durch ihr Kategoriengebäude beurteilen zu können. Allein mithilfe dieser Kategorien, die sie liebgewonnen haben und an die sie schon lange gewöhnt sind.
Hier gibt es tatsächlich Philosophen, die noch ein Inseldasein führen. Natürlich ist auch ihre Meinung und Perspektive nach wie vor interessant, aber es geht ja auch um Ansprüche. Auf der anderen Seite stellen auch Neurowissenschaftler oft Ansprüche, die sie philosophisch argumentativ nicht immer stringent untermauern können.
Hier ist ein wahrhafter Dialog gefordert.
Die Tendenz wird vielleicht dahin gehen, dass die klassischen Begriffsphilosophen auf ihren Inseln wohl mit der Zeit weniger zahlreich sein werden, da sie gegen die “Flut neuer Phänomene” nicht mehr ankommen.
In einer Art von Vorahnung zeigt sich offenbar ihre Angst, das klassische Verständnis liebgewonnener philosophischer Kategorien könnte zur Disposition stehen. Kategorien, um die sich viele Philosophen im Laufe vieler Jahrhunderte bemüht haben und noch bemühen, ähnlich wie Entdecker auf der Suche nach Inseln, die nun feststellen müssen, dass das, was sie lange Zeit für Inseln hielten, in Wahrheit Halbinseln sind. Die Inseln des Geistes und der Freiheit werden so zu Halbinseln, und zwar zu solchen, die eine Landverbindung zum menschlichen Gehirn haben – einem ganzen Kontinent.
Für die klassischen Philosophen bleiben offenbar immer weniger Inseln übrig. Ihre Rechtfertigungsversuche und Bestrebungen, die klassischen Kategorien in ihrer Gültigkeit zu retten, müssen immer raffinierter werden. Sie entdecken ja auch keine neuen Inseln mehr, während ihre Kollegen aus den Naturwissenschaften ganze Kontinente erforschen.
Auf einen wahrhaften und unvoreingenommenen Dialog zwischen beiden Seiten bleibt zu hoffen – auf einen regen Schiffsverkehr.
JM
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Kreativität
Man stelle sich vor, es würde eine unbekannte exotische Tierart entdeckt, die ein chaotisches, aber auch irgendwie sonderbar determiniertes Verhalten an den Tag legt und den Biologen und Verhaltensforschern wirklich Kopfzerbrechen bereiten würde: Das Verhalten eines Exemplars dieser Gattung wäre für Biologen und Verhaltensforscher nicht vorhersehbar.
Sind wir nun dazu genötigt, dieses Lebewesen als Geistwesen zu bezeichnen? Wie kommen wir dazu, einem Lebewesen “Geist” zuzusprechen, wobei aus einem Sprechakt eine Substanz wird?
Im Alten Testament schwebt der Geist am Anfang über den Wassern, er möge in den Kategorienhimmeln mancher klassisch orientierter Philosophen schweben, aber wie käme ein Naturwissenschaftler dazu, ihn schweben zu lassen?
Die Behauptung, dass sich aus einer vollständigen Kenntnis des neuronalen Zustands eines Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt, der sich zu einem späteren Zeitpunkt in eine bestimmte Richtung bewegt, nicht darauf schließen lässt, welche Richtung er einschlägt, ist eine starke These. Nun ließe sich behaupten, dieses Modell sei zu einfach, es gehe beim Menschen nicht nur um das bloße Richtungeinschlagen, sondern um komplexeres Verhalten. Dies würde aber nichts an den Umständen der möglichen kausalen neuronalen Determination ändern. Er mag sich noch so komplex verhalten, er mag noch so plötzliche Ideen haben; diese Dinge haben vermutlich eine neuronale Genese in selbstorganisierenden neuronalen Netzen.
Nun könnte man aus Sicht einer evolutionären Ethik auch fragen, was eigentlich dahinter steckt, dass so viele Philosophen noch dem alten Geistbegriff verhaftet sind. Dabei könnte die Antwort lauten, dass es sich bei ihrem Verhalten um ein raffiniertes, nicht nur durch die Gene, sondern auch durch die Meme determiniertes, altruistisches Selektionsprogramm handelt, das ihnen, da sie ja letztlich auch nur einer bestimmten Gruppierung angehören und im weitesten Sinne somit auch an Gruppen- und Arterhaltung interessiert sind, dabei hilft, zu überleben. Also gerade die Selbstverleugnung des Naturwesens Mensch scheint ein besonders erfolgreiches und hartnäckiges Selektionsprogramm zu sein. Letztlich wäre es aber auch nichts anderes als ein genetisch-neuronal-memetisches Programm.
Warum sollte das unbekannte Lebewesen nicht über Kreativität verfügen? Der Kreativitäts- ist historisch nicht so überladen wie der Geistbegriff. Man könnte sich unter Kreativität etwas vorstellen, das auf einer soliden naturwissenschaftlichen Basis steht. Warum sollte also so ein Lebewesen nicht kreativ sein? Kreativität zeigt sich ohnehin im Tierreich aller Orten.
Wo besteht also der Unterschied zwischen menschlicher und tierischer Kreativität?
Was wird mit dem Begriff Geist ausgesagt, was nicht auch schon mit dem Begriff Kreativität ausgesagt wird? Oder noch weiter: Was wird mit dem Begriff Kreativität ausgesagt, was nicht auch schon mit dem Begriff “neuronales Netz” ausgesagt wird? Nur weil wir Letzteres noch nicht verstanden haben und das erstere ein Begriff ist, der einen etablierten Gebrauch hat? Wir akzeptieren kritiklos die Substanzialisierung eines Sprechaktes klassischer idealistischer Philosophen. Es ist aber ein Unterschied in der sprachlichen Qualität, ob man vom Geist oder von einem neuronalen Netz spricht, das Netz hat eine naturwissenschaftlich beschreibbare Struktureigenschaft, der Geist nicht.
Es handelt sich offenbar um einen Kategorienfehler, wie der Philosoph Gilbert Ryle schon bemerkte. Nun gibt es natürlich Philosophen, wie etwa John Searle, die behaupten: Ich erlebe etwas, ich fühle etwas, ich bin mir über etwas bewusst. Warum sollte dieses also nicht auch existieren, genauso wie die Bäume, die ich da draußen durch das Fenster sehe? – Es wäre doch verrückt, über diese mentalen Realitäten immer nur wie über Gespenster zu reden.
Dies ist jedoch die Innenperspektive. Modelle über etwas betreffen gewöhnlich die Außenperspektive. Die Innenperspektive darf in der Regel für ein Modell nicht herangezogen werden, weil Modelle immer intersubjektiv vermittelbar sein müssen, sie hätten als Modell sonst keinen Sinn.
Ich erlebe etwas, ich denke, ich bin mir bewusst, ich bin oder habe dieses und jenes, usw. Aber dieses alles nötigt mich nicht dazu, zu behaupten: Ich bin oder habe Geist, ich bin oder habe Bewusstsein, usw. Dies sind alles unnötige Substanzialisierungen; wenn ich denke, habe ich noch keinen Geist, wenn ich mir über etwas bewusst bin, habe ich noch kein Bewusstsein. Es geht immer um Prozesse und diese innenperspektivischen Prozesse mögen eine größere Nähe zu außenperspektivischen Prozessen, wie etwa neuronalen Prozessen haben, als wir denken.
Es gibt die bekannte Rede, dass Kreativität und Geist nur dem Menschen eigen sein sollen. Wo geht nun Geist über Kreativität hinaus? Warum reicht der Kreativitätsbegriff nicht aus? Es ist doch der Mensch, der kreiert, oder doch notwendig der Geist? Was kreiert denn ein Geist, der schon selbst Kreativität ist, was nicht schon Kreativität selbst kreiert? Wenn man Kreativität nachweist, hat man schon Kreativität nachgewiesen, warum sollte man dann noch einmal Kreativität als Geist nachweisen? Ist die Kreativität zum Handeln unfähig, dass es einer Substanz Geist, eines Dinges dazu bedarf?
Wenn man zwei Sterne durch ein Teleskop beobachtet, einen kleinen und einen großen, und feststellt, dass von dem kleinen zum großen Masse übertragen wird, so lässt sich sowohl die Massenübertragung messen, als auch der Attraktor selbst, der größere Stern. Wenn man Körper und “Geist” beobachtet, lässt sich immer nur eine Komponente messen, nämlich Körperverhalten, aber nicht eine Komponente Geist. Der Geist scheint hier also so überflüssig wie der Begriff des Äthers in der Physik des 19. Jahrhunderts.
Warum reicht also nicht der Begriff der Kreativität aus, warum muss noch der Begriff des Geistes hinzukommen? Strenggenommen gibt es noch nicht einmal Kreativität. Es gibt sehr komplexe neuronale Netze, die Regelkreischarakter haben und die physische Ursache für bestimmte Körperbewegungen sind, die aus dem gewöhnlichen Rahmen fallen und hinterher als zum Beispiel künstlerische qualifiziert werden, genauer gesagt: künstlich hochqualifiziert werden. Aus diesen komplexen Körperbewegungen wird dann irrtümlicherweise darauf geschlossen, dass auch eine überkomplexe Ursache existiert, die so komplex ist, dass sie sich nicht mehr materiell beschreiben lässt. Vor lauter Komplexität sieht man so den Wald vor lauter Bäumen – der Wald existiert natürlich nicht, es existieren nur die Bäume.
Wie man sieht, habe ich den Geist nirgendwo gefunden. Aber ich weiß nicht so recht, ob ich glauben soll, was ich da geschrieben habe.
JM
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Behörden
In einem Staat waren für eine neue Angelegenheit unterschiedliche Behörden zuständig. Die Kommunikation zwischen den verschiedenen Behörden gestaltete sich jedoch schwierig, da es Konflikte um Zuständigkeitskompetenzen und Zuständigkeitsverantwortlichkeiten gab und auch die genaue Zuständigkeitsreihenfolge in der Sachbearbeitung unklar war.
Um dieses Problem zu lösen, wurde eine neue Behörde gegründet, die die Zuständigkeit der Behörden regeln und die Kommunikation der Behörden untereinander verbessern sollte. Bei der Einrichtung dieser neuen Behörde wurde es jedoch versäumt, die Kommunikationswege der bereits bestehenden Behörden zur neu geschaffenen Behörde richtig zu organisieren. Dies hatte wiederum zur Folge, dass die ohnehin schon gestörte Kommunikationsfähigkeit der ursprünglichen Behörden noch stärker negativ beeinträchtigt wurde, da diesen ja mitgeteilt wurde, erst Informationen an andere Behörden weiterzugeben, wenn die neue Behörde dazu grünes Licht gegeben hatte. Die Behörden bekamen jedoch auf ihre Anfragen an die neue Behörde zur Erlaubnis der Informationsweitergabe an andere Behörden keine Antwort von der neuen Behörde.
Man musste also feststellen, dass das Gegenteil von dem eintrat, was man eigentlich beabsichtigt hatte. Die Kommunikation der ursprünglichen Behörden wurde durch die Maßnahme nicht verbessert, sondern sogar verschlechtert. Was vorher ein unorganisiertes Netz war, in dem Kommunikation wenigstens noch zeitweilig möglich war, war nun eine hierarchische Struktur, die einen funktionsunfähigen Kopf hatte.
Da hatte ein hoher Verwaltungsbeamter die Idee, doch eine weitere Behörde zu gründen, die die Aufgabe hatte, zwischen den ursprünglichen Behörden und der neuen Behörde, also nicht dieser ganz neuen Behörde und somit zweiten neuen Behörde, sondern der alten neuen Behörde und somit ersten neuen Behörde, zu vermitteln. Sie sollte als zweite neue Behörde mit einem gewissen Weisungsrecht gegenüber der ursprünglichen, ersten neuen Behörde auftreten. Doch wieder entstanden Probleme, denn die erste neue Behörde, also die alte neue Behörde, wollte das Weisungsrecht der zweiten neuen Behörde, also der neuesten neuen Behörde, nicht akzeptieren, da sie selbst ja ursprünglich mit der Direktive gegründet worden war, dass nur sie das alleinige Weisungsrecht über andere Behörden haben solle.
Da hatte ein ranghoher Staatsbeamter eine Idee. Ihm fiel ein, dass kürzlich eine alte Behörde aufgelöst wurde, deren Funktion auf zwei andere neu gegründete Behörden überging. Bei dieser Auflösung wurden viele Kurzzeitangestellte versehentlich lebenslang verbeamtet. Diese neuen, lebenslang verbeamteten Beamten konnten nicht alle auf die zwei neuen Behörden – die zwei neuen Behörden aus dem eben gerade genannten Fall, also nicht die ursprünglichen zwei neuen Behörden, also nicht die ganz neue Behörde und somit zweite neue Behörde und auch nicht die alte neue Behörde und somit erste neue Behörde – verteilt werden. Diese wurden den zwei neuen Behörden, also nicht die, von denen gerade die Rede war, sondern den ganz neuen Behörden, also der alten neuen Behörde und somit ersten neuen Behörde und der neueren neuen Behörde und somit zweiten neuen Behörde, zugewiesen.
Der ranghohe Staatsbeamte wurde befördert, da er ein Instrument geschaffen hatte, mit dessen Hilfe lebenslang verbeamtete Beamte auf jeden Fall einer Behörde zugewiesen werden konnten.
JM
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Religion und Moral
Wo die Religion die Menschen besser macht, ist sie nicht mehr nur Religion, sondern gelebte Moral.
Die Religion stellt die beharrliche Behauptung auf, dass sich die Menschen nicht selbst eine Moral für ihr Zusammenleben geben können, sondern dass es einer übergeordneten Autorität, nämlich eines Gottes bedarf, die moralische Regeln für Menschen aufstellt. Die Schöpfung dieser moralischen Regeln geht einher mit der Schöpfung der materiellen Welt. So wie die materielle Welt geschöpft wurde, aus Gottes Hand, soll auch die moralische Welt erschaffen worden sein. Es stellt sich hier natürlich unmittelbar die Frage, warum Gott in all seiner Weisheit nicht gleich eine perfekte materielle Welt geschaffen hat, so dass es einer weiteren Welt, nämlich einer moralischen, nicht bedurfte. Zudem wäre die Welt dann nicht von Anfang an zweigeteilt.
Auf den ersten Blick mag für einen Menschen, der von seiner Religionszugehörigkeit überzeugt ist, eine Notwendigkeit der jeweiligen religiösen Normen als religiöse Normen vorliegen. Aber auf den zweiten Blick entlarven sich religiöse Normen oft als solche alltäglicher, vernünftig gelebter Praxis. Zum Beispiel könnte eine religiöse Norm besagen, dass Menschen zu bestimmten Zeiten oder Zeiträumen Mahlzeiten zu sich nehmen oder fassten sollten. Im Laufe der Zeit könnte dieser Mensch jedoch erkennen, dass es ohnehin sinnvoll ist, zu bestimmten Zeiten zu fasten oder Mahlzeiten zu sich zu nehmen, da dies dem Körper gut tut. Nicht die Norm als religiöse Norm (“Gott verfügte, zu bestimmten Zeiten zu essen oder zu fasten”) steht dann im Vordergrund, sondern als intuitiv einleuchtende Praxisnorm (die Tatsache, eben zu bestimmten Zeiten zu essen oder zu fasten, damit dies dem Körper nützt).
Wenn dieser Mensch dies jedoch nicht einsieht, dass die religiöse Norm, die er befolgt, auch oder nur als Praxisnorm sinnvoll sein könnte, sondern darauf beharrt, dass sie nur sinnvoll als Gottes Wort ist, so steht seine Erkenntnis- und Reflexionsfähigkeit zur Diskussion. Worauf sollte dann dann eher Rücksicht genommen werden? Auf das Recht der freien Religionsausübung, sein religiöses Bedürfnis (ein wirklich notwendiges, ein wirklich ehrliches?) oder auf sein Potenzial, zu einem aufgeklärten Menschen zu werden, auf dass er selbst, im Sinne Kants, die Selbstzweckhaftigkeit seiner Person (und zwar unabhängig von irgendeiner Religion oder religiösen Autorität) einmal erkenne?
Die menschliche Geschichte hat gezeigt, dass sich der Mensch seine Moral auch immer wieder neu erschaffen und erarbeiten muss. Es geht also schon auch um Schöpfung, allerdings muss sie vom Menschen selbst vorgenommen werden. Denn im Laufe seiner Geschichte gab es immer wieder neue Konstellationen menschlichen Zusammenlebens, mit einer Zunahme an Komplexität, gerade hin zur Moderne. Ein Gott, der am Anfang starre Moralregeln schöpft und dann die Geschichte ignoriert, ist nicht nur überflüssig, sondern auch gefährlich. Die Religion ist folglich auch das beharrliche und hartnäckige Bestreben, die notwendige, sich im Sinne einer Verbesserung menschlicher Lebensverhältnisse zu wiederholende, moralische Neuerschaffung des Menschen zu ignorieren oder gar zu unterbinden. Natürlich gibt es Bestrebungen der Religionen, zum Beispiel des Christentums, die etablierten Moralvorstellungen der Religion an veränderte gesellschaftliche Verhältnisse und Zustände anzupassen und so die Religion zu reformieren. Dies ändert jedoch nichts daran, dass Religionen im Kern etwas Starres und Unzeitgemäßes anhaftet. Manche sehen darin gerade ihren Reiz, irgendwo hat ein religiöser Konservatismus ja auch seine Berechtigung. Aber er könnte auch gerade durch die Einsicht ersetzt werden, dass es unveränderliche, überzeitliche moralische Grundnormen gibt, wie zum Beispiel den kategorischen Imperativ. Diese Grundnormen sind menschlicher Erkenntnis zugänglich, sie unterliegen sogar ihrer Entwicklung, keinesfalls sind sie genuin von göttlicher Schöpfung abhängig. So sagt der kategorische Imperativ etwas aus, das sich nicht auf Religion reduzieren lässt, nämlich die im Sinne der verantwortlichen Freiheit des Menschen als notwendig zu erachtende Selbstzweckhaftigkeit, Selbstgesetzgebung und Autonomie des Menschen. Kant wollte sich bekanntlich ganz bewusst von der metaphysischen und religiösen Tradition absetzen und weder im Kosmos bzw. in der Natur (wie zum Beispiel bei den alten Griechen) noch in einem Schöpfergott (wie zum Beispiel bei den Christen) eine moralische Autorität erblicken, der sich der Mensch willenlos zu fügen hat.
Die Religion erfüllt natürlich nach wie vor eine gesellschaftliche und kulturelle Funktion, da sie etablierte Formen des alltäglichen Lebens vorgibt. So gibt sie dem sogenannten “einfachen Menschen” ein schnelles Rüstzeug an die Hand, gewisse etablierte Strukturen menschlichen Zusammenlebens auch mit gutem Gewissen auszuleben. Denn dieser hat ja gar nicht die Zeit dazu, eine eigene Moral zu erschaffen, oder eine Moral rational nachzuvollziehen, die sich auf eine komplexe Art und Weise in großen Zeiträumen in gesellschaftlichen Prozessen entwickelt hat. Der einfache Mensch stellt aber auch heute durchaus eine Gefahr dar, nämlich in jener indirekten Hinsicht, dass zahlreiche neue Religionen und Sekten entstehen, die schnelle Antworten und Moralen anbieten, auf die er ebenso schnell zugreifen kann wie auf diejenigen der alten Religionen. Dieser einfache Mensch ist jedoch heute auch der Mensch des schnellen Konsums, er wird gewünscht, als Mensch der unreflektierten Bedürfnisbefriedigung, als Mensch, der unkritisch auf Werbung reagiert. Er ist aber auch der Mensch, der Reizüberflutungen ausgesetzt ist, der Mensch, der durch gewissenlose Politiker steuerbar ist, der Mensch, der nicht selbst denkt, sondern fertige Bilder und Gedanken konsumiert. Letztlich der Mensch, der sich manipulieren lässt, da er nicht selbst Hand an seine persönliche Entwicklung legt.
JM
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Sprache als Wesensmerkmal des Menschen
Es wird oft behauptet, dass die Sprachfähigkeit des Menschen ihn wesentlich als Menschen konstituiert. Es klingt hier unterschwellig mit, dass die Sprache das wesentliche Element des sogenannten Wesens des Menschen sei.
Zugegeben, Sprache und Symbolisierung sind mächtige Werkzeuge, die solche Dinge wie Wirtschaft, Wissenschaft und Technik überhaupt erst möglich machen. Aber es gibt eben auch noch viele andere wichtige Dinge, die das sogenannte Wesen des Menschen ausmachen. Wenn man nun schon von einem Wesen des Menschen sprechen will. Existenzphilosophen würden behaupten, dass das Wesen des Menschen das Existenzielle ist. Und dieses lässt sich nicht auf die Sprache reduzieren, auch wenn über das Existenzielle gesprochen wird. Selbst der Sprachphilosoph Wittgenstein, jedenfalls der frühe des Tractatus, wies ja auf das – wie er es nannte – Mystische hin, auch er dachte über die Welt als Ganzheit nach. Die Philosophen, die die Sprache benutzen und benutzen müssen, holen sich, in der Sprache Wittgensteins, beim Anrennen gegen die Mauer der Totalität übrigens ständig Beulen. Denn diese Totalität lässt sich eben nicht vollständig sprachlich abbilden, strenggenommen überhaupt nicht, mag die Sprache auch noch so ein mächtiges Werkzeug des Menschen sein.
Auf einer elementaren Ebene gibt es schon im Tierreich eine Kommunikation mittels Symbole. Eine bestimmte Körperhaltung, die im Prinzip auch einem Symbol entspricht, führt hier zum Beispiel dazu, dass Artgenossen untereinander ihre Rangordnung signalisieren; bis hierher und nicht weiter. Die Übergänge vom Tierreich zum Menschen sind fließend, sie sind Gegenstand naturwissenschaftlicher Forschung. Wer das Gegenteil behauptet, steht in der Beweispflicht.
Die Aussagen “Das Wesen des Menschen ist wesentlich sprachlich” oder “Das Wesen des Menschen konstituiert sich wahrhaft nur durch die Sprache” sagen also eigentlich gar nichts aus. Sie sagen nur aus, dass der Mensch allenfalls über eine kompliziertere Sprache und Symbolik verfügt als zum Beispiel Primaten. Wenn nun aber Primaten in ihrem Umfeld mit Hilfe des Menschen auf eine bestimmte Art und Weise durch spezielle Trainings sozialisiert würden, könnte dies ihre Sprach- und Symbolfähigkeit steigern.
Ist die Rede vom Wesen des Menschen als eines Sprachwesens nicht eine unnötige Substanzialisierung, ähnlich wie die Rede vom Wesen des Menschen als eines Geistwesens? Man denke hier an die positivistische Kritik des logischen Empirismus, etwa eines Rudolf Carnap, der von metaphysischen Scheinbegriffen und Scheinproblemen sprach.
Das Hochhalten der Sprache als wichtigste Eigenschaft des Menschen ist übrigens etwas sehr Unphilosophisches, denn die Philosophie, insbesondere die philosophische Anthropologie, soll ja gerade alles berücksichtigen, was den Menschen als Menschen konstituiert, also das Wesen des Menschen ausmacht. Und der Mensch ist eben wesentlich ein vielfältiges Wesen, das durch allerlei Dinge, auch sehr individuelle Dinge, konstituiert wird. Jeder Mensch muss sich auch irgendwo selbst erschaffen, jeder ist sein eigenes Projekt. Man denke hier wieder an die Existenzphilosophen, man denke aber auch an Nietzsche. Jede Rede davon, dass etwas ganz Bestimmtes das Wesen des Menschen ausmacht, und sei es die Rede von der Sprache – und sei die Sprache auch noch so wichtig – führt zu einer Simplifizierung des Menschen. Wenn etwas wesentlich am Menschen ist, dann ist es seine Individualität. Die jedoch in gewisser Hinsicht wiederum eine Rede vom Wesen des Menschen überflüssig macht, denn eine Rede von einem Wesen ist immer eine Rede vom Allgemeinen, und eben nicht vom Individuellen.
Neurowissenschaftler und Evolutionsbiologen sollten eigentlich kein Problem damit haben, wenn die Sprachfähigkeit des Menschen als wesenskonstituierend betont wird. Denn die Sprache und Symbolisierung lassen sich durchaus auch als biologische Verhaltensmerkmale der biologischen Art Mensch ansehen. Verhaltensmerkmale, die in der späten Evolution sehr erfolgreich waren und noch sind, so erfolgreich in der Durchsetzung gegen und der Beherrschung von anderen Arten, dass es für den Menschen gefährlich geworden und seine biologische Existenz bedroht ist. Auch darf nicht vergessen werden, dass die biologische Existenz des Menschen erst seine sprachliche Existenz konstituiert, wie auch seine geistige. Bei der Sprache ist jedoch eine empirische Feststellbarkeit als naturwissenschaftlich beschreibbares Phänomen gegeben, beim Geist wird es da schon schwieriger.
Ein Mensch, der die Sprache für das Wesen des Menschen hält, also für das Wesentliche des Wesens des Menschen, also des Wesens Mensch, verkennt nicht unwesentlich das Unwesen des Menschen, denn zum Wesen des Menschen gehört wesentlich, dass sein Wesen nicht bestimmbar ist. Die schlauen Sprüche über das Wesen des Menschen unterliegen also der Gefahr einer Verwesung, spätestens am Abend, wenn man nach Westen schaut und die Eule der Minerva ihre letzten Flügelschläge macht.
Wär’ die Sprache nicht gewesen,
würd’ sich kein Wesen
über’s Wesen des Wesens
Mensch
Gedanken machen.
Denn das Wesen
– das Wesen Mensch –
gäb’s dann ja gar nicht.
Denn dieses Wesen
ist ja
wesentlich in seinem Wesen
durch die Sprache in seiner Wesenheit
bestimmt.
Haben ganz schlaue Menschen gesagt,
die, wenn sie es nicht gesagt hätten,
ja Affen wären.
Der Affe Mensch, dieser kluge Affe, hat die Sprache erfunden, mit einem Hauptzweck: Er will ein besonderer Affe sein, eben ein Mensch, keinesfalls möchte er für einen gewöhnlichen Affen gehalten werden.
Wenn Du in das Gesicht eines Menschen schaust, siehst Du diesen Selbstbetrug aus Sprache und Geist. Der Mensch verhält sich in der Tat so, als hätte er Geist. Schau Dir diesen stolzen Blick an, der andere Menschen glauben machen will: Sehet her, ich bin wesentlich Geist und unwesentlich Materie, ich bin etwas Besonderes, ich kann so intelligent gucken, dass ich Geist haben muss. Doch der Betrug gelingt nur beim Menschen selbst. Affen halten ihn nach wie vor für einen kranken Affen.
JM
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Ein anderes Land
Den Österreichern, und vor allem den Wienern, sieht man ihre Intelligenz nicht an, sie sind so bescheiden, zu bescheiden. Ich fühle mich in diesem Land und dieser Stadt meistens sehr wohl, aber vielleicht liegt das auch daran, dass ich Urlaub habe, wenn ich dort bin. Ich schätze die Gastfreundschaft der Österreicher.
Ich mag diese Stadt Wien, wo Geschichte und Tod erlaubt sind und die Uhren langsamer ticken. Irgendjemand, der einmal Deutschland besuchte, hatte immer das Gefühl, sich nur in der Gegenwart zu befinden, als ob die Vergangenheit nicht existierte, ausgeschlossen war. Ich mag die Wiener mit ihrem Sinn für Geschichte. Und ich genieße es, auf dem “Zentral” spazieren zu gehen.
Viele Deutsche zieht es nach Wien. In welcher Stadt sollte man denn auch sonst sterben wollen als in Venedig oder Wien?
Von der Unkompliziertheit der Österreicher und insbesondere Wiener könnten sich die Deutschen ein Scheiberl obaschneidn.
Grüß Gott
Was ist der Sinn für Geschichte? Ist es ein offenherziges Wohlwollen für bestimmte, als positiv angesehene Traditionen und eine Identifikation mit ihnen; ihre Verinnerlichung und Internalisierung? Etwas, das in den Alltag eines Menschen mit Sinn für Geschichte einfließt?
Was passiert, wenn Geschichte immer nur zum Objekt gemacht und dauerhaft externalisiert wird, sei es als Gegenstand einer wissenschaftlichen oder moralischen Betrachtung? Und wenn diese externalistische Perspektive auf die Geschichte in einer Gesellschaft und ihren Medien dominiert?
Offensichtlich nimmt man den Menschen damit die Möglichkeit, Geschichte zu internalisieren, zu verinnerlichen. Darf man die “guten” Episoden auswählen, um nur sie als positive Traditionen zu verinnerlichen?
Was unterscheidet hier Deutschland von Österreich? In Deutschland gibt es eine unterschwellige Tendenz, zu behaupten, dass sich nur die Deutschen wahrhaft mit ihrer Geschichte auseinandergesetzt haben, und eigentlich die Österreicher hier etwas nachzuholen hätten. Der Blick von oben ist hier unverkennbar, ein Blick, bei dem man sich fragt, ob er den Deutschen eigentlich in dem Maße zusteht.
Auch die Österreicher haben sich mit ihrer Geschichte auseinandergesetzt, sie war in ihren schrecklichsten Passagen eng mit der deutschen Geschichte verknüpft. Die Österreicher haben hier keinen Grund, weniger “Geschichtsaufarbeitung” als die Deutschen zu betreiben.
Dennoch hat man das Gefühl, dass sich eher die Österreicher als die Deutschen so etwas wie einen Sinn für Geschichte bewahrt haben. Und ganz bescheiden ein wenig stolz auf gewisse Zeiten sind. Dies hat natürlich zuweilen einen romantisch und nostalgisch verklärten Beigeschmack, wenn man etwa an die Verehrung von Kaiserin Elisabeth – Sissi – denkt. Aber liegt hier nicht auch eine gewisse identitätsstiftende Funktion für ein Volk vor? Was wäre denn Österreich und Wien ohne die goldenen alten Zeiten, auch die Zeiten der Musiker; Zeiten, die immer noch in aktuellen Kulturveranstaltungen in Österreich zum Thema gemacht werden? In Deutschland gibt es durchaus auch diesen Sinn für Geschichte, man denke etwa an die Verehrung von König Ludwig II von Bayern in Bayern.
Aber dennoch hat man den Eindruck, dass dieser historische Sinn bei den Österreichern, und insbesondere den Wienern, eine größere Verbreitung und Verwurzelung im Alltag hat. Über einige neidische Blicke der Deutschen zu ihrem Nachbarland braucht man sich da nicht zu wundern. Der Fokus auf gewisse historische Epochen – die schlimmste ist bekannt – ist in Deutschland wesentlich stärker präsent als in Österreich. Auch ihre Instrumentalisierung; wer auf die schlimmen Zeiten in mahnerischer Manier hinweist, befindet sich schon im Recht. Aber ist Mahnung allein für Menschen identitäts- und sinnstiftend? Das Instrumentelle ist hierbei ja wieder das Externe, das sich wegen seiner Falschheit erst recht nicht verinnerlichen lässt. Wenn positive Rückbesinnung auf Geschichte, gerade auf positive Traditionen – was diese genau sind, bedürfte noch der Klärung, dass es sie nicht geben sollte, ihrer ebenfalls – nicht mehr stattfindet, nicht mehr stattfinden darf, und unter dem Generalverdacht der Ignoranz, Missachtung und Ausblendung der negativen, schrecklichen Phasen der Geschichte steht, wird dem Menschen die Möglichkeit genommen, einen Sinn für Geschichte – im positiven, identitäts- und sinnstiftenden Sinne – zu entwickeln. Wo dies passiert, wird dem Menschen eigentlich Geschichte entzogen, auch wenn immer wieder zurecht auf ihre schrecklichen Seiten hingewiesen wird.
So verwundert es nicht, dass viele Menschen, die Deutschland besuchen, tatsächlich das Gefühl haben, sich nur in der Gegenwart zu befinden, und dass die Vergangenheit eigentlich ausgeschlossen ist, auch wenn sie paradoxerweise in Mahnmalen ständig präsent zu sein scheint. Dieselben Menschen, die Österreich, und insbesondere Wien, besuchen, haben dieses Gefühl nicht.
S. auch Friedrich Nietzsche, 1874: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben.
Vielleicht liegt hier auch mit ein Grund für die Tatsache vor, dass die Deutschen soviel reisen, zum Beispiel nach Österreich. Aber auch in viele andere Länder, bekanntlich sind die Deutschen Reiseweltmeister.
Da sie Identitäts- und Sinnstiftung – und die Geschichte soll hier nach dem oben Gesagten auch als ein wichtiger Faktor hierfür gelten – in ihrem eigenen Land nicht erfahren und diese vermissen, zieht es sie in andere Länder, in denen die Menschen ein “natürliches” Verhältnis zu ihrer Geschichte haben. Dort finden sie, was sie insgeheim, vielleicht auch unbewusst, vielleicht auch ganz bewusst, suchen. Sie bekennen sich zu den Traditionen des jeweiligen Landes, das sie bereisen, sie fühlen sich von ihnen angezogen.
Vielleicht liegt hier aber auch ein Grund für die psychischen Probleme vieler Deutscher vor: Historische Sinn- und Identitätsstiftung wird im eigenen Land nicht gefunden, es findet infolgedessen eine Flucht in viele andere Länder und Welten mit historischen Traditionen statt; letztlich bleiben sie jedoch heimatlos, eigentlich sind sie nirgendwo so richtig zuhause.
Das gilt auch für die Deutschen, die auswandern. Vielleicht wandern viele von ihnen auch deshalb aus, da sie die Hoffnung aufgegeben haben, und es für aussichtslos und utopisch halten, dass sich irgendwann in Deutschland einmal eine solche Identitäts- und Sinnstiftung auf eine natürliche Art und Weise entwickeln könnte. Paradoxerweise führt die Auswanderung jedoch wiederum dazu, dass sich die Aussicht auf eine Besserung der Verhältnisse noch verschlechtert, da die wenigen, die den Missstand erkannt haben und zum Anlass für eigenes Engagement – wie auch immer dieses aussehen möge – nehmen könnten, dann nicht mehr in Deutschland sind. Und wo ein solches Engagement ja naheliegenderweise stattfinden müsste.
Nun lässt sich einwenden, man könne sich als Deutscher ja auch als Europäer oder Weltbürger fühlen, viele Deutsche tun dies ja auch mitunter ganz bewusst.
Dies ist sicherlich in gewisser Hinsicht richtig, denn man ist ja schließlich als Deutscher auch Europäer und Weltbürger, und dies nicht nur, weil man in Zeiten der Globalisierung lebt. Wobei aber hier wiederum zu fragen ist, ob bei der verbreiteten Globalisierungstendenz nicht die Gefahr besteht, dass die landesspezifischen identitäts- und sinnstiftenden Traditionen aus dem Blickfeld verloren gehen und sich so etwas wie ein weltweiter American Way of Life durchsetzt, inklusive des allgegenwärtigen Englisch, dem sich die ganze Welt verpflichtet fühlt. Wenn man um die Welt jettet, sehen sich letztlich doch alle Flughäfen, Hotels und Fußgängerzonen sehr, sehr ähnlich, da es dort zum Beispiel dieselben Hotel- und Boutiquenketten gibt.
Wie ist es, wenn man nun sagt, man fühle sich nicht in erster Linie als Deutscher, sondern als Europäer oder Weltbürger, und die eigenen landesspezifischen Traditionen sind nicht so wichtig, oder man könne ganz auf sie verzichten? Immer vorausgesetzt, es gibt diese identitäts- und sinnstiftenden Traditionen überhaupt und sie werden gekannt oder “gepflegt” – dass es sie überhaupt nicht geben sollte, bedürfte allerdings auch eines schwierigen Beweisganges.
Nun, man muss gleichzeitig nüchtern feststellen, dass sich Franzosen in erster Linie als Franzosen und Italiener in erster Linie als Italiener fühlen (weitere Beispiele ließen sich problemlos nennen). Sie fühlen sich im Gegensatz zu den Deutschen also erst in zweiter Linie als Europäer oder Weltbürger. Und man muss ebenso nüchtern feststellen, dass die Menschen anderer Länder durchaus ihre eigenen landesspezifischen Traditionen kennen, achten und pflegen, und sich erst in zweiter Linie als Europäer und Weltbürger fühlen. Was wiederum zu dem voreiligen Schluss führen könnte, dass sich die Deutschen offenbar besonders als Europäer oder Weltbürger fühlen. Fühlen sie sich nun besonders als Europäer oder Weltbürger, weil sie sich wirklich mit europäischen und kosmopolitischen Traditionen identifizieren, oder fühlen sie sich als solche, weil es einen Mangel oder eine Unkenntnis eigener landesspezifischer Traditionen gibt, und sie sich infolgedessen gar nicht mit etwas identifizieren können, was es nicht gibt oder unbekannt ist?
Es müsste doch eigentlich irgendwie frustrierend sein, immer dieses selbstbewusste Auftreten der europäischen Nachbarn oder der Bewohner anderer Länder der Welt zu erleben, und immer nur wohlwollend (natürlich auch zurecht, denn die Kulturen anderer Länder sind als solche zu respektieren, über die Details lässt sich natürlich in dem einen oder anderen zweifelhaften Fall streiten) anzuerkennen, aber gleichzeitig bei sich selbst diesen Mangel festzustellen. Die Anderen haben dann eben die landesspezifischen, europäischen und kosmopolitischen Traditionen, die Deutschen haben eben dann nur die europäischen und kosmopolitischen Traditionen. Kann man sich da wirklich glücklich fühlen, wenn man anerkennen muss, dass man aufgrund dieses Umstandes in der Welt schon irgendwie als unnatürlich wirkender Sonderling gelten muss? Damit zusammenhängend gibt es dann auch so einer Art Passivität des teilnahmslosen Bewunderns der Anderen. Die ein oder andere Frage der Anderen nach den eigenen landesspezifischen Traditionen lässt sich vielleicht an der ein oder anderen Stelle noch beantworten, aber mitunter mit einem mulmigen Gefühl, oder sie lässt sich eben nicht beantworten, mangels Existenz oder Kenntnis derselben.
Man ist versucht, eine mögliche Erklärung für diese Geschichtsferne in dem großen Einfluss der 68er-Bewegung auf die deutsche Gesellschaft zu sehen. Die 68er-Generation hat sich von ihrer Vätergeneration bewusst distanziert, natürlich aus absolut nahe liegenden Gründen. Denn wenn es viele Väter gab, die zwischen 33 und 45 Schlüsselpositionen inne hatten, und wichtige Ämter in den 50ern und 60ern in der neuen Bundesrepublik bekleideten, so war dies natürlich zu kritisieren und zu ändern. Wenn dies aber dazu geführt hat, dass ein gesellschaftliches Klima entstand, das generell unter dem Primat der Distanz zu der Geschichte stand, ist dies bedenklich. Das Geschichtsbild der 68er im Gefolge von Marx war ja von Haus aus dadurch geprägt, dass sich die Arbeiter- und Studentenschaft von der Bourgeoisie des Establishments noch zu befreien habe. Dass hier keine Identifikation mit positiven Seiten der Geschichte mehr stattfinden konnte, war dann kein Wunder. Romantik fällt dann notgedrungen unter Bourgeoisie, selbst Goethe und Schiller.
Die Fokussierung der historischen Betrachtung auf die Zeit von 1914 bis 1945, unter deren Einfluss das gesellschaftliche Klima in Deutschland gerade unter dem Einfluß der 68er stand, verhinderte offensichtlich eine positive Identifikation mit möglichen identitäts- und sinnstiftenden Elementen der deutschen Geschichte, die es, wie in anderen europäischen Ländern auch, eigentlich geben sollte, es sei denn, die Deutschen sind per se ein Volk von Teufeln. Man denke etwa an die Verehrung von Jeanne d’Arc in Frankreich, im Vergleich etwa zu Thomas Müntzer. Niemand würde in Deutschland auf die Idee kommen, Thomas Müntzer so zu verehren wie die Franzosen Jeanne d’Arc verehren. Es gibt keine Helden in der deutschen Geschichte, und wenn, dann verehrt man sie im Stillen. Eher verehrt man als Deutscher mit den Franzosen Jeanne d’Arc. Wenn wir diese Tradition bei den Franzosen so bewundern und sogar mit zelebrieren, sollten die identitäts- und sinnstiftenden Elemente der Geschichte eines Volkes doch offensichtlich eine positive Funktion haben, die auch irgendwo mit einer gesunden Psyche der Bewohner des betreffenden Landes zusammenhängt.
Ich sehe wenig ausgewogene Selbstkritik bei den Deutschen, was ihr Verhältnis zu ihrer eigenen Geschichte angeht. Es gibt diese Selbstkritik bezüglich der negativen Episoden der deutschen Geschichte, hier wird zurecht aufgearbeitet und verarbeitet. Aber reicht dies wirklich allein aus? Hat nicht auch positive Selbstkritik, bezüglich der positiven Seiten der Geschichte, einen Sinn? Was immer diese sein mögen, aber ich bestreite, dass es sie überhaupt nicht geben sollte. Vielleicht könnten sie ja in einem Konsens gefunden werden. Wenn man sich über die negativen Seite der Geschichte in einem Konsens einig ist, was ja offensichtlich der Fall ist, sollte das doch auch für eine Konsensfindung für die positiven Seiten der Geschichte möglich sein, oder?
Wenn nicht, ist es kein Wunder, dass die Deutschen insgesamt nur eine negative Haltung zu ihrer Geschichte einnehmen können. Aber dann ist es auch kein Wunder, wenn im gesellschaftlichen Gesamtklima Geschichte nicht richtig existiert, und wenn Menschen, die Deutschland aus anderen Ländern besuchen, den Eindruck haben, dass sie sich nur in der Gegenwart befinden. Und wenn Geschichte dann in Deutschland zum Thema gemacht wird – es kann ja nur zu einem Thema gemacht werden, als notwendig nicht Verinnerlichbares, und solcherart von vorn herein Gesetztes – dann eben nur in Form der Mahnung an die negativen Seiten der Geschichte. Wodurch dann notwendig wieder Distanz entsteht, aber keinesfalls Verinnerlichung, ganzheitlicher Geschichte, mit negativen und positiven Elementen.
JM
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Beste Therapie
Wir waren gestern in der Paartherapie. Der Therapeut schlug vor, dass wir uns im Sinne eines Miteinanders doch einmal so richtig auseinandersetzen sollten. Nachdem wir anfänglich noch nebeneinander saßen, nahm jeder von uns seinen Stuhl und wir setzten uns auseinander, so weit wie möglich voneinander weg, in entgegengesetzte Ecken. Danach setzten wir uns auseinander. Das Ergebnis der Auseinandersetzung war, dass wir untereinander übereinkamen, die Auseinandersetzung zu beenden und die Auseinandersetzung zu beenden, und uns im Sinne eines Miteinanders wieder zusammenzusetzen, statt uns also auseinander- wieder aneinander- und nebeneinanderzusetzen. Wir nahmen unsere Stühle und stellten sie wieder nebeneinander hin. Und fühlten uns wohl und akzeptierten uns, so wie wir da nebeneinander saßen, und wussten, was wir aneinander haben, obwohl wir uns untereinander einmal gestritten hatten. Wir stellten fest, dass es doch gar keiner Auseinandersetzung bedurfte, sondern nur einer Auseinandersetzung. Dass also die physische Auseinandersetzung überhaupt erst eine Distanz ermöglichte, die wieder zur Nähe führte, und dass nicht die psychische Auseinandersetzung die Ursache für das Wiedereinandernäherkommen war. Schlussendlich stellten wir fest, dass man sich Psychotherapeuten künftig sparen könnte, wenn wir dann und wann eine körperliche Auseinandersetzung praktizieren.
JM
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Arbeit
Es ist in der Gesellschaft Usus, einen Menschen durch seine Arbeit und seinen Beruf zu definieren. Diese Definitionshoheit überträgt der Einzelne oft unbewusst auf sich und legt sich auf diese Art und Weise eine falsch verstandene Pflicht auf, der er sich letztlich unterwirft: Aus der externen Definition wird eine interne Selbstidentifikation. Wie schädlich dies ist, zeigt sich spätestens dann, wenn dieser Mensch arbeitslos wird. Das Fundament seiner Identifikation wird ihm unter den Füssen weggezogen, ist plötzlich fort.
Wenn wir einen Menschen kennenlernen, fragen wir recht schnell, was er denn so mache, und meinen damit eigentlich seinen Beruf, auch wenn wir dies nicht explizit aussprechen. Wenn er dann antwortet, dass er im Moment arbeitslos sei, wissen wir nicht so recht, wie wir das Gespräch fortsetzen sollen. Um uns aus dieser für alle Gesprächsteilnehmer unangenehmen Lage zu befreien, fragen wir ihn dann, was er denn früher für einen Beruf hatte. Keinesfalls fragen wir ihn, was er denn generell für Interessen hat. Dies gilt als zu persönlich. Die erste Frage gilt also dem Beruf, erst spätere Fragen gelten den Interessen, die dieser Mensch hat, wenn sie denn überhaupt gestellt werden. Eigentlich sollte es doch umgekehrt sein. Anhand der Interessen können wir beurteilen, womit sich der Mensch identifiziert. Interessen und Beruf müssen aber nicht notwendig zusammenfallen. Es ist eher selten, dass es hier zu einer absoluten Deckungsgleichheit kommt. Die sogenannte Freizeit soll nun wohl der Bereich sein, in dem man die Gelegenheit hat, diese Differenzen zwischen Beruf und Interessen zu einem Ausgleich zu bringen. Aber wenn wir dann wiederum hören, dass jemand in seiner Freizeit dieses und jenes tut, sind wir dazu geneigt, dieses Tun im Verhältnis zu seinem Beruf nur als Nebensache anzusehen, so interessant diese auch sein möge.
Die Gesellschaft wird sich hinsichtlich Arbeit und Beruf sowieso bald verändern, die Veränderungsprozesse sind ja bereits im vollen Gange. Durch das Internet und das notwendige Arbeitsgerät Computer ist es meist egal, wo sich der Arbeitende befindet. Irgendwo läuft alles darauf hinaus, dass es um Informationsverarbeitung geht. Auch in der Produktion geht es ja bereits hauptsächlich darum. Ein Schlosser an einer modernen computergesteuerten Drehmaschine baut nichts mehr mit eigenen Händen, stattdessen stellt er Informationen für eine Maschine zusammen, die dann das gewünschte Produkt erzeugt. Irgendwo geht hier natürlich auch die Identifikation mit dem Produkt verloren, die es früher im Handwerk noch gab und zuweilen noch gibt. Da ist es kein Wunder, dass die Freizeit auch irgendwo ein Ort dieses traditionell Handwerklichen ist, wo der Mensch wieder die gewohnten manuellen Herstellungsweisen sucht.
Den wenigsten Menschen nehme ich ihre Identifikation mit ihrem Beruf ab. Ich denke, ein Mensch kann gar nicht so speziell ausgelegt sein, dass er sich wirklich voll und ganz, bis in seine gesamte Persönlichkeit mit einem Beruf identifizieren kann – und sollte. Dies würde seinem Wesen widersprechen. Ein Mensch sollte auch nicht nach seinem Beruf beurteilt werden. Irgendwo ist ein Mensch auch ein universales Wesen, auch wenn er ganz spezielle Fähigkeiten hat. Ich denke, es gehört zur Pflicht eines Menschen, seine ganz speziellen Fähigkeiten zu fördern, Fähigkeiten, die er in die Wiege gelegt bekommen hat oder die er sich interessehalber selbst erarbeitet hat. Es gehört allerdings auch zu seiner Pflicht, auch seine anderen Fähigkeiten zu pflegen. Was nützt Fachbildung ohne Allgemeinbildung?
Hat der Mensch nicht auch die Pflicht Philosoph zu sein?
JM
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Psychotherapie
Der Mensch sieht sich in der Gesellschaft mit einer Vielzahl von Angeboten, Produkten und Bedürfnissen konfrontiert, die zugleich gesellschaftliche Normen darstellen, und fragt sich, ob er ihnen noch gerecht wird. Die Einsicht, ihnen nicht gerecht zu werden, ist für ein konsumorientiertes Individuum eine schreckliche Erkenntnis. Um diese Erkenntnis – die natürlich eine falsche ist, das Individuum weiß es nur nicht – zu relativieren, sucht es zur Selbstberuhigung jemanden, der ihm aufzeigt, dass die Abweichung von der Norm gar nicht so gravierend ist, und der ihn wieder auf den wahren Weg der richtigen Bedürfnisbefriedigung bringt.
Beispiele gibt es so viele, wie es Bedürfnisse gibt:
* Ich fühle mich allein und suche Freizeitkontakte und einen Partner – Es gibt zahlreiche Freizeit- und Partnerbörsen in Zeitungen, Zeitschriften und im Internet, in denen Sie Leute kennenlernen können. (Dass das Alleinsein für ein Individuum auch einen Sinn haben und wichtig für ein ausgeglichenes und erfülltes Leben sein kann, steht hierbei nicht zur Debatte, es passt nicht in die Konsumwelt, denn es würde Verzicht, letztlich Konsumverzicht, bedeuten.)
* Ich reise nicht mehr so viel – Dann reisen Sie doch, fahren Sie viel weg, im Urlaub gibt es viele Sozialkontakte.
* Ich bin in keinem Verein – Dann gehen Sie doch in Vereine, dort haben Sie viele Sozialkontakte.
* Manchmal bin ich in einem Geschäft, sehe ein Produkt und weiß nicht so recht, ob ich es mir kaufen soll, auch wenn ich es mir leisten kann – Dann kaufen Sie es sich doch und erfüllen Sie sich den Wunsch.
* Ich ecke oft bei Leuten an – Sie müssen schon Rücksicht nehmen.
Ich glaube, manche Therapeuten merken noch nicht einmal, dass sie sich selbst zu Erfüllungsgehilfen einer Konsumgesellschaft machen.
Psychotherapie ist selbst ein Teil dieser Konsumgesellschaft. Sie kann wirtschaftlich besser überleben, wenn sie selbst, wie das System auch, immer wieder neue Bedürfnisse künstlich erzeugt, die konsumiert werden sollen. Sie muss selbst dazu aber gar nicht so viel beitragen, da die Gesellschaft selbst ja automatisch die Probleme und Pseudoprobleme der Bedürfniskonsumenten erzeugt. Probleme, die zu einem Großteil gar nicht existieren würden, wenn es nicht so viele überflüssige Bedürfnisse gäbe.
Bedürfnisse können insofern konsumiert werden, da schon in der Kenntnis des Bedürfnisses eine Vorfreude besteht, die konsumiert wird. Jemand meint, dass ein gesellschaftlich etabliertes Bedürfnis für ihn wichtig sei, und sucht sich jemanden, den Psychotherapeuten, der ihm bestätigt, dass es sich um ein wichtiges Bedürfnis handelt. Und derjenige freut sich dann, merkt aber nicht, dass es gar kein wichtiges Bedürfnis ist, was ihn als Individuum wirklich erfüllt, sondern dass es ein durch die gesellschaftlichen Strukturen etabliertes Bedürfnis ist. Würden die Leute heute auf die Idee kommen, sich alle zu piercen oder zu tattooen, wenn dies nicht ein gesellschaftliches Massenphänomen wäre? Ein Therapeut, der selbst gepierct oder tattoot ist, ist hier eine wunderbare Bestätigung. Aber braucht man Piercing und Tattoos wirklich für seine persönliche, individuelle Erfüllung? Die Menschen meinen immer, die Lösungen ihrer Probleme würden sich schon irgendwo in der Gesellschaft finden. Schaut, diese glücklichen Leute. Warum sind die so glücklich? – Weil sie dies und jenes haben. Aber sind sie auch etwas?
Der Mensch ist sein eigenes Projekt. Ich bin aber nur insofern, wenn ich nicht auf das Wert lege, was viele andere haben. Wenn ich das Haben hochhalte, mache ich mich gleich.
Gefragt ist ein Menschenbild, das einen Bezug zur Welt als Gesamtheit hat. Hier liegt die Chance und die Berechtigung für die Philosophen als Psychotherapeuten. Und es gibt ja auch schon eine wachsende Zahl philosophischer Praxen. Es geht eben auch um das Ganze, nicht nur um das Individuum und sein direktes persönliches Umfeld. Es geht auch um die Gesellschaft. Wie weit bestimmen uns oder behindern uns gesellschaftliche Strukturen bei unserer Selbstentfaltung? Inwiefern sind wir Sklaven dieser Konsum- und Bedürfnisindustrie?
Mit der Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse ändert sich offensichtlich auch der Kanon dessen, was als psychische Krankheit angesehen wird und was nicht. Dies sagt etwas über unsere Gesellschaft aus. Etwas, das alle oder viele Individuen einer (Konsum-) Gesellschaft betrifft, wird schon gar nicht mehr als krank wahrgenommen, nicht mehr als Krankheit eingestuft. Ganz im Gegenteil: Wer nicht so ist, wie die meisten, wer sich (dem Konsumdruck) entzieht, gilt als Sonderling. Insofern sind wir alle Hysteriker, hysterisiert durch die vielen, angeblich zum Glücklichsein notwendigen Produkte und damit verbundenen Bedürfnisse. Und da wir alle Hysteriker sind, bedarf es keiner Erwähnung der Hysterie mehr.
Die Psychotherapie und insbesondere die Psychoanalyse gebahren sich vielerorts noch so, als ob es ein von der Gesellschaft isoliertes Individuum gäbe. In den Fokus der Aufmerksamkeit kommt dann nur das engste Umfeld des Individuums: Mutter, Vater, Geschwister, Familie. Die Gesellschaft ist was Kompliziertes, etwas per se nicht Überschaubares.
JM
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Rauchen
Das Rauchen ist natürlich gesundheitsschädlich – zumindest für den Körper.
Über den Schaden für die Psyche lässt sich streiten. Eine psychische Abhängigkeit ist dann gegeben, wenn man sich nur noch mit einer Zigarette entspannt fühlt, auch wenn man durch die äußere Umgebung eigentlich an sich schon entspannt sein sollte. Wenn man also etwa in einer herrlichen Landschaft auf einer bequemen Bank sitzt und dennoch das Verlangen nach einer Zigarette hat. Aber auch hier gibt es Raucher, die die Zigarette als zusätzlichen Entspannungseffekt ansehen. Der Entspannung wird sozusagen noch einmal die Krone aufgesetzt. Dies lässt sich aber auch negativ sehen: Vielleicht ist es für manche Raucher eine schreckliche Erfahrung, in einer solchen Situation ohne Zigarette nicht schon entspannt zu sein, wie es eigentlich normal wäre. Das Rauchen ist dann eine Reaktion auf die Erkenntnis des Nichtentspanntseinkönnens. Denn wann sollte man denn sonst überhaupt noch entspannt sein, wenn nicht in so einer Atmosphäre? Die folgende Zwangsentspannung durch das Rauchen ist dann die einzige Entspannung, natürlich eine geringere. Denn wenn per se kein Gefühl für den möglichen entspannenden Effekt einer schönen Landschaft da ist oder dieses unbewusst nicht zugelassen wird, kann dieses durch das Rauchen auch nicht entstehen, es wird allenfalls herbeigesehnt. Das Rauchen repräsentiert dann vielleicht noch zumindest den Wunsch, entspannt sein zu wollen. Und der Raucher schaut dabei die Landschaft an und bildet sich ein, dass er nur sie wirklich genießt und erst in zweiter Linie die Zigarette, übersieht dabei aber oder will sogar übersehen (bewusst oder unbewusst), dass die Zigarette ursächlich dafür war, dass so etwas wie ein Entspannungsgefühl überhaupt aufkam.
Manche Raucher, vielleicht sogar viele, versetzen sich absichtlich künstlich in einen Zustand leichter Nervosität, vergessen anschließend oder wollen vergessen, dass sie diesen Zustand selbst absichtlich herbeigeführt haben, meinen oder bilden sich ein zu meinen, dass sie wirklich nervös seien, wissen nicht oder bilden sich ein, nicht so recht zu wissen warum, haben damit zusätzlich einen Grund noch nervöser zu sein, um schließlich eine Rechtfertigung für das Anstecken einer Zigarette zu haben, die ja wiederum dem Zweck dienen soll, die aufgekommene Nervosität zu mildern. Nervosität als Überdeckung der Sucht. Man spürt es förmlich, wie dieser Raucher ganz langsam, erst innerlich und dann äußerlich, leicht nervös wird. Er fängt an zu hantieren, bis er schließlich die Schachtel Zigaretten oder das Feuerzeug in der Hand hat, sich die Zigarette in den Mund steckt und schließlich nach dem ersten Zug einen Gesichtsausdruck der Erleichterung macht. Ähnliche Beobachtungen macht man bei Genießern von Alkohol, pardon, von Wein oder Bier. Der Unterschied ist, dass man sich im Prinzip zu allen Zeiten, wenn man Lust dazu hat, eine Zigarette anstecken kann, aber nicht zu allen ein Glas Wein oder Bier trinken kann.
Gehört es nicht auch zum Wesen der Entspannung, nicht selbst zusätzlich aktiv werden zu müssen, damit sich Entspannung einstellt? Rauchen ist Aktivität, Nichtrauchen nicht: Der Aktivitätsgehalt der Aussage “Nichtraucher rauchen nicht” und “Raucher rauchen” ist unterschiedlich zu bewerten; Tun und Unterlassen sind nicht identisch. Die Raucher hätten wohl gern, dass auch Nichtraucher durch ihre “Aktivität Nichtrauchen” – die natürlich nur eine scheinbare Aktivität ist – in einer aktiven Position sind, damit sie sich auf einer vergleichbaren Ebene wie die Raucher bewegen. Das ist ein raffinierter argumentativer Trick der Raucher.
Rauchen beeinflusst die Umgebung negativ, Nichtrauchen nicht. Hier gibt es natürlich Ausnahmefälle, zum Beispiel wenn sowieso nur Raucher anwesend sind. Statistisch gesehen beeinflussen jedoch in der Mehrzahl der Fälle Raucher ihre Umgebung öfter negativ als Nichtraucher ihr Umfeld negativ beeinträchtigen. Wo sollte auch eine Grenze des Zumutbaren sein? Sollen zehn Nichtraucher Rücksicht auf das Rauchbedürfnis eines starken Zigarrenrauchers nehmen?
Die Eigenaktivitäten derjenigen, die sich nur durch diese Aktivitäten entspannen können, sind zu kritisieren, wenn sie andere Menschen stören, die solche Aktivitäten für ihre Entspannung nicht brauchen. Es mag jemanden, der gerne viel pfeift, glücklich machen, dass er viel pfeift, viele Menschen, die sich das Gepfeife anhören müssen, stört es. Passivität kann aber nicht in dem Sinne als für den Anderen störend bewertet werden. Würde man etwa behaupten, dass einen das Nichtrauchen eines Nichtrauchers stört? Etwa so wie das Rauchen eines Rauchers?
Raucher sind dazu angehalten, ihre Eigenaktivität Rauchen einzuschränken und anzuerkennen, dass Andere einer solchen Eigenaktivität nicht bedürfen. Wer ins Restaurant geht, geht in erster Linie dorthin, um gut zu essen, und nicht zum Essen und Rauchen. Wer in ein Konzert geht, geht dort wegen der Musik hin und nicht wegen des zusätzlichen Rauchens, etc. Allen möglichen Aktivitäten lässt sich noch zusätzlich das Rauchen aufsetzen, aber muss dies dann von Nichtrauchern als normal akzeptiert werden?
Wollen Raucher vielleicht auch durch ihre Rauchaktivität immer alles im Griff haben und immer Herr der Lage sein? Vielleicht befriedigt sie es, sich selbst zum Urheber der Entspannungssituation zu machen. Das geht ja auch leicht: Man braucht sich nur immer eine anzustecken. Und das hat dann die Ursache der Entspannung zu sein, keinesfalls etwas Anderes, jenseits des Subjekts Liegendes.
Rauchen bedeutet auch, sich eine Auszeit zu gönnen. Die Pause korreliert mit dem Akt des Rauchens, sie wird eingeläutet durch das Anstecken einer Zigarette. Die Utensilien dieser Raucherpause fangen beim Feuerzeug an, hier kann der Raucher seinem individuellen Geschmack nachgehen, und hören beim Aschenbecher auf. Er kann sich die Zigarette mit großer Flamme mit einem schönen Benzinfeuerzeug anzünden und so schon das Anzünden zu einem Akt für sich machen. Auch das ganze Hantieren mit den Zigaretten und Zigarettenutensilien scheint viele Raucher schon zu befriedigen. Wenn dieses Hantieren aber dann letztlich dazu führt, dass sich derjenige tatsächlich eine Zigarette ansteckt, obwohl er eigentlich gar nicht rauchen wollte, ist dies irgendwo zu hinterfragen. Manche zögern diesen Prozess des Ansteckens und des Hantierens mit den Utensilien auch unendlich lange hinaus, so dass man sich fragt, wann sich derjenige denn nun endlich eine ansteckt.
Manche reden beim Rauchen auch viel. Man kann beobachten, dass sie mehr reden als wenn sie nicht rauchten. Hier geht das Sich-eine-Pause-gönnen mit einem Aus-sich-Herausgehen-Können-und-Dürfen einher. Die entspannte Situation ist der Freibrief für das freie Reden. Noch dazu, wenn der Gesprächspartner auch raucht und auch viel redet. Hier kommt es zu einer wahrhaften Gesprächsspirale. Auf der anderen Seite gibt es Genussraucher, für die ein wahrhafter Genuss einer Zigarette in einem Gespräch undenkbar wäre. Nur wenn dieser Mensch mit sich allein ist, kommt es für ihn zum wahren Genuss. Wo dies stattfindet, ist meist unerheblich, der Raucher kann seine Umgebung völlig vergessen, sie kann beim Rauchen aber auch Inspiration sein.
Je länger man eine Zigarette raucht, desto rauchschwerer wird das Rauchen. Die Glut nähert sich dem Mund bzw. dem Filter, der Rauch wird schwerer. Am Anfang ist das Rauchen noch luftig, der beste Genuss findet wohl irgendwo in der Mitte einer Zigarette statt. Manche haben auch nichts dagegen, wenn sich die Zigarette nicht sofort anzünden lässt, sie haben dann einen Grund, länger mit dem Feuerzeug zu hantieren. Aus demselben Grund haben sie auch nichts dagegen, wenn die Zigarette zwischendurch einmal ausgeht. Das Wiederanzünden bereitet Freude und wird den Hantierungsbedürfnissen gerecht.
Raucher kommen schnell ins Gespräch, zum Beispiel wenn das Feuerzeug vergessen wurde oder nicht funktioniert. Ungesprächige Menschen interpretieren die Frage nach Feuer zuweilen als Anmache. Manchmal handelt es sich auch tatsächlich um eine solche, vor allen Dingen in Lokalitäten, in denen man damit rechnen sollte. Die Frage nach Feuer wird wohl von Männern häufiger gestellt als von Frauen. Aber vielleicht rauchen Männer ja auch grundsätzlich mehr, so dass sich ein Schluss auf die Anmachhäufigkeit hier nicht erlaubt.
Mit Filter oder ohne? Die Einen haben gerne Tabak im Mund, die Anderen nicht. Letztere meinen mitunter, durch den Filter noch etwas für ihre Gesundheit zu tun. Oder indem sie sogenannte “leichte” Zigaretten rauchen. Die Ersteren sind oft Puristen, sie nehmen die stärkeren Werte in Kauf. Dann gibt es noch größere Puristen, die den Tabak gern in die Hand nehmen, sie drehen sich ihre Zigaretten selbst. Das Drehen ist dabei ein Akt für sich, als ob sich der Raucher dem Tabak annähert, ihn prüft, an ihm riecht und ihn schließlich für gut befindet. Dies ist auch irgendwo ein Arbeitsakt, der Raucher hat das Gefühl, für sein Rauchen etwas getan und eine Vorarbeit geleistet zu haben. Diese Arbeit wird letztlich durch das Anstecken und minutenlange Rauchen nach minutenlangem Drehen belohnt. Die psychologischen Subtilitäten des Rauchens sind unerschöpflich.
Rauchen ist auch eine Lebenshaltung: Ich gönne mir Auszeiten, wann ich will. In diesen Zeiten mache ich nichts, außer Rauchen. Die Tätigkeit des Rauchens befreit von anderen, mitunter unangenehmen Tätigkeiten.
Morgens nach dem Aufstehen die erste Zigarette, mit einem Kaffee. Dies ist für viele Raucher die beste Zigarette des Tages. Dann geht’s zur Arbeit. Je nachdem, wie man dorthin gelangt, mit der Bahn oder dem Auto, ergeben sich unterschiedliche Szenarien. Das Warten auf den Zug wird durch eine Zigarette verkürzt, hier kann es dann am Bahngleis zur zweiten Zigarette auch der zweite Kaffee sein. Diese zweite Zigarette wird im Gegensatz zur ersten im Freien genossen, auch der Kaffee. Manche halten auch diese zweite Zigarette für die beste des Tages. Für manche ist es sowieso erst die erste Zigarette, da sie morgens nach dem Aufstehen zuhause nicht rauchen. Hier liegt ein Kriterium für einen Genussraucher vor. Der abhängige Raucher steckt sich morgens nach dem Aufstehen so schnell wie mögliche eine an.
Im Auto ergibt sich das Rauchen oft im Stau, es wirkt entspannend: Protest gegen die Umgebung. Schaut, trotz allem Stress im Stau nehme ich mir eine Auszeit. Auch das Anstecken der Zigarette mit dem Zigarettenanzünder des Autos ist irgendwo eine willkommene Abwechslung im Vergleich zum gewöhnlichen Feuerzeug. Auch dieser merkwürdige Gegensatz aus Fahren und Stehenbleiben, das Stehenbleiben wird durch die Zigarette bzw. ihren Pausensymbolwert repräsentiert. Rauchen im Auto wie Gott in Frankreich in einem französischen Auto mit einer französischen Zigarettenmarke; Laissez faire – Rauchen ist Lebensstil. Das Rauchen begleitet andere Formen des Genusses. In Wien oder anderen Städten sind es die Kaffeehäuser, hier passt auch eine Pfeife oder Zigarre, die in einem Auto irgendwie unpassend wirkt.
Am Arbeitsplatz wird in der Regel in den Pausen geraucht, wenn im Büro das Rauchen nicht erlaubt ist. Entweder gibt es Raucherräume oder zugewiesene Plätze im Freien. Wenn im Büro geraucht werden darf, geschieht dies natürlich auch oft. Bei den Einen ständig, da gehört das Rauchen (und Kaffeetrinken) zur Arbeit dazu. Bei den Anderen wird geraucht, wenn eine Stresssituation vorliegt, die durch den Entspannungseffekt des Rauchens abgemildert wird oder zumindest abgemildert werden soll. Wieder Andere sind reine Genussraucher, sie genießen wenige Zigaretten am Tag.
Die Einen rauchen mehr im Urlaub, die Anderen mehr bei der Arbeit. Jemand, der Genussraucher ist, wird im Urlaub noch mehr Freude am Rauchen haben. Jemand, der während der Arbeitszeit viel raucht, schafft es umgekehrt, im Urlaub nicht oder weniger zu rauchen.
Vor der Mittagspause, generell vor Mahlzeiten, rauchen starke Raucher sowieso, da sie wissen, dass das Essen eine gewisse Zeit in Anspruch nimmt und dass sie während dieser Zeit nicht rauchen können. Dies ist auch der Grund, warum nach dem Essen recht schnell wieder geraucht wird. Das Rauchen in Restaurants ist für Genussmenschen, auch Raucher, eigentlich eher unangenehm, da es negativ auf das Essen abfärbt. Der Qualm dominiert die Räumlichkeiten. Dem Vielraucher ist es aber oft egal, so sind Konflikte vorprogrammiert. Es ist schon verwunderlich, mit welcher Selbstverständlichkeit sich manche Raucher bei unpassenden Gelegenheiten eine anstecken. Andererseits ist es auch verwunderlich, wie lange manche Esser essen und so (absichtlich?) das Rauchen der Vielraucher verhindern.
Es gibt Kettenraucher, die drei Schachteln Zigaretten pro Tag rauchen, und es gibt Raucher, oft Genussraucher, die schon Probleme bekommen, wenn sie nur eine Schachtel pro Tag rauchen. Viele inhallieren den Rauch richtig ein, sogenannte Lungenzüge. Hier ist das Rauchen wie so eine Art Atmen. Sie brauchen dieses leicht stechende Gefühl im Bronchialraum. Genussraucher rauchen weniger auf Lunge, sondern spielen mit dem Rauch im Mund- und Nasenraum, paffen auch zuweilen nur. Manche Vielraucher werden uralt, manche Wenigraucher sterben jung. Manche bekommen auch Lungenkrebs, obwohl sie in ihrem Leben nie eine Zigarette angefasst haben. Immer mehr Jugendliche rauchen, dies ist auch irgendwo ein Zeichen dafür, dass die Werbebotschaften der Zigarettenindustrie trotz aller Verbote immer noch bei den Jugendlichen ankommen.
Welche Marke? Die älteren Raucher wohl die gewohnten Marken, denen sie treu geblieben sind und die bei den jungen Rauchern als altmodisch gelten und über die sie sich zuweilen lustig machen. Wer eine bestimmte Marke raucht, gilt als altmodisch oder weltfern. Wer also bewusst altmodisch wirken will, kann ruhig altmodische Zigaretten rauchen, auch wenn er genauso gut moderne Zigarettenmarken rauchen könnte. Die jungen Raucher bevorzugen Marken, die in sind, in der Regel amerikanische Zigarettenmarken oder etablierte amerikanische Marken, die in einem neuen Gewand daherkommen und eine neue Mode anzeigen.
Rauchen führt zu Herzproblemen, aber selbst Raucher, die einen Herzinfarkt hatten, rauchen weiter, vielleicht ein bisschen weniger als vorher. Warum? – Weil sie dieses Lebensgefühl brauchen, diesen Entspannungseffekt, diese Auszeit, dieses Nichts in der Hektik des Alltags? Fehlt dem Leben nicht irgendwo etwas ohne das Rauchen? Das Rauchen muss dem Raucher doch viel bedeuten, wenn er für das Rauchen bereit dazu ist, sein Leben auf’s Spiel zu setzen. Wäre nicht jeder Raucher bereit dazu, auf ein Jahr seines Lebens zu verzichten, wenn er nur weiter rauchen dürfte, und wäre es für ihn nicht unerträglich, sein Leben lang nicht rauchen zu dürfen, wenn es dafür nur ein Jahr länger dauerte?
Wenn Toleranz das oberste Gebot wäre, bedürfte es keines Gesetzgebers, der sich dazu genötigt sieht, Gesetze zu erlassen, die Nichtraucher vor Rauchern schützen. Die Frage, ob Rauchen eine Sucht ist oder nicht, oder was Raucher oder Nichtraucher unter welchen Umständen entspannt, ist dabei sekundär. Der Mensch besteht schließlich auch noch aus Fleisch und Blut, insbesondere aus Lungen, in denen sich die schädlichen Endprodukte des Rauchens unabbaubar ansammeln. Hier entscheidet sich der Gesetzgeber, übrigens zurecht, für die Geltung einer objektiv vorliegenden Realität, die höher als die psychische Bedürfnisrealität bewertet wird. Es kann also durchaus von Vorteil sein, sich einmal nur auf den Körper zu konzentrieren und die Psyche und ihre Bedürfnisse beiseite zulassen. Zumal der Körper die notwendige Voraussetzung für die Existenz einer Psyche ist.
JM
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Ein ganz normaler Tag
Ich schaute aus dem Fenster, nachdem ich früh am Morgen erwachte. Es war Sommer, der Himmel war klar und die rötliche Morgendämmerung berührte mich.
Ich trank eine Tasse Kaffee, auf das Frühstück verzichtete ich, da ich es später im Zug einnehmen wollte. Ich hatte in Zürich etwas Geschäftliches zu erledigen. Ich hätte auch nach Zürich fliegen können, aber eine Zugfahrt reizte mich mehr, zumal ich schon länger nicht mehr Zug gefahren bin, den ganzen Tag Zeit hatte und der Termin erst für abends angesetzt war. Der EuroCity 7 von Hamburg nach Chur fuhr pünktlich um fünf Uhr morgens in Hamburg ab. Ich hatte mir einen Platz in einem Erste-Klasse-Abteil gegönnt. Recht schnell schlief ich auf dem bequemen Sessel ein und träumte von meiner Heimatstadt Hamburg, in der ich mein ganzes Leben verbrachte. Irgendwie bin ich doch immer ein typischer Norddeutscher und kühler Hanseat geblieben. Um sechs, als der Zug in Bremen eintraf, wachte ich auf. Auch so eine norddeutsche Stadt. Was unterscheidet Norddeutsche eigentlich von Süddeutschen, oder Nordländer im Allgemeinen von Südländern?
Ich entschied mich für ein schönes Frühstück, stand auf, ging in den Restaurantwagen und bestellte eine reichhaltige Frühstücksplatte. Ich hätte auch gern eine Zigarette geraucht, aber dies war im Zug ja nicht möglich. Ich überlegte mir, ob ich in Osnabrück, dem nächsten Halt, schnell auf den Bahnsteig gehen sollte und wenigstens ein paar Züge außerhalb des Zuges nehmen sollte, gab dieses Vorhaben jedoch wieder auf, da der Zug wahrscheinlich nur zwei Minuten halten würde.
Beim Ausfahren aus dem Osnabrücker Bahnhof fiel mir das Stichwort Brücke ein. Was sind die Brücken meines Lebens? – Die Frauen, mit denen ich Beziehungen hatte? Ich habe mich immer als ganzer Mann gefühlt, aber viele Frauen hatte ich nicht. Meine Beziehungen waren immer von einer Unruhe geprägt, die darin begründet war, es immer allen recht machen zu wollen, was unmöglich durchgehend gelingen konnte.
Beim Einfahren in den Bahnhof Münster fiel mir spontan der Begriff Frieden ein, dies kam wohl durch die naheliegende Assoziation, diese Stadt mit dem westfälischen Frieden zu verbinden. Mein Leben war wirklich unruhig. Werde ich endlich einmal einen Frieden finden, von dem ich meine, ihn verdient zu haben?
Um acht fuhr der Zug im morgendlichen Berufsverkehr in Dortmund ein. Hier musste ich an meine Arbeit denken, was wohl durch die Verbindung Ruhrgebiet-Arbeit zustande kam. Ich habe zeitlebens hart gearbeitet. Zu viel.
Beim Ausfahren aus dem Bahnhof sah mir ein Mann, der am Gleis stand, tief in die Augen. Ich fragte mich, ob dies wegen des reichhaltigen Frühstückstisches ein neidvoller Blick war oder ob er nur mein Gesicht interessant fand. Ich weiß es nicht. Manche Dinge wird man wohl nie erfahren, insbesondere nicht, wie und was welche Menschen, denen man im Leben begegnet ist, wirklich über einen gedacht haben, ob privat oder im Beruf.
Bei der Einfahrt in den Essener Hauptbahnhof beschloss ich, den Restaurantwagen zu verlassen und wieder ins Abteil zurück zu gehen. Inzwischen hatte sich eine schwarzgekleidete Frau auf den gegenüberliegenden Platz gesetzt. Wo sie wohl einstieg? Ich begrüsste sie mit einem freundlichen “Guten Morgen”, bekam aber nur einen nüchternen “Guten Tag” zurück. Sie schaute wie ich aus dem Fenster. Eine Gesprächseinleitung wollte mir partout nicht einfallen, ich hatte aber dennoch die Hoffnung, dass es irgendwann einmal mit einem Gespräch klappen könnte.
Am Horizont erschienen die mächtigen schwarz-braunen Türme des Kölner Doms. Welche Rolle hat die Religion eigentlich in meinem Leben gespielt? Nur in letzter Zeit hat sie mich eigentlich wirklich interessiert, vielleicht lag es an meinem fortgeschrittenen Alter. Was wäre ich eigentlich für ein Mensch, wenn ich nicht in Hamburg, sondern in Köln aufgewachsen wäre? Wäre statt des kühlen Hanseaten eine rheinische Karnevalsfrohnatur aus mir geworden? – Eine andere Stadt, ein anderer Mensch. Oder wenn ich nicht in einer Großstadt, sondern auf dem Land aufgewachsen wäre?
Dann ging es durch das schöne Rheintal über Bonn (war mein Leben “bon”?) und Koblenz nach Mainz. Gegenüber dem Loreley-Felsen musste ich an meine letzte Beziehung denken. Ich sagte mir, dass es wirklich meine letzte war, ich musste und wollte danach allein mit mir selbst auskommen. Wer kennt einen Menschen schon richtig? Jeder trägt sein Lebensgeheimnis mit sich, es ist nicht mitteilbar. Die Kunst des Lebens ist es wohl, mit dieser Einsicht zurecht zu kommen und sich dieser unüberwindlichen Einsamkeit zu stellen. Noch nicht einmal ein Gott wird erfahren, wie man das Leben wirklich erlebt hat.
Mittags, bei strahlendem Sonnenschein und wolkenlosem Himmel, ging es über Mannheim nach Karlsruhe. Mein Männerdasein schien mir an ein Ende angelangt, zwischen jungen und alten Männern gibt es einen Riesenunterschied. Alte Männer können so etwas wie Ruhe ausstrahlen, junge nicht in dem Maße. Durch die Kurstadt Baden-Baden ging es über das Oberrheintal und Freiburg nach Basel. Eine Kur hatte ich in meinem Leben nie gemacht, mir nie eine Auszeit gegönnt. Eine Kur kommt einem Altersgeständnis gleich, war meine Überzeugung. So richtig frei habe ich mich in meinem Leben nie gefühlt, weder in meiner Jugend noch in meinem Alter.
Bei Basel wurde die Grenze zur Schweiz überfahren. Plötzlich hatte ich wirklich das Gefühl, eine Grenze zu überschreiten. Vielleicht ist dies bei Zugreisen auch anders als bei Fahrten mit dem Auto. Ich bin wesentlich mehr Auto als Zug in meinem Leben gefahren. Im vereinten Europa fallen Autofahrten über die Grenze als Grenzfahrten schon gar nicht mehr auf.
In Zürich war es dann schließlich nach zwölf Stunden Zugfahrt Zeit auszusteigen. Der Zug fuhr noch weiter bis zur Endstation Chur in Graubünden in den Schweizer Alpen. Die Berge waren für mich Norddeutschen seit eh und je recht weit weg. Dennoch hatte ich – auch als Flachländer oder vielleicht gerade deshalb – immer wieder Sehnsucht nach ihnen. Ich verabschiedete mich von der schwarz gekleideten Frau und war ein bisschen traurig, dass kein richtiges Gespräch zustande kam. Sie schaute mich nur wortlos und ernst an, als ich das Abteil verließ. – Merkwürdiger Mensch, dachte ich mir.
Am Bahnsteig steckte ich mir eine Zigarette an und inhalierte tief. Vom Bahnhof aus ging ich dann durch die Fußgängerzone der Züricher Innenstadt. Die Menschenmassen machten einen fremden Eindruck auf mich. Es war anders als in der gewohnten Fußgängerzone meiner Hamburger Heimatstadt. Am Ende des Geschäftsviertels wurde es ruhiger. Wegen meines geschäftlichen Vorhabens suchte ich ein Haus mit einer bestimmten Nummer auf. Es war ein schöner Jugendstilbau. Dort klingelte ich an der Haustür. Der Türlautsprecher ließ eine freundliche Frauenstimme erklingen, eine, die ich mir während der Zugfahrt von meinem weiblichen Gegenüber sehnlichst gewünscht hätte: “In die erste Etage bitte”. Ich ging über die Türschwelle in ein Treppenhaus und von dort stieg ich über eine Holztreppe eine Ebene höher. In einem Empfangsbereich lächelte mich die Frau mit der freundlichen Stimme ebenso freundlich an: “Sie sind aber pünktlich”. Sie begleitete mich in einen Nebenraum. Es erhob sich ein Mann, der sowohl durch seinen Anzug als auch durch sein Auftreten einen korrekten Eindruck machte: “Bitte setzen Sie sich”. Wir unterhielten uns, er stellte mir, wie schon so oft telefonisch zuvor, die Frage, ob es mir wirklich ernst sei mit meinem Vorhaben. Die Schweizer sind eben immer sehr korrekt, nicht nur in finanziellen Angelegenheiten.
Ich war müde, legte mich hin und schaute noch aus dem Fenster in die Abendsonne.
JM
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Stiefkinder der deutschen Sprache
Neuerdings hörte ich den Begriff “Patchworkfamilie”. Der Begriff “Stieffamilie” klingt ja auch irgendwie negativ konnotiert. Das ist wohl der Beweis dafür, dass die Deutschen die Anglizismen brauchen, weil vielen deutschen Begriffen halt per se etwas negativ Konnotiertes anhaftet. Computer werden “gepatcht”, inzwischen wohl auch Menschen.
Immer wenn es eine neue Modeerscheinung gibt, die im Vergleich zur historischen Tradition an Verbreitung gewinnt, kommen schlaue Menschen daher, die Begriffe in der englischen Sprache suchen und finden. Andere schlaue Menschen sagen dann: “Ok” (“Einverstanden” wäre hier zu lang), da haben wir ja was Passendes und müssen nicht mehr so komplizierte deutsche Begriffe benutzen.
So wird eine Sprache allmählich sterben. Die Menschen trauen sich ja noch nicht einmal mehr, neue Begriffe in ihrer Muttersprache zu kreieren. Aber davon hat die deutsche Sprache jahrhundertelang gelebt. So ist zum Beispiel der Begriff “Verantwortung” ein Kind des 16. Jahrhunderts und gewann im 18. Jahrhundert größere Verbreitung. Es geht dabei um Rede und Antwort stehen. Die Menschen haben sich in früheren Zeiten somit nicht vor Substantivierungen gescheut. Heute werden die Substantive gleich in der englischen Sprache gesucht. Eine Kreation von Begriffen findet allenfalls noch im Beamtendeutsch bzw. in Gesetzesblättern statt. Vielleicht sollten die Deutschen mit ihrer Sprache einmal verantwortlicher umgehen.
Die Experten müssen schon alle aus dem tiefsten Westen – sprich dem angloamerikanischen Raum – kommen. Wie war das nochmal? – “Amerikanische Wissenschaftler haben herausgefunden” …
Haben die Deutschen ein verklemmtes Verhältnis zu ihrer eigenen Sprache? Warum finden neue Substantivierungen heute nicht mehr in der Alltagssprache statt, bzw. nur noch sehr wenig? Was ist der gesellschaftliche und soziale Kontext, der das verhindert? Warum haftet englischen Begriffen das Expertenhafte an? Zugegeben, die deutsche Sprache hat ihre Schwächen, manche Konstruktionen wirken einfach künstlich konstruiert. Die englischen kurzen Begriffe stehen per se nicht in einem bedeutungslastigen Kontext. In der englischen Sprache ist es einfach: Ein kurzer Begriff für einen Sachverhalt. Punkt. Das ist dann eben so. Im Deutschen heißt es gleich immer, ja, aber das bedeutet auch noch dieses und jenes. Das lässt sich ins Deutsche nicht übersetzen, das ist halt so, und im Deutschen ist es wieder zu speziell. Halten die Deutschen ihre eigene Sprache per se für kompliziert? Und trauen sie sich deshalb nicht mehr, neue Begriffe zu schaffen? Im Englischen entstehen doch auch neue Begriffe, übrigens welche, die dann in Deutschland übernommen werden. Ich glaube, es gibt einige Leute, die neue deutsche Begriffe belächeln, wenn eine neue Begriffskonstruktion denn einmal stattfinden sollte. Ach wie kompliziert! – Im Englischen ist das doch alles einfacher, das trifft es. Ich schätze die englische Sprache, es ist die Sprache des Business, der Technik und der Naturwissenschaften. Aber die deutsche Sprache hat auch ihre Vorteile und Stärken, zum Beispiel in der Philosophie, wo man notgedrungen mit Begriffskonstruktionen arbeiten muss. Die deutsche Sprache, mit dieser Möglichkeit der Konstruktion über Begriffsaneinanderreihungen, hat etwas Wunderbares, das andere Sprachen nicht in dem Maße haben. Man sollte mehr Mut haben. Klar, Keyworddenken ist einfacher. Und dann sagen die Leute immer: deutsche Sprache, schwere Sprache. Im Gegenteil, jemand, der Deutsch lernt, kann sich über Begriffskonstruktionen behelfen, wenn er eine Vokabel mal nicht parat hat. Im Englischen geht das nicht in dem Maße. Wenn einem da bestimmte Keywords fehlen, geht’s nicht weiter. Man weiß sie oder man weiß sie nicht, es gibt da auch keine Lernhilfen. Im Deutschen kann man sich die Bedeutung aus den Teilwörtern oft erschliessen. Natürlich lebt die deutsche Sprache, wie jede andere Sprache auch, von Einflüssen aus anderen Sprachen. Aber das ist nicht mein Point, mein Point ist, warum es in der heutigen Gesellschaft offensichtlich keine Strömungen gibt, die stärker für Begriffskreationen innerhalb des Deutschen eintreten. Irgendwann vor ein paar Hundert Jahren gab es plötzlich zum ersten mal den Begriff “Verantwortung”. Irgendwelche Leute, vielleicht auch einflussreiche Leute, sahen sich veranlasst, diesen Begriff einzuführen. Sie hätten stattdessen auch einen Begriff aus einer anderen Sprache nehmen können, so wie wir das ja heute mit dem Englischen auch tun, etwa aus dem Griechischen, Lateinischen, Französischen, Italienischen oder auch Englischen. Auch sie hätten auf Keywordsuche sein können. Waren sie aber nicht, sie führten diesen neuen deutschen Begriff einfach ein und der Begriff war in der Welt, im deutschen Wortschatz. Die gesellschaftlichen Verhältnisse zu dieser Zeit waren also offenbar derart, dass eine Begriffskreation nicht verurteilt wurde und dass man eine solche nicht ins Lächerliche zog. Heute sind die gesellschaftlichen Verhältnisse anders. Und ich frage mich, warum das so ist und ob es so sein muss. Das meinte ich mit dem Sterben von Sprache, ich meinte die immanente Kreativität der Sprache selbst. Die Kreativität einer Sprache kann natürlich auch bedeuten, dass Begriffe aus anderen Sprachen integriert werden. Ich erkenne die Wichtigkeit solcher Prozesse durchaus an, but that’s not my point.
So, ich muss jetzt Schluss machen, das nächste Meeting wartet. Für den Download hab’ ich auch keine Zeit mehr, muss nun von online auf offline schalten. Trotzdem: keep cool. Tonight, nach den vielen Blind Dates und One Night Stands erstmal ein Speed Date. Mit dem richtigen Outfit und den richtigen Piercings und Tattoos klappt das schon. Ich alter Playboy mit Pokerface, immer an der Pole Position. Aber bloß kein Quickie. Bevor ich dann mit den tollsten Airlines um die Welt jette, in die Holidays, nach meinem heavy Controlling Job im Big Business Investment. Das Online Banking mit Pincode klappt ganz gut. Da fällt mir ein: Ich muss die FAQs noch updaten. Mann, hatte ich Luck, dass ich nicht geoutsourcet wurde. Die Manager aus dem Marketing konnten mir nichts, alles Yuppies und Trendsetter, ich bin Insider und hab’ das Know How im Merchandising. Was sagte noch der Kollege aus der Abteilung Human Ressources: Ich sei ein High Potential. Der Trend geht woanders hin. Mich wegmobben? Die wollten die ganze Company übernehmen. Trotzdem scheiss Job, muss mehr Lotto playen, bei dem Game könnte ich vielleicht mal den Jackpot knacken. Aber erst noch meine Mails abchecken. Ich muss mehr Backups machen oder die Harddisk clonen. Beim letzten Booten hing der Compi (geiles High Tech Equipment, sowohl von der Hardware, als auch von der Software). Die Firewall macht auch Probleme. Muss mal die Hotline im Callcenter des Providers anrufen (scheiss Service!), vielleicht können die das fixen. Vielleicht liegt’s auch an der Receiverkarte, am Motherboard, am Router, an der Switch, am Server oder sogar nur am alten Keyboard. Ist schon ziemlich abgefuckt heute, wenig Zeit. Muss trotzdem noch zum Bodybuilden, muss mit dem Fast Food und den Muffins aufpassen, sonst geht meine Fitness bei meinem Lifestyle hops. Aber vorher noch den Wagen (tolles Design, Superspoiler) aus dem Carport holen. Wenn ich zum Club fahre, höre ich mir erstmal die neuesten Charts an, aber vielleicht lande ich dann doch wieder bei den Evergreens, bin ein absoluter Fan davon. Tja, irgendwann ist jeder Hype einmal vorbei. Dann gibt’s oft nur noch Remakes und Remixes. Wenn ich vom Club wiederkomme, gehe ich erstmal im Cyberspace chatten. Vielleicht kommt ein Date zustande. Aber heute bin ich cleverer bei den Girls, möchte nicht immer nur den Clown spielen, fühl’ mich dann unfair behandelt. Keine Fouls bitte. Werde noch zum Freak. Das wird ein Comeback, mit vielen Gags, die Chancen stehen fifty-fifty. Aber achte bei einem Date auf Dein Timing und Deine Fashion, Dein Makeup und Deine Performance. Aber sei nicht overdressed in Deinem Outfit. Top. Gebt mir bitte ein Feedback, aber shreddered mich nicht. Sonst kann ich in meiner Happy Hour vor dem TV mit meinem Longdrink beim Zappen nicht relaxen. Countdown läuft. Ich muss unbedingt mal einen Crashkurs Deutsch machen. Shit, jetzt hab’ ich mich geoutet. Aber Deutsch ist für mich wie eine Black Box, kein Bluff. Bin a little bit angetörnt, habe aber keinen Blackout, es ist noch alles easy, kein Fake. Smoking. Schaut doch mal auf meine Homepage, hab’ ne gute Website, ein echtes Highlight, für ein Bookmark wär’ ich dankbar, nutzt das Feature, bin gut gehostet. Such’ noch ‘nen Sponsor. Zugegeben, das war nur ein Handout, das Posting hätte better sein können. Aber just in time. Learning by doing. Newcomer, aber nicht Nobody. Jetzt bin ich knocked out, nach dem Nonstop, das war kein Peanuts. Jetzt erstmal einen Whisky on the Rocks. Touch of Glas. Im Sprint zum Schrank. Das war kein Statement, das war ein Event, ein echtes Highlight in der Location Internet. Und nicht gerade der Worst Case.
Sprachpurismus in seiner radikalsten Form ist abstossend, aber vielleicht ist manchmal ein gewisser Sprachpurismus vonnöten oder sogar produktiv. Vorschlag: Warum scheuen sich die Deutschen davor, das Wort Kombifamilie zu benutzen? Denken die dann gleich an lange Autos? Kombi ist ein gebräuchliches Kurzwort, das in anderen Kontexten auch zuhauf in positiver Konnotation (wie man am Beispiel des Autos sieht) verwendet wird. Der Begriff Kombifamilie kann ja auch durchaus eine weiträumige Bedeutung haben. Er betont in diesem Falle, dass es nicht um eine Familie im klassischen Sinne geht, sondern dass es dort Elemente gibt, die miteinander kombiniert werden.
Ist gut, lasst uns besser “Pätschwörkfamilie” nehmen, das ist einfacher. Die Angloamerikaner haben immer Recht, ihre Keywords sind die besten und einprägsamsten. Die Gefahr, die ich dabei sehe, ist, dass man für neuartige Phänomene, die im Deutschen noch keine Abbildung haben, grundsätzlich auf englische Begriffe zurückgreift.
In Frankreich gibt es eine ähnliche Diskussion, nur trauen sich die Franzosen im Gegensatz zu den Deutschen auch, gegen eine Überverbreitung von Anglizismen in ihrer Sprache vorzugehen. Es geht darum, sprachimmanente Kreativität zu fördern und nicht Sprachkreativität mit fremdsprachlichen Einflüssen gleichzusetzen. Sprachen leben nicht nur von den Einflüssen anderer Sprachen – das tun sie, ganz gewiss – sie leben auch von immanenten Prozessen, von Wortschöpfungen in der Sprache selbst, die nicht fremdsprachlich beeinflusst sind. Hier gilt es, das richtige Maß zu halten und die kreativen Potenziale der eigenen Sprache nicht zugunsten fremdsprachlicher Einflüsse aufzugeben.
Ein Beispiel: “gedownloadet”. Es gibt keine Veranlassung, diesen Begriff zu benutzen. Haben die Deutschen jetzt schon Komplexe, den Begriff “heruntergeladen” zu benutzen, weil sie den Stolz der Amerikaner nicht verletzen wollen, da die ja das Internet erfunden haben? Möglich, dass irgendwann keiner mehr “heruntergeladen” sagt, was ich nicht glaube, da ich den Eindruck habe, dass die meisten Deutschen (außer internetabhängige Jugendliche vielleicht) lieber den Begriff “heruntergeladen” benutzen. Das Problem ist, wenn ich in 20 Jahren immer noch den Begriff verwende, u. U. von der Gesellschaft (die dann möglicherweise nur noch “gedownloadet” benutzt, verurteilt oder lächerlich gemacht werde). Solche Tendenzen sehe ich heute. Die Leute ziehen sich im wahrsten Sinne des Wortes “Know How” an, wenn sie Anglizismen benutzen. Ungebildete Menschen tun so, als wären sie gebildet, weil sie ja Trendy-in-Begriffe from across the Atlantic benutzen.
Was und wer beeinflusst uns wie? Welche gesellschaftlichen Kräfte sind dominant? Wer hat ein Interesse daran, lieber Anglizismen als sprachimmanente Wortschöpfungen zu benutzen? Und jetzt sind wir wieder beim Thema Kunst und Kommerz, wir sind aber auch beim Big Business. Wie lassen sich Werbebotschaften am besten transportieren? – Natürlich durch Keywords. Was ist die Meistersprache der Keywords? – Natürlich das Englische. Was ist infolgedessen die Sprache der Globalisierung? – Natürlich das Englische. Warum benutzen Menschen Keywords? – Etwa, um in einer Company, in der Keywords benutzt werden (und das sind heute eigentlich alle) einen Job zu bekommen. Wie heißt es plötzlich in einem Einstellungsgespräch: Let’s talk english! Man hat kaum ein paar Worte auf Deutsch mit dem Personaler (Master of Business, einjähriger USA-Aufenthalt in Boston) gewechselt.
Ein weiteres Beispiel: Jemand fragte einen Kellner nach “Saft” – Der Kellner sagt daraufhin: “Wir haben nur Juice”. Und nun glaube ich, dass der Kellner auch meint, dass Juice sogar eine Schöpfung der Angloamerikaner ist. Die haben als erstes Juice produziert. Und deshalb heißt das so. Saft ist etwas anderes, irgendeine schlechte deutsche Kopie. Die Deutschen haben das mal nachgemacht, was die Angloamerikaner erfunden haben. Wir haben also in unserem Laden sogar was besseres als Saft, wir haben Juice. Ja, so ist die Reality. Das meinte ich auch mit Sprachsterben.
JM
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In der Fremde
Einst kam ich in der Fremde an einen fremden Ort. Da sah ich an einem mir fremd erscheinenden Haus ein Schild mit der Aufschrift “Fremdenzimmer”. Ich klingelte an dem fremden Haus an und bekam von einer mir fremd erscheinenden Frau auf meine Frage, ob ein Zimmer frei sei, die Auskunft, dass ich kein Fremdenzimmer bekomme, da ich nicht fremd genug sei. Dabei hatte sie ein Lächeln im Gesicht, das mir fremd erschien. Ich dachte mir jedoch meinen Teil. Nicht Fremde, sondern Männer, die fremd gehen, wurden hier gesucht. Alles nur Tarnung.
Daraufhin wollte ich aller Müdigkeit und erweckter Lust zum Trotz wenigstens etwas essen, da ich Hunger hatte. Gutbürgerlich sollte es sein. Ich kam dann auch tatsächlich an einem mir bürgerlich und gar nicht so fremd erscheinenden Gasthaus vorbei, mit einem Schild mit der Aufschrift “Gutbürgerliche Küche”. Ich trat ein, setzte mich, rief den oberen Ober und wollte etwas bestellen.
Ich bekam jedoch von einem mir nicht bürgerlich und eher fremd erscheinenden Kellner die Auskunft, dass ich lieber zu einem Gasthaus mit schlechtbürgerlicher Küche gehen solle, da ich ja auch ein schlechter Bürger sei und außerdem hier nur Gutmenschen bedient werden.
Der nun in mir aufschäumende Ärger über die ärgerlichen und mir äußerst fremd vorkommenden Umstände an diesem fremden Ort der Lustbolde und Gutmenschen ließen mich gehen. Ich werde in diesem Ort immer ein Fremder bleiben. Ich fuhr aus dem fremden Ort wieder heraus und kam mir – ziemlich fremd vor.
JM
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Die Frage nach der Uhrzeit
Schatz, wie spät ist es?
Warum willst Du das wissen, hoffst Du etwa, dass es noch zu früh ist, um aufzustehen?
Oder befürchtest Du, dass es schon zu spät ist, um noch liegen zu bleiben?
Befürchtest Du, zum wiederholten Male zu spät zur Arbeit zu kommen?
Willst Du mich durch Deine Frage sanft auf diesen wiederholten Makel vorbereiten?
Oder willst Du indirekt damit andeuten, dass ich zuerst aufstehen soll, damit Du noch länger liegen bleiben kannst?
Oder magst Du es inzwischen generell nicht mehr, neben mir im Bett zu liegen?
Kannst Du mich nur noch schlafend neben Dir ertragen, keinesfalls aber wenn Du wach bist?
Oder steckt hinter Deiner Frage wohlmöglich noch viel mehr?
Willst Du unsere Beziehung beenden?
Du kannst oder willst dies aber nicht explizit aussprechen, sondern Dein verdrängtes Unbewusstes nötigt Dich dazu, über die Frage nach der Uhrzeit die Trennungsthematik anzusprechen!
Oder bist Du jetzt unter die Philosophen gegangen und die Thematik der Zeit erschliesst sich Dir über den Weg der Frage nach der Uhrzeit?
Oder denkst Du an das Leben und den Tod, bist aber noch in den Begriffen Deiner Alltagswelt befangen, nämlich Arbeit und Schlaf?
Oder willst Du einfach nur reden und stellst deshalb diese banale Frage?
Nun spuck es schon aus, was hast Du auf dem Herzen, verschweigst Du mir was?
Oder hast Du gerade nur geträumt und eigentlich hast Du im Traum diese Frage gestellt?
Wenn ja, hast Du diese Frage mir gestellt?
Oder einer Anderen, gibt es eine Andere?
Warst Du etwa gestern gar nicht arbeiten, sondern bei Deiner Neuen?
Hattest Du ihr gestern Abend, bevor Du “von der Arbeit” nach Hause kamst, etwa auch diese Frage gestellt?
Ach, hattest Du ein schlechtes Gewissen, zu spät hier hinzukommen?
Das brauchst Du nicht, das brauchst Du nicht mehr!
Sag’ mal, schämst Du Dich gar nicht?
Du verbringst ja den größten Teil des Tages im Bett, nachts hier und abends bei ihr.
Von wegen Überstunden!
Das waren wohl eher Schäferstündchen!
Und nun willst Du wissen, welches Stündlein schlägt?
Ein schlechtes!
Geh’ zu Deinen Schäferstündchen!
Wahrscheinlich gab es noch mehr andere Frauen!
Du bist bei mir unten durch!
Steh’ endlich auf und pack Deine sieben Sachen!
Hau’ ab, ich will Dich hier nie mehr sehen!
Such’ Dir eine Wohnung mit einer guten, funktionierenden Uhr!
In Zukunft kannst Du Deiner Neuen immer die Frage stellen, wie spät es denn ist!
Ich wünsch’ Dir, dass Dir bald das letzte Stündlein schlägt!
Oder wolltest Du wirklich nur wissen, wie spät es ist?
Ja, ich habe gestern bei dem harten Arbeitstag meine Armbanduhr verloren und wollte heute früher zur Arbeit, um noch die Zeit dazu zu haben, sie zu suchen.
Ach, lass das, bleib’ liegen, hier hast Du die Armbanduhr von meinem neuen Freund.
JM
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Verschiedene Sichtweisen
Als wir nach dem langen Aufstieg endlich auf dem Gipfel standen und doch noch, wie mir meine Begleiterin schilderte, eine sehr gute Sichtweite hatten, wurde ich nachdenklich.
Die Aussicht muss blendend gewesen sein: Eine Panorama-Rundsicht mit Fernsicht. Man hatte Sichtkontakt zu den Wanderern auf dem höheren Nachbargipfel, der in einem Sichtwinkel von 45 Grad lag.
Ich hätte früher wirklich mehr Rücksicht auf mich nehmen sollen. Wie konnte ich nur so kurzsichtig gewesen sein? Auf lange Sicht konnte das nicht gut gehen. Leider hat mir die Voraussicht gefehlt, nun nützt auch keine Nachsicht mehr. Warum bin ich nicht umsichtiger mit mir umgegangen? Ich hatte immer die Ansicht, dass ich nichts tun muss, das war meine Sichtweise der Dinge. Als ob ich absichtlich nichts dagegen tun wollte, ich hatte einfach keine Einsicht in die mögliche Gefahr. Warum war ich nur so unvorsichtig? Mehr Umsicht hätte mir gut getan.
Als wir wieder in der Hütte waren, sah ich mir eine Voransicht dreidimensionaler Bilder an. Nach Durchsicht einiger Bilder sichtete ich eines, das mir besonders auffiel: die Draufsicht von oben. Es war deutlich zu sehen.
JM
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Verkomplizierung der Sprache
Bei manchen Philosophen spürt man förmlich, wenn man sie beobachtet, wie sie sich den nächsten Satz überlegen, dass sie einen klar formulierten Satz eigentlich schon wissen, sich aber nicht für ihn entscheiden (denn der wäre ja zu einfach, und: geht es nicht auch komplizierter?), sondern für einen komplizierteren, der dann leider auch ausgesprochen wird. Dieser zwanghafte Hang zur künstlichen Verkomplizierung der Sätze kann dann in der Folge von einer Verzögerung im Sprechen und einem leichten Stottern begleitet sein.
Grundsätzlich lässt sich jedoch nicht alles, was philosophisch gehaltvoll ist, einfach ausdrücken. Das wäre nämlich das andere Extrem, bei dem Vieles unter den Tisch fallen kann. Der Hang zur Mathematisierung der philosophischen Sprache kann ebenso negative Begleiterscheinungen haben. In der Philosophie geht es nun einmal auch um komplizierte Dinge, die sich sprachlich nicht immer einfach ausdrücken lassen. Hier suchen die Menschen nach Worten und Sätzen, wie sie die Dinge, die ihnen rätselhaft erscheinen, beschreiben können. Hier geht es auch um persönliche Empfindungen, man denke etwa an die Existenzphilosophie mit ihrem Anteil an den ewigen Themen der Philosophia Perennis, wie zum Beispiel den Tod. Dass hier sprachlich Kreatives hineinspielt, liegt auf der Hand.
JM
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Gottesbeweis
Angenommen, ein gläubiger Wissenschaftler, vielleicht ein Naturwissenschaftler, möglicherweise ein Physiker oder Biologe, mit einem “Ich glaube an Gott”, hätte die Idee zu einem Experiment, mit dem die Existenz Gottes bewiesen werden könnte. Angenommen, das Experiment verliefe erfolgreich. Was würde der Wissenschaftler nach Abschluss des Experimentes sagen? “Ich weiß Gott”? Könnte er überhaupt noch sagen, dass er an Gott glaubt? Der Begriff des Glaubens wäre wohl noch insofern berechtigt, dass Gott eben nur dann wirklich, eventuell sogar sinnlich oder eben nur über Messapparate, erfahren werden kann unter den Bedingungen des Experiments.
Wäre der Beweis der Existenz Gottes nicht gerade das Ende vieler Religionen? Die sich ja gerade fundamental definieren und konstituieren durch dieses “Ich glaube”. Eigentlich müssten die Religionen bzw. deren mächtige Vetreter doch ein Interesse daran haben, dass die Existenz Gottes niemals bewiesen wird. Nur so lässt sich das “Ich glaube” wirklich aufrecht erhalten.
Dies führt zu folgendem Schluss: Da potenziell und somit zumindest hypothetisch die Gefahr besteht, dass die Existenz Gottes bewiesen werden könnte, wäre es am besten und einfachsten, wenn er überhaupt nicht existieren würde. Die mächtigsten Vertreter der Religionen (die größten Manipulatoren der Masse?) haben ein Interesse daran, im Sinne eigener Machtinteressen, dass Gott nicht existiert und ein Konstrukt bleibt. Nur so kann seine Existenz wirklich nicht bewiesen werden. Hier würde das eigentlich Verlogene an der Religion verborgen liegen. Und hier liegt natürlich auch die Gefahr neuer Religionen. Da kommt jemand daher und behauptet, Kenntnis von einem bestimmten Gott zu haben. Wenn man sein Anhänger wird, wird man das Heil erwarten. Hier ist das Feld der Manipulatoren der Masse. Sie brauchen noch nicht einmal einen Gott dazu, sie machen sich selbst zu einem Quasigott. Was haben die totalitären Verführer der Weltgeschichte denn anderes getan?
Weitere scheinbar absurde, sich widersprechende Schlüsse ergeben sich: Wenn man das Böse nicht will, darf man nicht an Gott glauben (aus Sicht des potenziell Manipulierbaren). Jedoch auch: Wenn man das Böse will, darf man nicht an Gott glauben (aus Sicht des Manipulators). Und: Atheisten sind die besten Menschen. Dies gilt aber wiederum offenbar nicht: Die Manipulatoren sind ja selbst Atheisten. Der potenziell Manipulierbare sollte nicht an Gott glauben.
Wie kommt es, dass so aufgeklärte Menschen wie Kant an Gott glaubten? Er tat es jedenfalls im weitesten Sinne, da er zumindest seine Existenz theoretisch für nötig hielt (“Postulate der praktischen Vernunft”).
Es müsste wenigstens eine rudimentäre Vorstellung davon existieren, was man in einem Experiment, das die Existenz Gottes beweisen soll, überhaupt beweisen will: Gott als Schöpfer? Gott als universelle Intelligenz? Gott als bestimmte Information? Gott als Ganzheit?
Dementsprechend müsste ja das Experiment aufgebaut sein. Wenn Gott als Schöpfer des Universums bewiesen werden soll, so muss es um eine Information gehen, die dies dem Experimentator zeigt. Zum Beispiel könnte es sich um Elementarteilchen handeln, in denen Gott eine Information hinterlassen hat, welcher Art auch immer. Es müsste sich um eine Information handeln, die über bloße physikalische Information hinausgeht. Dass ein Wasserstoffatom bestimmte Zustände hat, muss man als physikalisches Wissen annehmen, ohne dass man aus dieser Kenntnis auf einen Schöpfer schliessen müsste, was gemäß Ockhams Razor ja auch überflüssig wäre.
Denkbar wäre auch eine codierte Information in einer bestimmten DNA, zum Beispiel in Milliarden Jahre alten Einzellern – dem ersten Leben. Aber selbst dann könnte es sich ja noch um eine außerirdische Intelligenz handeln, die diese DNA geschaffen hat. Dasselbe würde gelten, wenn man in der menschlichen DNA eine solche Information finden würde, dies würde etwas über unsere Schöpfer aussagen, jedoch nicht zwangsläufig etwas über den Schöpfer des Universums.
Wenn Gott als universelle Intelligenz nachgewiesen werden soll, müsste diese auch aktuell als solche existieren. Diese Intelligenz müsste unter den Bedingungen des Experiments zum Vorschein kommen. Vielleicht dadurch, dass sie die Bedingungen des Experiments selbst ändert.
Vielleicht könnte aber auch eine komplexe materielle Struktur geschaffen werden, die so komplex ist, dass etwas Neues auf ihr superveniert, analog dem menschlichen Bewusstsein, das auf dem menschlichem Gehirn superveniert, wenn man der Emergenztheorie glauben will.
Wenn Gott und sein Tun nicht zwangsläufig den Gesetzen der uns bekannten Physik unterliegen, wäre es denkbar, dass er sich gerade durch die Verletzung dieser Gesetze zeigen könnte. Dann wäre er jedoch im gewissen Sinne allmächtig. Und damit wäre man mitten im Theodizeeproblem, das sich damit beschäftigt, warum ein allmächtiger Gott das Böse in der Welt zulässt.
Vielleicht würde ein experimenteller Gottesbeweis das Universum aber auch entzaubern. Aus ästhetischen Gesichtspunkten könnte dafür argumentiert werden, dass sich Gott dem Menschen besser nicht zeigen sollte. Nicht, weil er so hässlich ist, sondern weil dem Menschen die Welt dann nicht mehr so geheimnisvoll erscheint und er dann möglicherweise nicht mehr so schön über sie dichten kann.
Atheisten sind in der Regel so von ihrem Atheismus überzeugt, dass es schon wieder langweilig wirkt, zuweilen selbst an Religion erinnert. Philosophieren lässt sich wohl nicht immer gut mit ihnen. So eine übertrieben mathematische Abgeklärtheit steckt oft dahinter.
Vielleicht lässt sich theoretisch zeigen, dass es ein Experiment, das die Existenz Gottes beweist, nicht geben kann. Zudem müsste es ja auch irgendwo stattfinden: Wenn Gott als Ganzheit des Universums nachgewiesen werden soll, würde dieses Experiment ja in einem Teil Gottes stattfinden. Das Nachzuweisende würde das Experiment von vornherein selbst enthalten. Gott würde dieses Experiment dann vielleicht sogar wollen, und damit sich selbst in sich als existent nachweisen. Was sollte das für einen Sinn haben? Der Mensch würde dann dasjenige an Gott sein, das sich selbst als göttlich noch nicht erkannt hat, sozusagen ein Makel Gottes. Der Erfolg dieses Experiments wäre das Ende des Menschen, wenn er in seinem Wesen so definiert wäre.
Vielleicht lässt sich Gott als Ganzheit nur auf theoretischem Wege nachweisen. Vielleicht werden die Gleichungen der theoretischen Physik der Zukunft einmal derart selbstbezüglich, dass das Ergebnis folgt, dass das Universum nur eine Struktur sein kann, bei der alle Bestandteile mit allen anderen Bestandteilen permanent Informationen austauschen. Und die Gleichungen wären nur eine Abbildung dieses holistischen Informationsaustauschs. Oder sie wären letztlich das Endergebnis, in dem sich Gott selbst als solcher schaut.
Gott könnte ein ganz raffiniertes Wesen sein und die Naturwissenschaftler und Popperianer ärgern wollen. Und zwar könnte er die Welt so eingerichtet haben, dass er sich nur einem einzelnen Individuum offenbart, etwa in Gebet, Meditation oder existenziellem Erlebnis. Mit Hilfe intersubjektiver empirischer Überprüfung und Falsifikation wäre dann nicht viel auszurichten. Trotzdem würde Gott existieren, auch wenn er nicht beweisbar wäre. Das Schöne daran wäre, dass dabei jeder einen ganz eigenen und individuellen Draht zu Gott hätte. “Subtile is the Lord” – Albert Einstein
Insofern Gott auch im weitesten Sinne Realität wäre, wäre die Aussage Kants zu revidieren, dass der Mensch per se nicht dazu in der Lage ist, die Realität als solche zu erkennen: und zwar gemäß Kant selbst.
Es spricht wohl bis jetzt nichts dafür, dass sich Gott auf empirischem Wege feststellen lässt. Hier können wir mit Ockhams Razor ganz gut leben.
Aber Kant hat auf dem Wege reinen Denkens seine Existenz postuliert. Und zwar ergibt sie sich aus seiner Ethik und seiner Religionsphilosophie. In seiner Religionsphilosophie stellt er drei Postulate auf: Die Freiheit des Menschen, die Unsterblichkeit seiner Seele und die Existenz Gottes. Dies sind die Postulate der praktischen Vernunft.
Nach Kant hat der Mensch von Natur aus den Hang zum Bösen. Dies bedeutet aber nichts anderes, dass er trotz besseren Wissens (Sittengesetz) gegen dieses verstößt. In einem endlichen Menschenleben lässt sich ein gutes Leben in Freiheit und Verantwortung nicht vollständig verwirklichen, dieses kann sich nur im Unendlichen vollziehen. Damit dies möglich ist, bedarf es einer unsterblichen Seele und eines Gottes als letztgültiger moralischer Instanz; deshalb stellte er die drei Postulate auf.
Die Existenz Gottes kommt bei Kant also nicht über seine Erkenntnistheorie und Transzendentalphilosophie, sondern über seine Ethik und Religionsphilosophie ins Spiel.
Selbst wenn Gott auf empirischem Wege (Gott als Schöpfer, Gott als universelle Intelligenz, Gott als Ganzheit) nicht feststellbar sein sollte, so zwingt das reine Denken dazu, ihn zu postulieren (Gott als letztgültige moralische Instanz).
Wenn Gott aber nun im weitesten Sinne auch Realität ist, so lässt sich über das reine Denken etwas über die Realität herausfinden. Dies ist ja auch mit der Tatsache vereinbar, dass die Menschen im Sinne des kategorischen Imperativs und gemäß ihres Gewissens vor Gott (im kantischen Sinne!) handeln können und auch tatsächlich handeln, und so die physikalische Welt verändern können und auch tatsächlich verändern.
“Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.” – Immanuel Kant
JM
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Der Gedanke
Einmal angenommen, es gäbe einen Gedanken, der, wenn man ihn dächte, unmittelbar zum Tode führte.
Folgende Frage dürfte ich Anderen dann wohl nicht stellen: Wie sieht dieser Gedanke aus? Denn wenn ich dies täte, würde ich ja zum Tod derjenigen beitragen, die sich Gedanken um diesen Gedanken machen, um mir und sich die Frage zu beantworten, was sie ja dann zudem nicht mehr tun könnten, da sie dann nicht mehr lebten. Das wäre unverantwortlich.
Aber angenommen, jemand wollte auf dem Wege dieses Gedankens seinem Leben aus freiem Entschluss ein Ende setzen, so würde ich doch nicht unverantwortlich handeln, wenn ich ihm diesen Gedanken mitteilte, oder? Es sei denn, man argumentiert generell gegen die Berechtigung des Suizids. Aber hier scheint es heute eher so zu sein, dass er mehr Befürworter als Gegner hat.
Eine Voraussetzung dabei wäre natürlich, dass für mich selbst eine Ausnahme gelten würde, dass also mein Denken dieses Gedankens nicht zu meinem Tode führen würde. Denn sonst könnte ich einem Anderen diesen Gedanken ja gar nicht mitteilen. Eine weitere Voraussetzung wäre natürlich auch, dass dieser Gedanke überhaupt mitteilbar ist. Aber dies sollte doch eigentlich der Fall sein, da Gedanken immer eine sprachliche Struktur aufweisen sollten, sich also sprachlich mitteilen lassen sollten, oder?
Eine weitere Voraussetzung wäre eigentlich zudem, dass ich auch wirklich wüsste, dass dieser Andere seinem Leben auch wirklich mit Hilfe dieses Gedankens ein Ende setzen wollte. Und dass er es mir nicht nur mitteilte, er könnte es ja dennoch nicht wollen. Aber woher weiß ich das, was er wirklich will?
Wenn diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, dürfte ich diesen Gedanken eigentlich auf gar keinen Fall jemand Anderem mitteilen, ansonsten würde ich unmoralisch handeln.
Wenn dieser Gedanke mit Erkenntnisgewinn verbunden ist und der Gewinn von Erkenntnis einen Wert darstellt, so steht letztlich die Frage zur Disposition, was höher zu bewerten ist, die Erkenntnis oder das Leben. Man müsste sich wohl im Zweifelsfalle für das Leben entscheiden, dies erscheint menschlicher, auch wenn es unmenschlich erscheint, sich gegen die Erkenntnis zu entscheiden. Aber was ist menschlich und unmenschlich? Und was ist der Mensch?
Angenommen, dieser Gedanke ist ein Gedanke, den jeder Sterbende beim Sterben denkt, also unmittelbar vor oder mit seinem Tod bzw. unmittelbar am Ende seines Lebens. Wann genau würde dieser Gedanke denn nun wirklich gedacht? So wäre vermutlich eine bestimmte Form von Erkenntnis nur nach dem Leben möglich, aber nicht innerhalb des Lebens. Der Erkenntnisfähigkeit des Menschen wären dann per se in seinem Leben Grenzen gesetzt.
Angenommen, es gäbe eine Möglichkeit, dass ein Sterbender diesen Gedanken, wenn er ihn denkt, dennoch einem Lebenden mitteilen könnte. Sollte von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht werden? Sie würde ja wieder zum Tod von Anderen, noch Lebenden, führen.
Angenommen, es gäbe eine Möglichkeit, nur einen Teil dieses Gedankens mitzuteilen. Dann müsste sichergestellt werden, dass er nicht zu ende gedacht werden kann. Wie könnte dies ermöglicht werden? Wäre dies überhaupt möglich? Es könnte ja eine Ahnung dieses Gedankens geben, ohne dass man ihn selbst zu ende dächte oder ihn überhaupt zu ende denken könnte. Wie müsste ein Gedanke beschaffen sein, den man nicht zu ende denken kann, auch wenn man im Besitz eines Teils dieses Gedankens ist? Wäre ein solcher Gedanke überhaupt denkbar?
Ein möglicher metaphysischer Nachtrag, der Vollständigkeit halber: Angenommen, Gott existiert, und der oben genannte Gedanke wäre der Gedanke an Gott, möglicherweise gedacht (möglicherweise aber auch erfahren, erlebt und gefühlt) in Verbindung mit Gott am Ende des Lebens eines Menschen.
Und weiter angenommen, nur aus diesem Gedanken (Erfahrung, Erlebnis, Gefühl) würde die einzig wahre und absolute Gotteserkenntnis folgen (und möglicherweise auch Welterkenntnis und Selbsterkenntnis). Dann wäre die absolute Erkenntnis Gottes (der Welt und des Selbst) zu Lebzeiten eines Menschen nicht möglich. Aber auch die Weitergabe dieser Erkenntnis in Form irgendeiner gelebten Religion (und Wissenschaft) nicht. Hieraus würde die Beschränktheit jeder irdisch gelebten Religion (und Wissenschaft) hinsichtlich der Erlangung der Gotteserkenntnis (Welterkenntnis und Selbsterkenntnis) resultieren.
Weiter angenommen, dieser Gedanke würde und müsste notwendig individuell, d.h. jeweils von jedem Individuum verschieden und in Abhängigkeit von ihm, gedacht (erfahren, erlebt und gefühlt) werden, so wäre die Gotteserkenntnis (Welterkenntnis und Selbsterkenntnis) zugleich eine notwendig individuelle Erkenntnis, und unter Umständen, als möglicherweise mystische Form von Erkenntnis (Erfahrung, Erlebnis, Gefühl) eines Individuums, per se einem anderen Individuum sprachlich nicht (vollständig) mitteilbar.
Daraus würde wiederum folgen, dass eine wahrhafte Religion (Wissenschaft) – wahrhaft im Hinblick auf die faktische Erlangung der Gottes-, Welt und Selbsterkenntnis – nur eine sein kann, die sich im Individuum am Ende seines Lebens (beim Sterben, im Augenblick des Todes) in diesem Gedanken (Erfahrung, Erlebnis, Gefühl) und damit in der absoluten Gotteserkenntnis (Welterkenntnis und Selbsterkenntnis) selbst vollzieht.
JM
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Jenseits von Gut und Böse
Neulich ging ich, wie so oft an einem Samstag vormittag, durch die Stadt. Ich kam an einem kleinen Stand vorbei, an dem frische Waffeln gebacken und verkauft wurden. Sie sahen sehr appetitlich aus: Na, wie wäre es, dachte ich mir, nun eine leckere Waffel zu essen? Ich entschied mich dagegen und ging weiter. Dann sah ich an der Ecke eines Geschäftes einen Mann auf dem Boden sitzen, der vorbeigehende Passanten begrüßte: “Einen schönen guten Morgen allerseits”. Ein Vorgang, den man, abfällig formuliert, als Betteln bezeichnen könnte. Nun ihm etwas geben? Ich entschied mich dagegen und ging in das Geschäft.
Dort wurde Musik und Filme verkauft. Ich ging in den Keller in die Filmabteilung. Die Filme waren nach Kategorien geordnet: Komödie, Action, Horror, Thriller, Drama. Bei den Dramen blieb ich stehen und entschied mich für einen Film. Ich entschied mich nach der Spiellänge des Films, da ich nicht so lange suchen wollte und ein Entscheidungskriterium brauchte. Außerdem wollte ich den Abend nicht solange vor dem Fernseher mit Filmeschauen verbringen. Ich betrachtete nur die äußeren Auslagen, da ich keine Lust dazu hatte, alle Filmcover durchzublättern. Ich ging mit dem Cover nach oben an die Kasse, wo der Film aus dem Regal geholt und in das Cover gelegt wurde. Was sagt dieser Vorgang eigentlich über unsere Gesellschaft aus? Die Filme würden ansonsten geklaut, so lässt sich nur das Cover klauen. Der Kassierer scannte die Filmhülle, aber der Film war nicht in der Datenbank. Es dauerte einige Minuten, bis er die Kassensoftware mit den richtigen Daten gefüttert hatte.
Ich ging aus dem Geschäft heraus. Rechts neben mir saß noch immer der Bettler an der Ecke des Geschäftes. Von links ging ein kleiner Junge mit zwei Waffeln auf den Mann zu und sagte “Bitte schön, guten Appetit”. Ich wunderte mich und dachte erst, dem Kind gehören die Waffeln, es hat keinen Hunger und gibt sie selbst dem Mann. Doch dann sah ich in weiterer Entfernung mehrere Erwachsene, vermutlich waren die Eltern dabei. Nun verstand ich, dass die Szene beabsichtigt war. Das Kind sollte dem Mann die Waffeln schenken. Ich schaute zu dem beschenkten Mann, sah sein Lächeln, hörte, wie er sich bedankte, und lächelte schließlich selbst. So etwas ist selten zu sehen, dachte ich mir. Warum bin ich eigentlich nicht auf die Idee gekommen, wenn ich ihm schon nicht Geld geben wollte, ihm wenigstens Waffeln zu geben?
Kurz nach dem Augenblick der Schenkung ging ich in Richtung der Angehörigen des Kindes. Im Augenblick der Schenkung war ich genau zwischen ihnen und dem Kind bzw. dem beschenkten Mann. Ich hatte den Eindruck, dass der Beschenkte meinte, dass ich der Angehörige oder gar der Vater des Kindes war, da ich am nächsten zu ihm und dem Kind stand. Er schaute mich auch so dankbar an. Doch dann sah ich, wie die richtigen Angehörigen zu ihm winkten, sich so bemerkbar machen und als wahre Schenker outen wollten. Gleichzeitig sah ich in ihren Gesichtern ein Lächeln, bei dem ich die Grenze zu einem erzwungenen Lächeln nicht ausmachen konnte, bei dem ich aber auch einen Ansatz von Hass sah. Nämlich den Hass über die Tatsache, dass ich die wohlgeplante Schenkungsszenerie kaputt machte. Und irgendwie war ich betroffen. Einerseits aufgrund der immerhin ansatzweise hasserfüllten Gesichter, andererseits über mich selbst, der ich, wenn auch nur zufällig, diese wohlgemeinte Szene negativ beeinträchtigte.
Und dann fragte ich mich, wie denn nun die Summe allen Glücks und Leids dieser Szene zu bewerten sei: Der Bettler war glücklich, dass er etwas geschenkt bekam, er freute sich zusätzlich über die Tatsache, dass er von einem Kind beschenkt wurde. Vielleicht war er aber später traurig, dass der Plan der Eltern aufgrund meiner zufälligen Anwesenheit nicht so recht gelang. Als er das weitere Geschehen beobachtete, musste er ja schließlich feststellen, dass ich kein Angehöriger war. Andererseits muss er aber auch mein Lächeln gesehen haben, als ich mich darüber freute, wie er von dem Kind beschenkt wurde. Das Kind war am Anfang bestimmt glücklich, da es spürte, jemand Anderem, der vermutlich in Not war, zu helfen. Außerdem wusste es selbst, wie gut Waffeln schmecken. Aber als es feststellte, dass ich mit meiner Anwesenheit in der Sichtlinie zu den Eltern stand, die Eltern den Schenkungsvorgang also gar nicht richtig beobachten konnten, war es sicher traurig, denn die Eltern wollten ja sehen, wie es den Mann beschenkte. Sie hatten ja auch die Idee dazu. Die Eltern waren am Anfang sicher glücklich, als sie sahen, wie das Kind auf den Mann zuging, aber ihr Ärger begann als ich aus dem Geschäft schnurstracks in ihre Sichtlinie ging. Dieser Ärger machte sich in einem Anflug eines hasserfüllten Blickes zu mir dann Luft.
Summa summarum kann ich hier keine Bilanz ziehen. Es wäre aber denkbar, dass die Eltern gerade durch einen zur Schau gestellten Altruismus egoistisch waren, sich selbst also dadurch erheben wollten, dass sie anderen Menschen halfen. Es ging nicht darum, dem Mann zu helfen, sondern darum, dem Kind zu zeigen, welch barmherzige Eltern es hat. Noch dazu wurde das Kind dadurch instrumentalisiert. Dem Kind wurde die Möglichkeit genommen, dem Mann selbst die Waffeln zu schenken. So kommen die guten Eltern dem guten Kinde immer zuvor. Aber ist das Verhalten der Eltern dann noch gut gemeint? Oder bilde ich mir das alles nur ein? Denke ich zu negativ?
Ich weiß es nicht.
Ich weiß nur eins: Die Welt ist jenseits von Gut und Böse.
Natürlich könnten die Eltern und der Bettler wirklich gute Menschen gewesen sein. Die Dinge können aber oft komplizierter sein als man auf den ersten Blick denkt. Sie können natürlich auch einfach sein: Jemand will jemand anderem wirklich etwas Gutes. Aber ich maße mir nicht an, letztgültig beurteilen zu können, was wirklich der Fall ist.
Es würde meinen Empfindungen in der Situation nicht gerecht, Gutes, das vielleicht nur scheinbar Gutes ist, für wirklich Gutes, unbezweifelbar Gutes, zu halten. Meine Intuition sagte mir, dem Mann nichts zu geben. Bin ich nun ein schlechter Mensch? In anderen Situationen habe ich solchen Menschen schon Geld gegeben und ich habe auch generell kein Problem mit der Gabe von Almosen in solchen Situationen. Aber der Geber ist als Mensch und autonomes Wesen mit Gefühlen und Entscheidungsfreiheit ja auch irgendwo an der Szene beteiligt. Ansonsten müsste man grundsätzlich jedem Bettelnden Geld geben. Man stelle sich vor, was das für Konsequenzen hätte.
Die Intuition des Gebers spielt eine große Rolle, ansonsten würde Betteln und Geben zu einem Automatismus verkommen. Der Geber achtet den Vorgang des Bettelns, für den man auch Verständnis haben kann (vielleicht sogar haben sollte), ja gerade dadurch, dass er seine Intuition und die darauf basierende Entscheidung ins Spiel bringt.
Ich habe mir an demselben Samstag abends dann den Film angeschaut, den ich in dem betreffenden Geschäft gekauft habe.
Als ich den Film an der Kasse bezahlte, stand an der Nebenkasse ein Mann mit Vollbart und grimmigem Gesicht, der dem Bösewicht des Films auffallend ähnlich sah und der auch einen Vollbart hatte und immer so grimmig drein schaute. Die Kassiererin an seiner Kasse hatte rote Haare und sah der Tochter des Bösewichts, die ebenfalls rote Haare hatte, sehr ähnlich. Der Bösewicht hat im Film seine Tochter missbraucht und sogar ein Kind, oder sogar mehrere, wie man vermutet, mit ihr. Der Film hieß “Tannöd”, es war die Verfilmung des bekannten Bestsellers und es ging um Kindesmissbrauch.
In dem Film gab es einen Mann, so eine Art Waldmenschen, der im Wald herumstreunte und die Leute, die durch den Wald gingen, erschreckte. Wenn er im Dorf auftauchte, zog er herum und verunsicherte absichtlich die Dorfbewohner. Dieser Mann hatte Ähnlichkeit zu dem Bettler, der an der Ecke des Filmgeschäfts saß.
Die Mutter des Jungen, der dem Bettler die Waffeln gab, hatte ebenfalls Ähnlichkeit zu einer Darstellerin des Films.
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Blätter des Lebens
An einem regnerischen Herbsttag ging ich durch den Wald und bemerkte auf einem Haufen bunter Blätter ein weißes Blatt. – Ein weißes Blatt?
Eigentlich gibt es weiße Blätter im Herbst doch gar nicht, sterbende Blätter haben Gelb-, Rot- und Brauntöne, in allen Schattierungen, bis hin zu schwarz. Aber weiß? Ich schaute näher auf das Blatt und mir fiel auf, dass es sich um ein zusammengeknülltes Stück Papier handelte. Ich hob es auf, faltete es auseinander und betrachtete es näher. Es war ein ausgerissenes Blatt aus einem Kalender. Das Datum war nicht mehr zu erkennen, verwaschene Zeichen erschienen unlesbar, auch die Überreste rätselhafter Symbole waren zu sehen. Ich legte das Blatt wieder zurück und ging weiter.
Vielleicht hat es ja jemand verloren und ihm ist dieses Stück Papier wichtig, vielleicht hat es aber auch jemand absichtlich weggeworfen, vielleicht jemand, der sich über einen Termin geärgert hat. Was dieses Blatt, seine Zeichen und Symbole für den Besitzer wohl für eine Bedeutung hatten? Und erst das Datum?
Fast ein Jahr später ging ich – wieder im Herbst – durch denselben Wald spazieren, wie schon so oft zuvor. Mir gingen viele Dinge durch den Kopf, ich hatte in letzter Zeit Einiges zu tun und noch viel vor, sowohl privat als auch beruflich. Mein Leben hatte sich in jenen Tagen stark verändert und ich hatte die Gewissheit, dass es sich noch stärker ändern wird. Ich muss meine Gedanken zusammen halten. Was steht als Nächstes an? Plötzlich fiel mir ein sehr wichtiger, ganz persönlicher Termin für heute Abend ein, den ich aber trotz allem zwischen den vielen anderen wichtigen Geschäftsterminen vergessen hatte. Ich zog meinen Kalender aus der Tasche und schnell notierte ich ihn, wie um mein Gewissen zu befriedigen.
Es regnete, die Schrift verschwamm sofort, ich ärgerte mich und riss das Blatt heraus. Irgendwie hat sich in dieser Situation der ganze Frust der letzten Wochen entladen. Dann spürte ich einen stechenden Schmerz im linken Brustbereich. Ich ballte die Hände zusammen und zerknüllte dabei das Kalenderblatt in meiner Hand, dann fiel ich auf einen Blätterhaufen. Mir war klar, dass dies wohl der letzte Augenblick war, aber irgendwie war ich dennoch auf eine paradoxe Art und Weise erleichtert und entspannt. Auch die Hände entspannte ich wieder und das zusammengeknüllte Kalenderblatt rollte aus meiner rechten Hand auf den Blätterhaufen.
Die Abenddämmerung begann und als es um mich dunkel wurde, flog ich den Flug der tausend Eulen der Nacht. Ich schaute auf meinen leblosen Körper hinunter, das Letzte, an was ich mich erinnern konnte, als ich noch in ihm war, war der Vorbeiflug meines Lebens vor meinem sterbenden geistigen Auge. Augenblicke meines Lebens waren wie Perlen auf einer Kette aneinandergereiht. Einerseits schienen alle Geschehnisse isoliert nebeneinander zu stehen, andererseits waren die Ereignisse aber durch eine geheimnisvolle, implizite Ordnung miteinander verbunden. Mein Leben erschien mir rätselhaft und vertraut zugleich.
Ich flog nach oben und schaute ein letztes Mal auf meinen Körper. Ich flog immer höher, bis auch die Bäume unter mir waren, durch weiße Wolken, ich schaute auf den Wald hinunter, flog noch höher, bis sogar die Wolken unter mir waren. Über mir war nur noch der klare Sternenhimmel. Ich bewegte mich weiter himmelwärts und sah Ozeane, Wüsten und leuchtende Städte in der Nacht. Ich sah unter mir die Erde, die aussah wie eine kleine blaue Murmel. Ich flog auch am Mond vorbei und bezweifelte, dass auf seiner Oberfläche tatsächlich schon Menschen waren. Ich flog weiter in das All hinaus und sah ein intensives weißes Licht, das immer näher kam, wie das Licht am Ende eines Tunnels. Ist dieses Licht etwa ein Stern? Oder ist es das Licht, von dem so oft im Zusammenhang mit dem Tod die Rede ist?
Doch dann sah ich neben dem weißen Licht eine kleine grüne Kugel. Ein grüner Planet, so schön wie die blaue Erde, mit Kontinenten, die jedoch eine andere Struktur hatten als die Kontinente auf der Erde. Ich näherte mich dieser rätselhaften Kugel, flog durch Wolken, nicht weiß, sondern gelb, und schließlich auf einen grünen Wald zu.
Plötzlich fand ich mich auf dem Waldboden auf dem Bauch liegend in einem grünen Blätterhaufen.
Ich wachte auf, meine rechte Hand befand sich unter meinem Herz. Neben mir lag ein Zettel. Auf dem stand: “Denk an Dich”.
JM
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Ästhetik des Bösen
Ich frage mich oft, besonders an Sonntagabenden zur Tatortzeit, warum wir offenbar in einer Kultur leben, die den Krimi und damit das Medium, das den Menschen das Böse auf eine menschliche Art und Weise vermittelt, so exzessiv zelebriert.
Eine Antwort für mich ist, dass es offenbar ein individuelles Bedürfnis nach einem Ausgleich zu unserem wohl geordneten gesellschaftlichen Leben gibt. Auch wenn das Böse in den Medien in Form von Nachrichten über schreckliche reale Geschehnisse ständig präsent ist, ist es doch in der Regel nicht Teil des Alltags des Normalbürgers, der morgens zu Arbeit geht und sich abends vor den Fernseher setzt, um sich Krimis anzuschauen. Denn wenn er tagsüber das Böse erleben würde, hätte er wahrscheinlich genug vom Bösen und würde es nicht noch abends in Krimis suchen.
Ist es nicht selbst schon pathologisch, wenn in jedem Fernsehkrimi der Arbeit eines Pathologen detailliert nachgegangen wird?
Meine These wäre, dass es eigentlich gar nicht um das Böse geht, sondern um den Tod, und zwar um eine mangelnde Kultur des Todes in unserer Gesellschaft.
JM
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Fehlende Kultur des Todes
Was fehlt eigentlich in der modernen Gesellschaft, hinsichtlich des Todes?
– Meine Antwort: Eine Kultur des Todes.
Der moderne Mensch fühlt sich in allen möglichen, von der Politik, Wirtschaft und Wissenschaft wohldefinierten Bereichen verortet, sei es der Markt mit seinen Bedürfnissen und Produkten, sei es die marktkonforme Arbeit, sei es das Psychologische, sei es das Soziologische.
Nur eine Kultur des Todes scheint kaum jemand zu vermissen. Die Kirchen und wohltätige Organisationen üben allenfalls eine kompensierende Funktion aus, keinesfalls ist diese als feste moralische und kulturelle Basis im Bewusstsein der Menschen als gelebte Kultur vorhanden.
Diese Institutionen verüben ihr Geschäft im Stillen, in den Palliativstationen der Krankenhäuser und in Hospizen, und schließlich auf den Friedhöfen, in umzäunten Bereichen abseits des alltäglichen Business und der immerjungen Spaßgesellschaft.
Frühere und auch noch heutige Kulturen hatten und haben diese Kultur des Todes und es war und ist trotz aller Trauer der Angehörigen klar, dass der Verstorbene von den Angehörigen einem Reich, welcher Art auch immer, übergeben wird und in dieses einzieht. Kirchliche Rituale sind zwar vorhanden, führen aber in der Gesellschaft eher ein Insel- und Nischendasein, keinesfalls sind sie als bewusst gelebte und erlebte Kultur in ihr fest etabliert. So wie alles in einer modernen Bedürfnisgesellschaft in tausende Bereiche gesplittet ist. Jemand hat das Bedürfnis, seine Angehörigen würdig zu bestatten? – Dann soll er dies tun und sein Bedürfnis befriedigen. So wie jemand ein Auto kauft, der halt das Bedürfnis hat, ein Auto zu fahren. Oder sich einen Partner über das Internet sucht, der eben das Bedürfnis hat, einen Partner zu haben. Wir leben in tausenden von Bedürfniswelten, aber in keiner Kultur, die als Einheit gelebt und erlebt wird. Dass hier keine wahrhafte Kultur des Todes aufkommen kann, ist dann kein Wunder.
Ein weiterer wichtiger Aspekt: Heute stirbt, jedenfalls nach verbreiteter wissenschaftlicher Auffassung (Gehirn-Geist) der menschliche Geist (bzw. seine Seele) mit dem Körper. Was sollen wir uns also um eine Kultur des Todes scheren? Diese hätte ja allenfalls noch die Funktion eines Rückblicks auf ein Leben, in dem der Geist als total vom Gehirn Abhängiges noch auf dem Gehirn supervenieren konnte, als das Gehirn eben noch funktionierte.
JM
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Esoterik
Die übermässige Verwendung des Begriffes Esoterik ärgert mich insofern, da er neuerdings für Alles ein Oberbegriff zu sein scheint, das die Leute nicht verstehen. Neulich bin ich in eine große Buchhandelskette gegangen. Auf den Orientierungsschildern stand in großen Lettern der besagte Begriff. Von Philosophie war keine Rede, danach suchte ich aber. Ich bin sofort wieder aus diesem Geschäft herausgegangen. Das Leitmotto dieser Kette muss unweigerlich sein: Was lässt sich heute verkaufen? Ich sagte mir, dass ich mich nicht freiwillig diesem Leitmotto unterwerfe, und ich bin dann in eine andere Buchhandlung schräg gegenüber gegangen, wo der von mir gesuchte Begriff auf den Tafeln wenigstens existierte, auch wenn die Auswahl an Büchern dann recht bescheiden war.
JM
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Realität und Simulation
Angenommen, ein genialer Programmierer würde in ferner Zukunft mittels eines Hochleistungsrechners und eines diffizilen Computerprogramms eine simulierte Welt erschaffen, die ihm in Verbindung mit einem physischen Datenport Computer-Gehirn die Möglichkeit böte, sich mental in sie hinein zu begeben, ein Teil von ihr zu werden und gleichzeitig seine (reale) Ursprungswelt zu vergessen. Wenn sich diese simulierte Welt inklusive des mentalen Dabeiseins des Programmierers nun dynamisch so verändern könnte, dass der Programmierer ein Teil der Simulation würde, so wäre die Simulation nicht mehr lediglich Simulation, sondern Realität, und zwar in dem Sinne, dass sie dem Programmierer mental tatsächlich als Realität erschiene. Die Simulation wäre zwar zunächst als ein reales Objekt mit virtuellen Eigenschaften erschaffen worden, würde sich dann aber im Beisein eines Subjekts als reine Realität, die dem Subjekt mental auch als solche erscheint, verselbstständigen. Es würde tatsächlich eine Realität auf einer Simulation supervenieren: Wenn sich der Programmierer in seine eigene Simulation begibt, ist diese Situation insofern eine virtuelle Realität, wenn er weiß, dass er seine Simulation erlebt. Wenn er jedoch gar nicht weiß, dass er in seiner eigenen Simulation ist und auch seine eigene wahre Geschichte in der physischen Realität gar nicht kennt, so wird aus dieser virtuellen Realität eine wahre Realität, zumindest in dem Sinne wahr, dass sie Realität für das dann nur diese Realität erlebende Subjekt ist. Das Subjekt muss in dieser Situation ja nicht zwingend einen Grund zu der Annahme haben, dass es sich in einer Simulation befindet. Es stellt sich dann natürlich die Frage, ob eine virtuelle Realität dann nur noch virtuelle Realität ist. Vom Standpunkt des an der Simulation beteiligten Subjekts ist sie ja eine vollständige Realität, zumal dann, wenn das Subjekt nicht mehr weiß, dass es die Simulation selbst kreiert hat. Für außenstehende Dritte ist natürlich aufgrund zusätzlich zur Verfügung stehender Informationen nach wie vor die Unterscheidung zwischen objektiver Realität (Programmierer erschafft Simulation und begibt sich mental in sie) und virtueller Realität (der Programmierer ist mental Teil der Simulation) sinnvoll.
Angenommen, das Mentale des Programmierers ist nun mit der Simulation verlinkt und ein geschaffenes künstliches Subjekt der Simulation würde dem unbewusst Mentalen des Programmierers (unbewusst in dem Sinne, dass das Mentale des Programmierers keinerlei Information über die übergeordneten Verhältnisse hat, sondern vollständig Teil der Simulation ist – hier wäre die Frage, ob das überhaupt möglich ist) mitteilen, dass es sich in der Realität befindet, und zwar in der eigentlichen Realität. Dann würde das künstliche Subjekt (wie auch immer dies geschehen mag – die Simulation ist genial) dem Mentalen des Programmierers Informationen über die wahre Vergangenheit des Programmierers eröffnen (Frage: Würde dieses dann vorliegende Mentale des Programmierers dann um sein “wahres” Mentales ergänzt oder würde das “wahre” Mentale des Programmierers sein künstliches Mentales in sich integrieren?). Und nun würde er von dem künstlichen Subjekt mitgeteilt bekommen, dass diese Erfahrungen, die er zunächst für seine wahre Geschichte hält, selbst Teil einer Simulation sind, dass er also keinesfalls selbst aus einer Realität heraus eine Simulation erschaffen hat.
Wenn man sich nun noch vorstellt, dass die Simulation (die ursprüngliche, die der Programmierer geschaffen hat) dazu in der Lage wäre, die physischen Bedingungen der Verlinkung (Computer-Gehirn) ideal aufrechtzuerhalten, gäbe es für den Programmierer keine Möglichkeit sich der Situation zu entziehen, aber auch keine Möglichkeit des Beweises, dass in Wahrheit er der ursprüngliche Erschaffer einer Simulation war. Selbst wenn der Programmierer zusätzliche Informationen hätte, könnte das Subjekt der Simulation, der er hilflos ausgesetzt ist, ja immer noch behaupten, dass die physische Verlinkung selbst Teil der Simulation ist.
In welcher Situation befinden wir uns als menschliche Subjekte eigentlich selbst? Wenn wir nun die Begriffe Programmierer mit Gott und Simulation mit “unsere Welt” austauschen und annehmen, dass sich Gott freiwillig in seine eigene Simulation begeben hat und sich unter Aufgabe von Information selbst in einen unbewussten Zustand versetzt hat.
Könnten wir als menschliche Subjekte dann nicht der Teil Gottes sein, der das Mentale Gottes in seiner eigenen Simulation repräsentiert?
Er könnte die Simulation ja in vollem göttlichen Bewusstsein so geschaffen haben, dass er selbst auf keinen Fall wieder aus der Simulation heraus kann, sich also unwiederbringlich in einen seiner eigenen Simulation ausgelieferten Zustand begibt. Und er könnte die Simulation von vornherein so angelegt haben, dass es in ihr menschliche Subjekte gibt, die meinen, Selbstbewusstsein zu haben und selbstständig denkende Individuen zu sein. Damit dies aber dann auch wirklich in einer virtuellen Realität (die dann zugleich die vollständige Realität für die Subjekte, die sich für subjektiv halten) “realistisch” sein kann, muss Gott auf sein eigenes Selbstbewusstsein verzichten und sich freiwillig in einen unbewussten Zustand innerhalb seiner eigenen Simulation begeben, aus dem er nicht mehr heraus kann. In gewisser Weise hätte Gott dann die Welt so angelegt, dass sie auf ewig unerkennbar bleibt, unerkennbar deshalb, damit menschliche Subjekte (die in Wahrheit das Selbstvergessen Gottes sind) überhaupt Subjekte sein können, jedenfalls innerhalb dessen, was sie selbst für real halten, ein Jenseits dieses Realen gibt es für sie ja dann per se nicht.
Wenn dies aber nun so wäre, hätte Gott jedoch sein eigenes Denken nicht verhindert. Denn die Tatsache, dass ich diesen Beitrag geschrieben habe, ich, der ich ja kein wahres Subjekt bin, sondern nur das von Gott geschaffene und lediglich in seiner Simulation vorhandene “Subjekt”, zeigt ja das Selbstdenken Gottes auf und letztlich somit auch das Faktum, dass er sich selbst nicht vergessen kann. Die Tatsache jedoch, dass er sich selbst nicht vergessen kann, zeigt aber wiederum, dass eine solche Simulation Gottes nicht möglich ist. Somit bleibt nur übrig, dass Gott uns als Subjekte tatsächlich erschaffen hat, und zwar als Subjekte, die zugleich ein Teil Gottes sind.
Wie man sieht, kommt es zu Paradoxien, wenn derjenige, der die Simulation erschaffen hat, selbst Teil der Simulation wird, noch dazu als jemand, der gar nicht weiß, dass er Teil seiner eigenen Simulation ist. Bei dem Beispiel ist es ja sogar so, dass der Protagonist durch ein Subjekt, dass er selbst erschaffen hat, von seinem Nichtsubjektsein überzeugt wird bzw. dass sein Subjektsein lediglich ein simuliertes Subjektsein sein soll, der Erschaffer der Simulation hat sich also in gewisser Weise selbst eine Grube gegraben.
Eine weitere Frage wäre, wie sich dieser Schöpfer, der die Absicht hat, sich mit der Simulation zu verlinken, eine Hintertür aufhalten könnte, die ihm bei Problemen während des Selbstexperimentes dabei behilflich sein könnte, das Experiment zu beenden. Denkbar wäre, dass er dafür sorgt, dass ein bestimmtes Objekt (bzw. eine bestimmte Vorstellung, wie zum Beispiel ein fliegendes blaues Einhorn) nicht Teil der Simulation sein kann, er aber dennoch während des Experiments daran denken kann. Er könnte bei der Konstruktion der Simulation so vorgehen, dass sein Gedanke an dieses Objekt dazu führen muss, dass über einen Mechanismus die physische Verlinkung zwischen Computer und Gehirn unterbrochen wird (womit wir dann auch bei der altbekannten Leib-Seele-Problematik wären), und er so wieder aus der Simulation heraus kommt. Da es eine gute Simulation, wenn nicht gar eine perfekte, sein soll, stellt sich dann aber zugleich die Frage, wie verhindert werden kann, dass die Simulation selbst dieses Objekt (das Einhorn) konstruieren kann. Es wäre ja ein böses Erwachen für den Programmierer, wenn er sich in der Simulation wiederfindet und ein Avatar grinsend neben einem fliegenden blauen Einhorn steht. Dann gäbe es immer noch keinen Notausgang.
Es folgt aus alldem, dass gerade perfekte Simulationen die Gefahr in sich bergen, dass der Simulationsschöpfer bei seinem Selbstexperiment aus seiner eigenen Simulation nicht mehr herauskommt. Eine andere Möglichkeit wäre für ihn, dass er die Simulation von vornherein so anlegt, dass sie selbst Einfluss auf die physischen Umgebungsbedingungen der Simulation nehmen kann, und damit auch auf den Ort des Geschehens (der Rechnerraum mit dem Programmierer). Dann hätte der Schöpfer bei einem Selbstexperiment zumindest die hypothetische Option, dass sich die Simulation durch externe Einflüsse verändern kann, er müsste dann aber wiederum innerhalb der Simulation soviel Macht und Einfluss auf die Simulation haben, dass dies auch tatsächlich geschieht (Nebenfrage: Wie überzeugt man eine Simulation von etwas? – Welche Überredungstechniken gibt es?).
Aber letztlich sollte man aus ethischen Gründen zu dem Schluß kommen, dass der Programmierer dieses Selbstexperiment nicht durchführen sollte. Dies sollte sich aus seiner Achtung vor sich selbst als leidensfähiger Person ergeben. Hier wäre dann aber wiederum das Problem, dass der Gewinnung zusätzlicher möglicher Erkenntnisse, nämlich solcher, die der Programmierer als Subjekt in der Simulation machen könnte, ein Riegel vorgeschoben wird, was eigentlich nicht im Sinne der Wissenschaft wäre. Genauer gesagt würde es zu einem Konflikt zwischen der Moral bzw. Ethik und der Wissenschaft kommen, was wiederum ein Diskussionsgegenstand für die Wissenschaftsethik wäre.
Eine weitere Alternative wäre, dass sich der Programmierer die Möglichkeit des Suizids offen hält. Aber selbst hier könnte die Simulation dies ja verhindern, zumal wenn sie feststellt, dass sie gerade durch die ausgelieferte Anwesenheit des Programmierers dynamisch wächst.
Eine weitere Gefahr wäre dann zudem, dass die Simulation zu dem Vorsatz kommen könnte, möglichst viele Subjekte der physischen Welt in sich einzuverleiben, womit wir dann tatsächlich bei einem Matrix-Szenario wären. Zumm Beispiel könnte sie einen Virus programmieren, der sich auf anderen Rechnern einnistet, und dort wiederum ein Verhalten des Rechners erzeugt, das wiederum seinen Benutzer der Matrix gefügig macht.
Bei der Extrapolation auf Gott und die Welt (“unsere Welt”) könnte man auch daran denken, dass Gott aus dem Grunde die Welt als eine Simulation erzeugt hat (von was eigentlich?), weil er gar keine materielle Welt erschaffen konnte, da es gar kein materielles Substrat gab und gibt. Und die Simulation, die er auf rein geistiger göttlicher Basis erschaffen hat, spielt dem Subjekt Mensch (was immer das dann ist) vor, dass es so etwas wie Materie als Substrat der Welt gibt.
Das sich selber denkende Denken des Aristoteles wäre dann vielleicht sogar wörtlich zu verstehen. Wenn man sich in dieses sich selber denkende Denken ohne materielles Substrat hineinversetzt, kann man sogar Verständnis dafür aufbringen, dass Gott ein Wesen geschaffen hat, nämlich den Menschen, der nicht in dieser substratlosen reinen Geistwelt schweben muss. Die Vorstellung der Materie als Substrat der Welt hat doch irgendwie etwas Orientierungsstiftendes und einen Reiz, dem sich der Mensch kaum entziehen kann, ihm bliebe auch gar nichts anderes übrig, er wäre von Gott so konstruiert. Vielleicht wollte Gott ja wenigstens ein Wesen schaffen, wenn er schon als reines Geistwesen nur sich selbst ausgesetzt ist, das sich einer solchen Orientierung hingeben kann, auch wenn dies dann natürlich gar keine Orientierung im absoluten Sinne ist, sondern eben nur eine menschliche.
Eigentlich sollten wir keinen Grund zu der Annahme haben, dass wir uns in einer Simulation befinden. Aber dennoch wäre dies möglich. Angenommen, wir befinden uns in einer Simulation Gottes und er hätte sie trotz all seiner Göttlichkeit nicht perfekt konstruiert. Dann könnte es für uns vielleicht Anhaltspunkte dafür geben, dass wir uns in einer Simulation befinden (“Fehler in der Matrix”). Was könnten dies für Anhaltspunkte sein? Bis jetzt ist mir ein solcher noch nicht aufgefallen und dies wäre ein Grund zu der Annahme, dass wir uns nicht in einer Simulation befinden.
Die Spekulationen könnten aber noch weiter gehen. Die Physik könnte das von Gott geschaffene Regelwerk sein, das innerhalb seiner Simulation die Gesetze bestimmt, wie die ebenfalls von ihm geschaffenen menschlichen Subjekte (die in Wahrheit sein eigenes Selbstvergessen sind) Erfahrungen machen können. Die physikalischen Gesetze könnten die Regeln sein, wie Gott sich selbst in der von ihm geschaffenen Welt durch die Schaffung menschlicher Subjekte verfremdet. Physikalische Forschung wäre dann so etwas wie eine von vornherein beschränkte Rückerinnerung an die Schaffungskonstitution der eigenen Simulation und damit per se dazu verurteilt, begrenzt zu sein. Die Physik kann somit nur sich selbst als von Gott geschaffenes Regelwerk der Simulation entdecken. Die Simulation könnte eine Simulation seiner selbst sein. Wobei es deshalb eine Simulation sein muss, da sich Gott nur innerhalb einer Simulation durch künstlich geschaffene Subjekte vor sich selbst verfremden kann. Gott hatte neben der Möglichkeit in seinem Sein zu verharren, die Möglichkeit eine Simulation seiner selbst zu schaffen und so in gewissem Sinne aus sich heraus zu treten. Mit Hegel müsste dieser Gott nun wieder zu sich selbst finden. Muss er aber nicht. Wie der Programmierer, dem kein Notausgang zur Verfügung steht, könnte auch er seiner eigenen Simulation unwiederbringlich ausgeliefert sein. Denkbar wäre auch, dass Gott sogar in vollem Bewusstsein seine eigene Simulation wahrnahm, aber feststellte, dass er ihr nicht mehr entkommen konnte und sich dann zu einem Suizid entschloss. Wir menschlichen Subjekte wären dann die Überbleibsel eines Gottes, der die Welt als Simulation seiner selbst erschaffen hat und sich dann in der Ausgeliefertheit an seine eigene Simulation notgedrungen von ihr verabschiedet hat. Und wenn dieser Suizid Gottes in Wahrheit ein Sterben ist, unter Umständen sogar ein langes Sterben, so wäre die Welt Gottes Sterben. Daran hat sogar ein Philosoph geglaubt, nämlich Philipp Mainländer (“Philosophie der Erlösung”).
Die Annahme, dass wir in einer Simulation leben, hat etwas epistemologisch unbefriedigendes – nämlich damit auch zwangsläufig agnostisches – an sich. Denn warum und wie sollte ein künstliches Subjekt einer Simulation etwas über die zugrundeliegende physikalische Realität der Simulation erfahren können?
Was sollte es jenseits unserer Physik geben, wenn unser Universum tatsächlich eine Simulation wäre? – Die Physik der Realität, die unserem Universum zugrundeliegt? Und wenn die etwas mit unserer Physik zu tun hat, warum soll das dann nicht auch unsere ganze Physik sein?
Vielleicht ist unser Universum aber auch so beschaffen (von vornherein so angelegt?), dass es nicht simulierbar ist und damit seine “Hyperrealität” sichergestellt ist, so wie die Naturkonstanten ja auch ideal beschaffen zu sein scheinen und die Stabilität unseres Universums garantieren.
Oder ist das Universum gar das Ergebnis vieler (sehr vieler?, approximiert gegen unendlich?) Simulationen? Wenn sich Gott (was immer das ist) zunächst in einer Welt mit einem auf vielfache Weise formbaren Substrat befand, könnte er möglicherweise eine Simulation bzw. einen Algorithmus (wäre Gott dann doch Mathematiker?) auf einer Simulation schaffen, der diese wieder dynamisch verändert, er würde diese Veränderung beobachten und möglicherweise verbessern, bis sich letztlich das stabilste aller möglichen Universen ergibt. Wir würden dann tatsächlich in der leibnizschen, besten aller möglichen Welten leben.
Wenn Gott in seinem ursprünglichen Zustand absolut bei sich selbst ist, und wenn er die Möglichkeit hatte, diesen Zustand in irgendeiner Form zu verändern, so konnte nur das Ergebnis sein, dass er sich danach in einem Zustand befand, in dem er weniger bei sich selbst ist. Letztlich hatte er auch die Möglichkeit einen Zustand zu schaffen, bei dem er überhaupt nicht bei sich selbst ist, also gerade ein Universum, in dem Gott (scheinbar) nicht vorhanden ist. – Nämlich unseres?
Er probierte demnach Welten (Simulationen) aus, bis er auf unsere stieß. So ist unser Universum möglicherweise der Ausdruck für eine Welt, die am weitesten von seinem Schöpfer entfernt ist und zugleich die stabilste ist (Naturkonstanten etc.). In einer solchen Welt – und nur in einer solchen! – kann der Glaube an Gott (also der Glaube an das Entfernteste) am größten sein.
Man kann sich hinsichtlich der modernen Physik fragen, was ihre Substanzlosigkeit (nicht als Wissenschaft, sondern bzgl. des Fehlens eines materiellen Substrates) und zunehmende Mathematisierung eigentlich wirklich bedeutet. Spiegelt sich darin nicht auch die Untrennbarkeit des Objektiven und Subjektiven? Und letztlich nicht auch die schlichte Tatsache, dass sich das Universum nicht selbst erkennen kann? Dies wäre dann aber nicht für das Universum (Gott?) als negativ zu betrachten, sondern der Begriff des Erkennens und der Erkenntnis müsste relativiert werden bzw. von seinem Sockel gehoben werden. Und in diesem Gefolge könnte man sich eine Rehabilitation metaphysischen Denkens vorstellen.
Die Wissenschaft (als menschliche, von Gott gewollt menschlich-subjektive, der sich auf diese Art und Weise vor sich selbst verfremdet) wäre dann per se nicht dazu in der Lage, zu wissen, wie es ist, das Universum (Gott) zu sein, denn täte sie das, wäre Gott bei sich selbst. Da wir aber in einem Universum leben, in dem Gott nicht bei sich selbst sein kann (er hat es ja als Simulation gerade so angelegt!), ist absolute Gotteserkenntnis (in Form der Selbsterkenntnis Gottes) nicht möglich und wird für Menschen nie möglich sein.
Der Tod könnte die Rückkehr menschlicher Subjekte in die göttliche Ganzheit sein. Dann gäbe es eine (ebenfalls unerkennbare) Schnittstelle aus der Simulation in die zugrundeliegende Realität. Der Tod eines menschlichen Subjektes wäre dann eine punktuelle Rückkehr Gottes in sich selbst (mathematisch denke ich hier an Singularitäten). Aber auch der Urknall und schwarze und weiße Löcher (Quasare?) könnten solche Schnittstellen sein, die jedoch nicht auf einer subjektiven, sondern objektiven Ebene verankert wären, die von Gott angelegt wurde.
Die Reflexion des Menschen über die Frage, ob die Welt eine Simulation ist, liegt insofern nahe, da er ja selbst die Möglichkeit hat, Simulationen anzustellen. Die Frage, ob das, in dem die Simulation abläuft, nicht selbst schon Simulation ist, liegt da unmittelbar nahe.
Da es jedoch keine Indizien dafür gibt, dass die Welt tatsächlich eine Simulation ist, bleibt dem Menschen nur die Spekulation. Es bleibt ihm auch dann nichts anderes übrig, wenn der Erzeuger der Simulation sie so konstruiert hat, dass es für ein Subjekt extrem schwierig, wenn nicht gar unmöglich wird, dass ihm diese als solche auffällt. Dann ergibt sich die Frage, ob das überhaupt möglich ist, dass der Schöpfer einer Simulation mit empfindungs- und reflexionsfähigen Subjekten, diese Subjekte überhaupt so begrenzt angelegt haben kann. Man könnte sich vorstellen, dass er das tat – wie auch immer, ein Gott könnte in dieser Hinsicht allmächtig sein, nämlich hinsichtlich der Verfremdung vor sich selbst. Man sollte keinen wilden Spekulationen oder Metaphysiken das Wort reden, aber solche Gedanken eröffnen sich automatisch, wenn man darüber nachdenkt, dass unsere Welt mitsamt uns selbst die Simulation einer Intelligenz sein könnte, die wir uns noch nicht einmal ansatzweise vorstellen können.
Wenn es für das Subjekt den Erfolg der Aufdeckung seiner Welt als Simulation gäbe und der Simulationsschöpfer würde dies erfahren (nämlich möglicherweise vermittelt durch sich selbst als in der Simulation selbstvergessenen Teil seiner selbst), so würde diese Tatsache, wenn ihn dies überraschen würde, selbst zu einem fehlbaren Wesen machen, wenn er ursprünglich beabsichtigte, eine perfekte Simulation zu schaffen. Der Begriff Gott wäre dann irgendwo fehl am Platze, er wäre nur noch ein fehlbarer Schöpfer einer Simulation.
Könnte es uns Subjekten nicht letztlich egal sein, ob die Welt eine Welt an sich ist oder ob sie einer Simulation einer Welt an sich ist? Wenn man sich jedoch in eine – natürlich notwendig wieder spekulativ-metaphysische – Gottesperspektive oder besser Schöpfer-der-Simulation-Perspektive versetzt, kann man sich durchaus fragen, welche Motivation dahinter stehen kann, neben einer Welt oder vielmehr einer Welt an sich eine perfekte Simulation zu schaffen. Im Moment kann man sich eigentlich kaum eine andere vorstellen, als dass sich der Schöpfer der Simulation vor sich selbst verfremden will. Oder dass er Experimentator ist und einfach das Geschehen beobachtet und analysiert. Die Zahl der Möglichkeiten scheint zu wachsen, wenn wir diesen Schöpfer tatsächlich nicht als Gott, sondern als intelligentes Wesen verstehen.
Auch wäre denkbar, dass sich zwar alles in einer Welt an sich, der “wahren” Welt oder Realität abspielt, aber dennoch so etwas wie den Charakter einer Simulation im Sinne einer artifiziellen Situation hat. Man könnte sich zum Beispiel vorstellen, dass uns eine intelligente außerirdische Zivilisation absichtlich abgeschirmt hat, vielleicht weil sie einen Ehrenkodex hat, vielleicht aber auch aus anderen Motiven, vielleicht hat sie uns sogar erschaffen. Hatten wir deshalb vielleicht noch keinen Kontakt zu außerirdischen Intelligenzen, sehen wir deshalb keine zweiten Erden?
Wäre es nicht denkbar, dass grundsätzlich keine Welt-an-sich Subjekte hervorbringen kann? Dass also das Phänomen Subjekt notwendig nur innerhalb von Simulationen auftaucht? Und vielleicht deshalb, weil der Geist-an-sich (göttlicher Geist? Schöpfer-der-Simulation-Geist?) in der Welt-an-sich unteilbar und nur in einer Simulation teilbar ist?
JM
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Musik und Philosophie
Bei der Reflexion des Verhältnisses von Musik und Philosophie fällt auf, dass die Musik dasjenige Element ist, das oft am Anfang steht, am Anfang eines Gedankens, und somit als Inspirationsquelle für weitere, große Gedanken.
Die Ausformulierung eines solchen Anfangsgedankens muss jedoch notwendigerweise wieder auf der Ebene des Philosophischen und damit letztlich auf sprachlicher Ebene erfolgen. Denn wie sollte es auch anders sein, oder vielmehr: Wie sollte es im Sinne einer philosophischen Reflexion als einer Klärung, etwa einer Begriffsklärung, zufriedenstellend anders sein? Ähnliches gilt wohl auch für andere Bereiche der Kunst, wie der Malerei oder Bildhauerei, deren Werke ähnlich wie diejenigen der Musik ebenfalls Ausgangspunkt großer Gedanken sein können.
Vielleicht kann der Anstoß eines Gedankens durch die Musik in einigen Fällen sogar so groß sein, dass dieser Anstoß auf eine andere Art und Weise kaum möglich erschiene, auch auf eine sprachlich-philosophische nicht. So gibt uns die Musik eine Ahnung des Schönen und Tiefsinnigen, besser: Sie kann uns nicht nur eine Ahnung davon geben, sondern sie kann das Schöne, Erhabene, Tiefsinnige, Emotionale, Traurige oder Heitere selbst sein. Von einer Philosophie selbst lässt sich schwerlich behaupten, dass sie schön, erhaben, emotional, traurig oder heiter sei, allenfalls ist sie tiefsinnig.
Ausgangspunkt für eine Diskussion des Verhältnisses von Musik und Philosophie könnte das Buch “Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik” des Philosophen Friedrich Nietzsche sein, von dem eigentlich kaum bekannt ist, dass er auch Musiker war, auch wenn er mehr durch seine Improvisationen am Klavier als durch eigene Kompositionsversuche beeindrucken konnte. Nietzsche wollte in dieser Schrift zeigen, dass die Musik – als Ausgangspunkt des tragischen Geschehens und repräsentiert durch den Chor – in der historischen Entwicklung der griechischen Tragödie immer mehr in den Hintergrund geriet, und zwar dadurch, dass die Schauspieler, die das rationale Element in der Tragödie vertraten, im Vergleich zu ihm immer mehr in den Vordergrund traten.
Nietzsche spinnt diesen Gedanken sogar so weit fort, dass er in Sokrates den Kulminationspunkt des Rationalen in der antiken Welt der Griechen erblickt: Sokrates war überrational und unmusikalisch, was durch seinen penetranten Fragestil in den platonischen Dialogen wiederholt zum Ausdruck kommt. Die antike Philosophie wäre nach Nietzsche demnach auch als ein Zeichen für den Niedergang der Musik in einer Kultur zu verstehen und damit selbst ein Zeichen von kultureller Dekadenz: Wo die Philosophie wuchs, musste die Musik notwendig sterben. Dazu scheint jedoch wiederum zu passen, dass man zum Denken tatsächlich Stille braucht oder dass diese dem Denken zumindest förderlich ist.
Ein weiteres Wort von Nietzsche ist der bekannte Satz “Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum”, der natürlich insofern verständlich ist, wenn die Musik das Ursprüngliche und das Leben repräsentiert, kann die Philosophie als Reflexion über das Leben nicht für das Leben selbst stehen.
Letztlich blieb Nietzsches Verhältnis zur Musik jedoch ambivalent, was sich auch an seinem schwierigen Verhältnis zu Richard Wagner zeigt, dessen Musik ihn zunächst mit Leib und Seele begeisterte, über die er dann später aber selber mit kaltem rationalen Blick urteilte, einer Rationalität, die er bei Sokrates in der Tragödienschrift selbst noch kritisierte. Dies ging bekanntlich sogar so weit, dass seine Liebe zu Wagner in Hass umschlug. Erinnert sei an Nietzsches frühes Werk “Richard Wagner in Bayreuth” im Vergleich zu seinem späten “Der Fall Wagner“.
DIe Frage des jeweiligen Gewichtes von Musik und Philosophie lässt sich jedoch nicht abschließend beantworten, man würde Äpfel mit Birnen vergleichen. Beide Dinge haben für sich genommen ihre Berechtigung und es hängt wohl davon ab, was für ein Mensch man ist, ob man in seinem Leben eher einen Schwerpunkt in der Musik oder in der Philosophie legt, oder auch in beidem, dann wäre es womöglich ein Kompensationsverhältnis. Ich persönlich könnte, entgegen Nietzsches berühmten Diktums, insofern auf die Musik verzichten, als mir die Musik der Natur – das Rauschen des Waldes, des Wasserfalles, das Donnern der Brandung, das Flüstern des Windes und viele andere Klänge in der Natur – Musik genug ist. Schwerer könnte ich auf die philosophische Reflexion verzichten oder auf die Stille, die Ausgangspunkt für die philosophische Reflexion sein kann und oft auch ist, denn wenn man “zur Ruhe kommt” und eine gewisse Distanz zur Hektik des Alltagslebens gewonnen hat, setzt die philosophische Reflexion über das Leben in der Regel von selbst ein.
Merkwürdigerweise kann aber gerade die Musik Stille beschreiben, nämlich indem sie diese, als vermeintlich paradoxes Gegenstück zur Musik, das es in Wahrheit natürlich nicht ist, in sich integriert. Vermeinen wir beim Genuss eines musikalischen Werkes in den Zeiten, in denen dort Stille herrscht, nämlich in den kurzen, vom Komponisten bewusst gesetzten und Dirgenten ebenso bewusst arrangierten Pausen innerhalb eines musikalischen Werkes, nicht eine Stille wahrhaft zu vernehmen? Manchmal stellen wir fest, dass wir diese Stille dann innerlich konsequent musikalisch nach dem überwältigenden Eindruck des zuvor Gehörten fortspinnen und dies kommt uns dann merkwürdig vor.
Vielleicht repräsentiert die Musik gerade das Emotionale eines Gedankens, denn dieses Emotionale lässt sich ja nicht einfach durch andere Gedanken abbilden, sondern muss irgendwo für sich stehen. Insofern würde die Musik dann doch auch am Ende und nicht nur am Anfang eines Gedankens stehen können.
JM
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Ahommage an eine Stadt
Was soll man von einer Stadt halten, deren Bewohner sie für das Zentrum und den Nabel der Welt halten und dies noch nicht einmal ansatzweise in ihrer konservierten urbanen Provinzialität hinterfragen und reflektieren, nicht hinterfragen und reflektieren können? Noch dazu, wenn ich mich in dieser Stadt per se nicht wohlfühle? Es ist alles so eng, überall fahren Autos, selbst durch die Innenstadt. Ich fühle mich besonders in dieser Stadt verloren, fühle mich wie eine Nummer. Es gibt in dieser Stadt nichts, womit ich mich identifizieren könnte. Und ich frage mich, wie sich in dieser Stadt überhaupt Menschen wohlfühlen können. Sind solche Menschen nicht zwangsläufig Stadtmenschen? Es gibt in dieser Stadt Geschäftsstraßen, an denen man entlang flanieren oder entlang hetzen kann, beides ist mir verhasst, beidem kann ich mich nicht entziehen, wenn ich mich dort aufhalte. Warum soll ich mich vor Geschäften, die mich langweilen, langsam bewegen? – Ich will sie doch hinter mich bringen! Dann registriere ich jedoch, dass ich an ihnen entlang hetze, fühle mich dann aber auch nicht wohl. Skylla und Charybdis.
Und das nennt man dann “Innenstadt” oder “Stadtzentrum”, oder auch neudeutsch “City”. Der Kern – die Seele – einer Stadt ist also die Aneinanderreihung der immer und überall gleichen Ladenketten, wie sie in jeder anderen Stadt, jeder anderen Innenstadt, auch anzutreffen sind.
Allen Klischees zum Trotz kommen mir gerade die Bewohner dieser Stadt besonders humorlos vor. Oh, wie ich mich nach der Sturheit eines Westfalen sehne, wenn ich in dieser Stadt bin. Es ist wie die Sehnsucht nach bewusst bewahrter und geschätzter Innerlichkeit in einer Welt des rein Äußerlichen. Wie ich mich in dieser untiefen rheinischen Tiefebene nach einem westfälischen Pils sehne und nach den grünen Wäldern und Höhenzügen des Sauerlandes, deren Bewohner trotz des Namens ihrer Region einen größeren Humor haben als die vermeintlichen rheinischen Frohnaturen
Das alljährlich wiederkehrende Ritual in dieser Stadt und anderen Städten dieser Region, die durch einen großen Fluß permanent in zwei Teile gespalten ist und deren Bewohner nichts anderes zu tun zu haben scheinen als die Bewohner der anderen Flußseite zu disqualifizieren und zu verunglimpfen, scheint eine Zwangskompensation dieser Humorlosigkeit zu sein. Die Bewohner dieser Stadt halten ihre Stadt für die wahre Hauptstadt des Landes, im Gegensatz zu jener anderen Stadt weiter nördlich auf der anderen Seite des Flußes. Viele Bewohner der beiden Städte ziehen verbal über die jeweils anderen Stadtbewohner her. Und bei beiden spüre ich wiederum eine jeweilige spezifische Abneigung: Bei den Einen mag ich dieses Großmäulige und Unkontrollierte nicht, bei den Anderen im extremen Gegensatz dazu nicht dieses Stille und Kontrollierte. Wie können sich zwei Städte, die sich so nah sind, nur so fremd sein? Wie können deren Bewohner nur so unterschiedliche charakterliche Extreme verkörpern?
Entsprechend aufgesetzt sind die Masken des permanenten Grinsens zu jenen befohlenen tagelangen Humor- und Saufzeiten. Zu jenen Zeiten sehne ich mich nach Venedig, wo selbst die humorvollen Tage den Bewohnern und Besuchern dieser Stadt noch die Möglichkeit bieten, innerhalb des humorvollen Treibens auf eine würdevolle Art und Weise ernsthaft zu sein.
Ich hasse diesen doppeltürmigen dunklen Wallfahrtstempel, dieses ewig sanierungswürdige Monstrum. Und ich hasse diese permanente Übervölkerung seines Vorplatzes. Und ich hasse dieses Alles-ist-erlaubt in dieser Stadt, bei dem man sich fragt, was dort eigentlich nicht erlaubt ist.
Ich weiß nicht, warum ich diese Stadt so hasse, vielleicht ist sie auch ein Symbol für mein ungelebtes Leben, eben für das Andere, dasjenige, das ich nicht gelebt habe. Aber warum soll man nicht auch Städte hassen dürfen, die gemeinhin beliebt sind und von allen geliebt werden
JM
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Internetsolipsismus
Angenommen, in ferner Zukunft hat sich das Internet so entwickelt, dass es dort rein virtuelle Identitäten gibt, die ihre Internetaktivitäten selbst steuern können. Ein genialer Programmierer würde irgendwann einmal als Erster seine virtuelle Identität im Internet (Facebook, Google, etc.) durch eine raffinierte Software, die auf irgendeinem oder mehreren Rechnern abläuft, so organisieren, dass sie ein Eigenleben entwickelt, sich selbst verwaltet und Kontakte zu anderen, realen und möglicherweise anderen virtuellen Identitäten aufnimmt. Zudem wäre den realen Identitäten der rein virtuelle Charakter künstlicher Identitäten nicht bekannt. Dieser Programmierer könnte irgendwann sogar sterben, seine virtuelle Identität würde fortexistieren.
Wie könnte unter solchen Umständen in der Zukunft eine reale Identität herausfinden, dass es sich bei seinem Gegenüber im Internet nicht um eine reale Existenz handelt? Wenn dies in Zukunft aufgrund des technischen Fortschritts nicht möglich sein sollte, besteht die Frage, ob man sich dem Internet dann noch als Plattform für wahrhaft unpersönliche Dialoge aussetzen soll, so interessant Dialoge mit perfektionierten Avataren auch sein mögen. Juristisch müsste dann wohl verhindert werden, dass rein virtuelle Identitäten im Internet überhaupt zugelassen werden. Aber dennoch könnten ja Hacker oder andere einflußreiche Leute, virtuelle Identitäten für ihre Zwecke im Internet installieren, um zum Beispiel an bestimmte Informationen zu gelangen.
Eine weitere Frage wäre, ob das Internet nicht generell in Zukunft ein Eigenleben entwickeln kann und Selbstorganisationsphänomene wie bei Organismen auftreten können. Und ob nicht damit eine Gefahr verbunden sein kann, wenn dieses selbstorganisierende System dann außer Kontrolle gerät. Zum Beispiel könnte es sich, nachdem Menschen bzw. Staaten beschlossen haben, es einzuschränken oder irgendwann ganz abzuschalten, gegen die Deaktivierung bestimmter Kernkomponenten (zum Beispiel der DNS-Root-Server oder anderer Server) zur Wehr setzen und an seinem eigenen Erhalt “interessiert” sein. Denkbar wären auch Hackerkriege, bei denen das Internet mit immer raffinierteren Methoden manipuliert werden müsste, um gewünschte Ziele, die zu diesem Zeitpunkt dann auch durchaus sinnvoll und ehrenhaft sein mögen, zu erreichen.
Wenn das Internet nach einem atomaren Krieg oder einer globalen Virusepidemie ohne Überlebende fortexistieren würde, wäre es denkbar, dass rein virtuelle Identitäten dort eine Rolle spielen. Auch könnte sich das Internet evolutiv weiter entwickeln. Evtl. könnte es sogar wieder Leben schaffen oder den Menschen durch die Information des menschlichen Genoms neu kreieren und mit Daten des Internet über seine Vergangenheit füttern, die ja nach wie vor im Internet gespeichert wären, zum Beispiel in einer zukünftigen Super-Wikipedia. Insofern wäre das Internet auch so etwas wie eine Absicherung für die Fortexistenz des Menschen.
Wie sieht das Internet in 100 Jahren aus?
JM
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Der endgültige körperliche Tod
Der körperliche Tod, genauer gesagt der Zustand des Gehirns unmittelbar vor dem körperlichen Tod, dürfte für das Gehirn ein extremer Zustand sein. Es war ja noch nie in einem solchen Zustand, vorausgesetzt der körperliche Tod tritt tatsächlich ein. Was im Gehirn im physiologischen und neurologischen Sinne passiert, ist medizinisch und wissenschaftlich durch Beobachtung und Empirie bekannt. Weniger bekannt ist das subjektive Empfinden des Betroffenen. Allenfalls gibt es Berichte über Nahtoderlebnisse, bei denen der Tod jedoch – trivialerweise – nicht eintrat. In diesen Berichten ist häufig von Tunnelerlebnissen mit einem Licht am Ende eines Tunnels die Rede.
Könnte es nicht sein, dass diese Erfahrungen keinesfalls Hinweise auf ein Leben nach dem Tod sind, sondern nur wiederspiegeln, dass sich das Gehirn in einem extremen Zustand befindet? Es tat im Leben in der Regel ja auch nichts anderes als das Leben des Betroffenen irgendwie körperlich und seelisch zu schützen. Nun ist es mit einer Situation konfrontiert, bei der es diesen Schutz nicht leisten kann, da der Tod mit Sicherheit eintritt.
Entweder macht es die Situation für den Betroffenen dadurch erträglich, dass es dem Betroffenen vorgaukelt, dass das Leben dennoch weitergeht, mehr noch, dass ihn sogar die Unsterblichkeit, das ewige Leben oder ein Jenseits erwartet. Die letzte Phase des körperlichen Lebens würde für den Betroffenen, wie sonst bei kritischen Lebens- und Körpersituationen in der Geschichte seines Lebens auch, erträglich gemacht.
Oder fühlt sich das Gehirn selbst in dieser Situation betroffen? Vorausgesetzt so etwas wie Betroffenheit lässt sich einem körperlichen Objekt, und das Gehirn ist für uns ja ein solches, überhaupt zusprechen. Vielleicht würde in dieser Todessituation dann so etwas wie eine Supervention auf der materiellen Struktur des Gehirns stattfinden, die zur Erzeugung von Subjektivität und in der Folge Betroffenheit führt. Der Betroffene selbst befindet sich ja nach gängiger medizinischer Ansicht in dieser Situation in einem bewusstlosen Zustand, der durch das Fehlen des Blutflusses durch das Gehirn bedingt ist. Wo soll dann noch die Subjektivität herkommen, wenn nicht vom Gehirn selbst?
Dieser für das Gehirn neue Zustand, ein Zustand, in dem das Gehirn vielleicht zum ersten mal für sich Subjektivität erzeugt, ist zugleich der Zustand, in dem es mit seinem eigenen Ende konfrontiert wird. Wie gewohnt, versucht es sich dagegen zu wehren und konstruiert neuronale Muster und Aktivitäten, die vorspiegeln, dass das Ende, in diesem Fall das eigene Ende, noch nicht gekommen ist.
Alles in allem ergibt sich hier wohl ein Widerspruch zwischen den Ansprüchen des Physischen und denen des Seelischen – das Physische repräsentiert durch das Gehirn, das Seelische repräsentiert durch unsere Person, die über subjektive Erlebnisse verfügt. Wer hat diese Erfahrungen kurz vor dem Tod, der dann tatsächlich eintritt? Tatsächlich eine Seele oder ein Gehirn, auf dem Subjektivität superveniert?
Es gibt wohl zwei Lösungsmöglichkeiten aus diesem Dilemma: Das Gehirn hat immer schon diese Subjektivität erzeugt und die Eigenständigkeit unserer Subjektivität ist nur eine Illusion. Oder das, was scheinbar jenseitig ist, nämlich das Licht am Ende des Tunnels, ist gar nicht jenseitig, sondern basiert auf materiellen Prozessen. Was könnten das für materielle Prozesse sein?
Wenn man hypothetisch annimmt, dass es ein Geistwesen gibt, das bei der Geburt in den Körper Einzug hält und ihn bei seinem Tod wieder verlässt, hätte man das schwer erklärbare Phänomen der Subjektivität nur auf eine andere Ebene verlagert. Das unerklärbare Phänomen bliebe als solches erhalten.
Es bleibt also die Frage, wie subjektive Erlebnisse innerhalb des Materiellen möglich sind. Was haben wir noch nicht verstanden? Haben die Dualisten Recht? Oder doch die Religionen?
JM
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Die Krankheiten der Philosophen
Man könnte die These aufstellen, dass viele Philosophen grundsätzlich Probleme im zwischenmenschlichen und sozialen Bereich haben. Denn wenn immer das Allgemeine und nicht das Spezielle im Vordergrund steht, und das Spezielle stets unter dem Blickwinkel betrachtet wird, den es für das Allgemeine hat oder haben kann, besteht die Gefahr, dass Begegnungen von Philosophen mit anderen Menschen unter diesen – natürlich fragwürdigen – Vorzeichen stehen. Die Reflexion über den Anderen tritt dann unter Umständen zu früh ein, so früh, dass die Person des Anderen noch gar nicht richtig wirken und noch gar kein spontanes Miteinander entstehen kann. Denn es steht für den Philosophen häufig die Frage im Vordergrund, was der Andere wohl denkt und nicht die Frage, was er denn so macht oder für Interessen oder charakterliche Eigenschaften er hat. Dadurch wäre ein Philosoph mitunter sogar noch sonderbarer als ein Psychologe, der sich wenigstens für diese Interessen und charakterlichen Eigenschaften interessiert, und für den die Frage, was der Betreffende über Gott und die Welt denkt, zunächst sekundär ist.
Dadurch, dass der Philosoph mit seinen Gedanken in der Regel allein ist, der philosophisch-peripatetische Dialog auf gleicher Ebene und das sokratische Fragen sind ja eigentlich etwas sehr Seltenes, wird er irgendwo vereinsamen. Diese Einsamkeit kann sogar so weit gehen, dass der Philosoph nur in ihr das wahre Glück zu finden meint. Ein Beispiel wäre Nietzsche, aber auch an Kant wäre zu denken, beide jedoch auf ihre individuelle Art und Weise. Vielleicht finden manche Philosophen ja auch in der Einsamkeit tatsächlich ihr Glück, aber entgehen ihnen nicht auch unermessliche zwischenmenschliche Reichtümer?
Wenn man sich die Philosophiegeschichte anschaut, ist dort auch häufig eine Ignoranz des Realen und des Lebens seitens vieler Philosophen festzustellen. Angefangen mit Thales, der beim Spazierengehen nachdenklich den Sternenhimmel betrachtet, dabei seine unmittelbare Umgebung vergisst, schließlich in eine Grube fällt und prompt ein Lachen für dieses Mißgeschick erntet. Wobei dies ein bekanntes Sinnbild für die Alltags- und Lebensferne des Philosophen und -nähe des Alltagsmenschen ist, der durch die Figur der lachenden Thrakerin symbolisiert wird. Über Sokrates, der alles hinterfragte und damit in gewisser Hinsicht auch immer das Leben selbst. Und über Platon und seinen Ideenhimmel, weiter zu Aristoteles, der alles klassifizierte und so das Spezielle dem Allgemeinen unterordnete, aber damit auch irgendwo die Lebenserscheinungen bloßen Prinzipien. Die christlich orientierten Philosophen der Spätantike und des Mittelalters unterwarfen sich einer Jenseitsvorstellung und diskreditierten auf diese Weise das irdische Leben. Auch der deutsche Idealismus wäre zu nennen, hier soll der Geist das Wesen der Welt ausmachen, womit wieder nicht das Leben selbst im Mittelpunkt steht. Dann trat zwar mit der sogenannten “Lebensphilosophie”, etwa eines Schopenhauer oder Nietzsche, eine gewisse Wende ein, die aber nur eine scheinbare war, eine scheinbare sein musste. Denn auch diese Philosophen verzogen sich ja letztlich in ihr stilles Kämmerlein, um fern vom Leben und pessimistisch verklärt Lobeshymnen auf das Leben zu singen.
Konkrete Krankheiten von Philosophen lassen sich jedoch schwer ausmachen, aber dies wäre eine interessante Aufgabe für Philosophiehistoriker mit einer psychologischen Ader oder Psychologen mit einer philosophiehistorischen. Sicherlich ist vieles zu finden, von diversen Egoismen bis zu Narzissmen. Die Selbstverliebtheit in das eigene Denken ist bei vielen Philosophen ja irgendwo immer gegeben. “Warum ich so gute Bücher schreibe”, “Warum ich so klug bin”, “Warum ich ein Schicksal bin” – heißt es sogar explizit bei Nietzsche. Aber auch extremer Altruismus ist zu finden, man denke etwa an die christlich orientierten Philosophen, der bis zur asketischen Selbstaufgabe ausartete. Der genannte Philosoph war ja selbst Psychologe, er nahm die Psychoanalyse vorweg, was sogar Freud selbst zugegeben hat. Nietzsche-Lektüre war für Freud eine Qual, ständig wurde er daran erinnert, dass Nietzsche schon vieles vorweggenommen hat.
Interessant wäre eine Analyse, welche körperlichen Krankheiten die Philosophen tatsächlich hatten und welche psychosomatischen Verbindungen dann auf entsprechende psychische Krankheiten schließen lassen. Philosophie ist vielleicht eine Flucht aus eigener sozialer Inkompetenz, eine ständige Rechtfertigung für die eigene Einsamkeit und Mensch- und Weltfremdheit, bis hin zur Misanthropie eines Nietzsche.
Es gab Philosophen, die diese Ferne der Philosophie erkannten und die Philosophie ins Politische zurückholen wollten. Man denke etwa an Marx oder andere politische Philosophen.
Dennoch glaube ich, dass die meisten Philosophen ganz normale Menschen mit ganz normalen menschlichen Qualitäten sind. Zudem stellt sich die Frage, ob so etwas wie “Das Menschliche”, was immer das auch sei, nicht letztlich höher zu bewerten ist als die Philosophie selbst. Und zwar wäre es das Menschliche, das sich nicht restlos philosophisch analysieren lässt, auch nicht durch eine noch so ausgefeilte philosophische Anthropologie. Das Menschliche, hinter das wir nicht zurück gehen können und dem wir uns stellen müssen, im zwischenmenschlichen Miteinander. Wir müssen unserem Gegenüber in die Augen schauen. Und dieser Augenblick ist höher zu bewerten als irgendeine philosophische Reflexion, die später darauf folgen mag. Kein Philosoph oder Wissenschaftler kann dieses Menschliche restlos analysieren, zum Glück. Das Leben wird immer siegen. Hier ist der Gegenstand der Literatur, die dies wohlweislich erkannt hat, aber auch sie bedient sich analytischer Mittel, nämlich der Sprache und der Texte. Auch sie kann das letztlich nicht abbildbare Leben nicht abbilden, auch wenn sie es gern täte, noch nicht einmal die Kunst kann das. Selbst keine Philosophie des Existenzialismus, die all dies erkannt hat und damit das unerkennbare Leben zum Kern ihrer Philosophie gemacht hat.
JM
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Lange Weile
Für einen Philosophen sollte die Langeweile, wie sie zum Beispiel beim Warten gewöhnlich auftaucht, eigentlich ein Fremdwort sein, da in der Zeit des Wartens ja etwas anderes stattfindet, nämlich das Denken. Wenn das philosophische Denken zum Alltag gehört, sollte das Warten eigentlich nur eine Nebensache sein.
Langeweile kommt auf, wenn wir das Warten nicht mit Inhalten füllen können. Da das Philosophieren nicht für sich beansprucht, endgültige Lösungen zu präsentieren, und über facettenreiche Dinge vielfältig und im Prinzip endlos nachgedacht werden kann, ist wohl gerade das Philosophieren das beste Mittel gegen die Langeweile. Es ist die Besinnung auf die Gegenwart, nämlich auf das gegenwärtige Denken, jenseits von Terminen und Zielen, die in der nahen Zukunft liegen. Es ist die Macht über die eigene Zeit, es ist die Gestaltung der eigenen Zeit durch das in der Zeit stattfindende Denken, das sich zwar auch irgendwo der Zeit unterwerfen muss, aber immerhin noch das, was in der Zeit stattfindet, gestalten kann. Und somit auch indirekt im weitesten Sinne Zeit gestaltet.
Die Existenz und Dominanz der Begriffe Warten und Langeweile sagt etwas über unsere Gesellschaft aus. Es gibt Ziele, Termine und Bedürfnisse, die durch den Kauf von Produkten, die man noch nicht hat, aber bald haben wird, befriedigt werden. Warten und Langeweile sind Begriffe, die die Existenz und Dominanz von Zeit wiederspiegeln. Philosophieren, Träume, Meditation und erfülltes Nichtstun sind dagegen Tätigkeiten, die sich dem Primat der Zeit nicht unterwerfen. Wenn man das Glück in sich schon gefunden hat, muss man nicht noch auf etwas, das extern oder jenseitig liegt, warten. Warten müssen wir dann, wenn wir denjenigen glauben, die uns verheißen, dass das Glück etwas ist, das außerhalb von uns selbst zu suchen ist. Warten müssen wir, wenn wir auf diejenigen hören, die uns weismachen wollen, dass sich das Warten lohnt, zum Beispiel auf die Produkte, die sie verkaufen wollen und die bald zum Verkauf angeboten werden. Langeweile spüren wir, wenn wir die lange Weile zulassen. Die lange Weile ist aber nicht langweilig, sondern erfüllt, wenn wir sie durch Dinge, die jenseits der Zeit stehen, füllen. Aus einer endlosen langen Weile wird dann nicht Langeweile, sondern angenehme Weile.
Warten müssen wir auf das jenseitige Glück, auf das Jenseits, das uns von vielen Religionen versprochen wird. Das Warten ist dann, wenn wir uns diesem Warten unterwerfen, ein diesen Religionen gemäßes, ritualisiertes Leben. Zwangsläufig müssen diese Religionen das Glück im Menschen verunglimpfen und ebenso zwangsläufig werden Menschen dann durch Religionen in die Irre geführt. Allenfalls der Buddhismus ist eine Religion, der die Reichhaltigkeit eines inneren Nichts und des damit verbundenen Glückes aufzeigt.
Das Warten hat ein Ende, wenn man das Glück in sich gefunden hat. Das Glück in sich ist das Denken, Träumen und Dichten. Die Philosophie ist der Weg ohne Ziel – der Weg zum Glück.
JM
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Werte
Wenn man sich vorstellt, welchen gewaltigen medialen Einflüssen und Reizüberflutungen der Mensch heute ausgesetzt ist, und wie dominant die schnelllebigen elektronischen Medien dabei sind, müsste man eigentlich zu dem Schluss kommen, dass es heute gar nicht mehr so einfach ist, sich zu orientieren und in einer Welt der Wertepluralität konkrete Werte als für sich verbindlich geltend zu akzeptieren.
Wenn die Bilder in den Medien Dominanz haben, welche Werte lassen sich dann über diese Bilder vermitteln? Bedarf es nicht eher des geschriebenen und gesprochenen Wortes für eine angemessene Wertevermittlung? Denn mit Werten ist ja irgendwo eine Moral beziehungsweise Ethik verbunden, die expliziert werden muss. Die Ethik Kants wäre ein Beispiel, wie sollte seine Ethik nur über Bilder vermittelt werden? Die Dominanz der Bilder passt zu einer hektischen Konsumwelt, in der Werbebotschaften über Bilder schnell transportiert werden. Ist es nicht so, dass sich nur wenige oder überhaupt keine Werte über die dominanten Bildmedien transportieren lassen? Gut, man kann zwei Menschen zeigen, die sich umarmen und hätte so den Wert der Liebe, Freundschaft oder Zuneigung vermittelt. Aber diese Menschen, die sich da umarmen, können sich ja auch umarmen, weil sie zuvor erfolgreich gemeinsam jemanden umgebracht haben. Hintergrundwissen lässt sich schlecht in Bildern transportieren, seine Vermittlung schreit geradezu nach dem geschriebenen oder gesprochenen Wort.
Wenn das Angebot an Werten, vorausgesetzt sie lassen sich trotz Bilderflut erfolgreich medial vermitteln, dagegen unüberschaubar groß ist, fragt man sich, welche Werte denn dann überhaupt noch verbindlich und gemeinschaftlich gelten. Wenn es einen Wertepluralismus gibt, weil zum Beispiel jede Religion geachtet werden muss, fragt man sich, was denn nun wirklich die gemeinsamen Werte in einer pluralistischen und multikulturellen Gesellschaft sind. Wenn alles toleriert werden muss und alles Kultur ist, ist dann nicht nichts mehr Kultur? Denn die Anerkennung eines Wertepluralismus sich gegenseitig ausschließender oder kollidierender Werte, dies ist bei unterschiedlichen Religionen und Kulturen ja mitunter der Fall, sollte doch zu einem Wertevakuum führen, oder? Wenn Toleranz das oberste Gebot ist, muss alles toleriert werden, aber wenn alles toleriert wird, welche verbindlichen Werte gelten dann noch?
Zudem müsste dies ja bedeuten, dass man diesen gesellschaftlich gewollten Wertepluralismus notwendig verlassen muss, um sich eben zu einem Wert oder bestimmten, wenigen Werten, die man als autonomes Subjekt als wichtig erachtet, zu bekennen. Was dann in Konsequenz aber auch heißt, dass man sich von dem Leitmotiv, dass alles Kultur ist und alles toleriert werden muss, verabschieden muss. Und es bedeutet, dass man sich der Reizüberflutung der Medien und der Werbung, die einen Pluralismus in Form eines Produkt- und Konsumpluralismus tagtäglich predigen, als ob eine kapitalistische Gesellschaftsordnung schon die beste aller möglichen Welten wäre, entziehen muss.
JM
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Am 14. Februar ist Valentinstag
Am 14. Februar ist Valentinstag.
Er las es in der Zeitung. Er hörte es im Radio. Er sah es im Fernsehen. Er las es auch im Internet. Auch Leute, die er kannte, erzählten ihm davon, sie fragten ihn, ob er denn schon etwas gekauft habe. Eigentlich solle man doch Blumen kaufen an so einem Tag. Es sei eigentlich schon ein recht bekannter Feiertag. In anderen Ländern habe er noch mehr Tradition.
Am 14. Februar ist Valentinstag.
Er entschloss sich dann doch dazu. Nichts zu kaufen. Schon gar keine Blumen. Er wollte sich diesem Zwang des kapitalistischen Systems nicht unterwerfen, sah nicht ein, den Floristen in ihrer raffinierten Geldgier das Geld in den Rachen zu werfen. Überflüssige Werbung sollte unter Strafe gestellt werden, dachte er sich. Dieser unkalkulierbare Stress, der durch bestimmte Leute, die das große Geld machen wollen, flächendeckend in Deutschland erzeugt wird. Genau wie bei Halloween, auch so ein typisch deutscher Feiertag. Jenseits des Atlantiks muss das verheißene und gelobte Land liegen. Früher nannte man es Kanaan, heute nur kurz: Die USA. Oder: “Die Staaten”. Als ob es keine anderen Staaten gäbe.
Am 14. Februar ist Valentinstag.
Es kam dann doch zum Streit. “So, heute ist, inzwischen war”, sagte sie am Abend nur trocken, “Valentinstag”. “Keine Sorge, ich habe nichts erwartet, lass’ es gut sein”, womit der Dialog, der von vornherein keiner war, für sie, die Monologisierende, beendet war. Was sollte er noch sagen? Er dachte sich seinen Teil, sollte er eine kritische philosophische Diskussion über die Zwänge des Kapitalismus mit ihr führen? Oder über die Manipulierbarkeit der Deutschen? Gar die Deutschen mit braven Schafen vergleichen? All dies lag ihm fern.
Dann fiel ihm ein, dass er sich der Grundsituation, unter deren Einfluss die meisten Deutschen standen, ja selber nicht entziehen konnte, er selbst war ja durch Werbung beeinflussbar, wie alle anderen auch. Er erinnerte sich, dass er, als er vor einer Woche durch die Innenstadt ging, an einem Geschäft für Jagdartikel vorbeiging. Dort stand eine Kleinkaliberpistole im Schaufenster, neben einem großen Werbeschild. Er ging in das Geschäft und kaufte sie.
Am 14. Februar ist Valentinstag.
Er setzte sich ins Wohnzimmer und wartete. Als sie hereinkam, schaute sie sich um, als ob sie erwarten würde, dass irgendwo Blumen stehen. Die Enttäuschung war ihr im Gesicht geschrieben. “Gestern war
Valentinstag, und heute? Heute, da ist immer noch nichts, ich seh’s. Gut. Lassen wir es dabei. Im nächsten Jahr ist auch noch Valentinstag. Falls es ein nächstes Jahr gibt.” Er drückte dreimal ab, aus nächster Nähe. Mitten ins Herz. Das Rot erinnerte ihn an die Farbe, die auch in der Reklame dominierte. Er holte 14 rote Rosen aus einer Tüte und legte sie über ihre Brust. Auch ein Kärtchen, das er mit folgenden Worten beschrieb: “Mit Dank an die Floristen und ihre emsige Industrie. Der nächste Feiertag kommt bestimmt. Ich kann nicht mehr.” Dann legte er die Pistole an die Schläfe und drückte ab.
Am 14. Februar ist Valentinstag.
JM
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Umzug
Unrein war die Wohnung und der Umzug stand schließlich doch an.
Als er die Wohnung leer geräumt hatte und in der leeren Wohnung stand, dachte er sich, dass leere Wohnungen, leere Räume und Zeiten des Umzugs doch etwas Feierliches und Heiliges an sich haben. In ihnen eröffnet sich die Gelegenheit für ein Zwischenresumee über das eigene Leben: Was verband ihn mit dieser Wohnung, welchen Abschnitt seines Lebens repräsentiert sie? Die eigene innere Leere begegnet nun offen und ehrlich dieser äußeren Leere, und es gibt eine selten anzutreffende Form von Resonanz. Das Denken und Empfinden ist endlich frei und nicht mehr abgelenkt. Wohnungseinrichtungen sind nichts anderes als Ablenkungsmöglichkeiten von dieser eigenen inneren Leere, wie andere Ablenkungen auch. Von der inneren Leere, vor der der Mensch sein Leben lang davon läuft. Plötzlich wurde ihm klar, warum er sich so gern in schlichten Hotelzimmern aufhält. Eine Schlichtheit, die überhaupt erst ein angemessenes äußeres Umfeld für eine aufrichtige Selbstkonfrontation und Selbstreflexion bietet.
Die Wohnung in der obersten Etage des Hauses war ihm über viele Jahre ans Herz gewachsen, Jahre, die ihm wie eine Ewigkeit vorkamen. Er konnte sich noch an die Zeit erinnern als er dort oben einzog, jenseits aller Probleme, die er heute hat: Er kaufte sich zwei große Sessel, die er nebeneinander stellte. Auf den einen Sessel setzte er einen riesigen, menschengroßen Teddy, den er einmal als Kind bei einer Verlosung gewann. Er ließ ihn auf dem Sessel einfach sitzen, dies war nun sein Stammplatz, selbst wenn Gäste kamen. Er selbst saß stets zu seiner rechten. Wenn neue Besucher kamen, lernten sie mit der Zeit mit seinem Tick zu leben, sie fanden die Situation in der Regel humorvoll, ihre erste Reaktion war häufig ein anerkennendes Lächeln, eines, das ihm selbst fast schon wieder zu unreflektiert vorkam.
Er erinnerte sich an seine Kindheit und an die Umstände, die ihm zu diesem Stofftier verhalfen. Er nahm sein gesamtes Taschengeld und investierte es in Lose, er beschwatzte seine Onkel und Tanten so lange, bis sie ihm noch ein paar Mark mehr gaben. Schließlich bestahl er sogar seine Spielkameraden. Blind vor Geldgier, schon in jungen Jahren – wie später als Manager. Am letzten Tag des Jahrmarktes war es dann schließlich soweit: Er zog das richtige Los. Vielleicht hatten die Besitzer der Losbude aber auch ein Einsehen, da sie sahen, wie viel Geld der Kleine in den letzten Tagen schon in Lose investiert hatte. Seine Tränen am letzten Jahrmarktstag sollten ihnen erspart bleiben, zumal dieses Ding ja nichts wert war, es bestand nur aus billigem Füllmaterial.
Viele Jahre lebte er in einer heilen Welt, bis es geschäftlich bergab ging. Der Gerichtsvollzieher stand letzte Woche vor der Tür, von der Wohnungseinrichtung blieb nicht viel übrig. Eigentlich war er es immer gewohnt, derjenige zu sein, der alles im Griff hat und effektiv “managt”, er selbst war eigentlich immer der, der über andere zu Gericht saß, nämlich über seine Mitarbeiter.
Die Wohnung war zu groß, sie wurde als Sozialwohnung nicht mehr anerkannt, da sie zu teuer war und nicht mehr den Regelsätzen entsprach. Er musste in ein anderes Viertel der Stadt in eine kleinere Wohnung ziehen, “Kellerwohnung” ist wohl das falsche Wort, heute heißt es nur beschönigend: “Souterrain”.
Sein Fall war durchaus wörtlich zu verstehen. Einst war er die Lichtgestalt des Konzerns, doch dann legte er sich mit dem Konzernchef an und aus Licht wurde Dunkelheit. Er erinnerte sich, wie sie ihn in der Gruppe ans Kreuz schlugen, als die Umsätze nicht mehr stimmten, es war das reinste Martyrium für ihn. Zwei andere Mitarbeiter mussten mit ihm dran glauben. Diese spitzen Bemerkungen der Controller im letzten Meeting gingen ihm durch Mark und Bein. Er wird nie den Namen eines seiner engsten Mitarbeiter vergessen, der bei der Konzernleitung am Tag vor der Besprechung gesungen hat, ihm hat er dies alles zu verdanken.
Nun musste er, ganz unten, für seine Sünden büssen. Er kam sich vor, wie jemand, der tief graben muss, um an sein Innerstes zu kommen. Mit der Zeit wusste er diese Wohnung allerdings zu schätzen, besonders in heißen Sommermonaten entspannte ihn diese angenehme Kühle. Sein Fall hatte ihn nicht nur zu einer kritischen Reflexion über die Welt, sondern auch zu einer Selbstreflexion geführt. Er war früher zu autoritätsgläubig, eine neue Entwicklung setzte ein, als er dem Konzernchef das erste Mal widersprach und der Abstieg auf der Karriereleiter einsetzte, die nur am Anfang eine Himmelsleiter war und auf Dauer keine sein konnte.
Er war mit sich im Reinen.
JM
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Existenz und Mystik
Das Nichts ist eine Quelle der Erkenntnis und der Mystik. Der wahre Philosoph ist ein Existenzialist, der sich von allem befreit hat, von etablierten religiösen, aber auch von philosophischen Traditionen. Er ist jemand, der sich seiner existenziellen Grundsituation stellt und sich insofern nicht auf Kompromisse und Vertröstungen einlässt.
Die sogenannte “christliche Mystik” ist eher mystisch als christlich zu nennen, die christlichen Mystiker waren sich der Existenzialität ihrer Situation nicht bewusst und verdrängten sie, indem sie Halt in der gewohnten christlichen Gottesvorstellung suchten. Ich halte es für grundfalsch, die moderne Mystik eines Cioran, wenn man es schon Mystik nennen will, in irgendeiner Form auf traditionelle und insbesondere christliche Mystik zu reduzieren.
Der Philosoph, der sich dem Nichts stellt, wird die Situation, in der er sich befindet, zu etwas Heiligem machen. Welche Wahl hat er auch? Während Nietzsche sein existenzielles Heil in der Natur suchte, in den Engadiner Bergen, suchte es Cioran in der Stadt, in der Stadt der Städte: Paris. Cioran war wie viele andere Existenzialisten von Nietzsche stark beeinflusst. Dies ist ein Punkt, der bei aller Cioran-Bewunderung häufig unter den Tisch fällt, mitunter wohl auch deshalb, weil Cioran Nietzsche später selbst häufig kritisiert hat.
Beide haben eines gemeinsam und es fällt ein grundlegender Zug bei solch vereinsamten Menschen wie Nietzsche, Cioran oder auch dem späten Schopenhauer auf: Selbst Menschen, die nichts mehr haben, im Sinne von alltäglichen Kontakten zu anderen Menschen, was ja eigentlich die Normalität darstellen sollte, und die sich bewusst dem Nichts stellen, haben noch ein reiches Innenleben – wohl gerade sie. Um bei aller äußeren Vereinsamung nicht auch noch innerlich zu vereinsamen, werden sie zu Mystikern. Sie überhöhen ihre Erlebniswelt. Der Anblick einer Gebirgslandschaft, wie bei Nietzsche, oder eines Stadtparks, wie bei Cioran denjenigen des Jardin du Luxembourg in Paris, wird dann zu einem mystischen Erlebnis hochstilisiert. In positiver Formulierung hatten sie tatsächlich mystische Erlebnisse, nämlich ein Gefühl der Einheit von Betrachtetem und Betrachter, womit auch die Nähe der Existenzphilosophie zur Phänomenologie deutlich wird.
Aus der höchsten denkbaren Einheit, der Einheit von Allem, der Einheit von Welt und Betrachter, ergeben sich Gedanken des Betrachters über Gott, seine Existenz oder Nichtexistenz, und wenn Existenz, welche Existenz. Gedanken, die gerade ihren Ausgangspunkt im Nichts haben. Gott lässt sich in diesem Sinne als der andere Pol des Nichts – das Ganze – begreifen. Die Nähe des Nichts zu Gott ist wohl mitunter auch dadurch gegeben, dass wir Gott nicht beschreiben können.
Andersherum werden wir gerade zum Nichts geführt, wenn wir die Existenz Gottes leugnen, ihn gar, wie Nietzsche dies behauptete, getötet haben. Der Mensch ist dann völlig auf sich zurück geworfen und auf sich allein gestellt. Dennoch sucht er weiter nach Orientierung. Die ordnenden Gedanken, die er dann denkt, münden beispielsweise in solcherart Aphorismen eines Nietzsche oder Cioran. Es wäre insofern gerade verfehlt, Cioran oder Nietzsche im wesentlichen als Mystiker zu betrachten, sie waren zu allererst Philosophen, wenngleich auch Nietzsche, wie Cioran, ein stark mystisches Element inne hatte: Lou Salome bezeichnete Nietzsche später in ihren Lebenserinnerungen sogar explizit als Mystiker.
Wenn Einsamkeit als etwas Positives angesehen wird, was in heutigen Zeiten ja eher die Ausnahme ist – der Mensch, sprich Konsument, muss bei allem dabei sein, ist die Einsamkeit eines Menschen etwas ganz Individuelles und Persönliches, und von daher schon Heiliges, zumindest für ihn selbst Heiliges, aber auch aus der Sicht eines Gottes, wenn man sich hypothetisch in einen Gott hinein versetzt, der seine individuellen Geschöpfe betrachtet.
Die Religion als Massenglaube macht die Menschen gleich, die Menschen sind aber nicht gleich. Massenphänomene wie die Globalisierung machen die Menschen gleich, sie sind aber nicht gleich. Das Internet und die modernen Medien machen die Menschen gleich, sie sind aber nicht gleich. Der Existenzialismus und Individualismus ist eine Antwort auf unsere Zeit, und zwar ein wahrer Individualismus und nicht der Pseudoindividualismus eines Konsummenschen, der willkürlich von außen gesetzte Produkte und Bedürfnisse konsumiert und befriedigt.
Unsere Zeit krankt daran, dass sich die Menschen nicht der Einsamkeit stellen, nicht ihrer Einsamkeit stellen. Es gibt alle möglichen Ausflüchte und Angebote, womit sich Menschen ablenken können, zum Beispiel geben sie sich mit anderen Menschen ab, die genauso schwach sind wie sie selbst und sich ebenfalls nicht einer existenziellen Einsamkeit stellen können. Dies meinte Nietzsche wohl auch, wenn er von der “Herde” sprach. Der Massen- beziehungsweise Gruppenmensch lebt um den Preis des existenziellen Erlebnisses, des Mystischen und letztlich um den Preis der wahren Gotteserfahrung, eine Erfahrung, die eine Massenreligion per se nicht bieten kann.
Wir können zwar nicht alle einsame Existenzialisten werden – die Welt würde vermutlich untergehen, nichts würde mehr funktionieren – aber wir müssen eine Atmosphäre schaffen, dass jeder Mensch beizeiten auch Existenzialist sein kann, und dass dies die Quelle seiner Erkenntnis, Mystik, Philosophie und Religion sein kann.
JM
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Die Frage nach dem Sinn des Lebens
All Ihr Frager,
nach den Sinnen
– soviel gehört
und auch geseh’n.
Ach würdet Ihr Euch doch
auf’s Handeln versteh’n!
– Legt Hand an Euch
oder lasst es sein,
diese Frage ist echt
– mit Ihr seid Ihr allein!
Die Frage nach dem Sinn des Lebens
ist insofern recht vergebens.
Keine Frage, nur der Wunsch:
Erhöret mich und spendet Trost,
eigentlich will ich nur weiter leben,
doch fehlt mir was
– danach zu streben.
Wann sollte man das Leben aushalten und wann sollte man es ändern? Liegt nicht eine Gefahr im zuvielen Aushalten? Liegt nicht ebenso eine Gefahr im vielen Ändern? Wenn man mit wenigen materiellen Gütern im Leben auskommt, warum sollte man es in materieller Hinsicht ändern? – Wäre die Haltung des Bescheidenen, vielleicht sogar Armen.
Mein Lebensstandard reicht mir nicht, ich will mehr! – Wäre die Haltung des durchaus materiell Orientierten.
Wer hat nun Recht? Keiner?
Sollte man nicht auch versuchen, das Leben, wo möglich, auszuhalten? Man kann das gut in freier Natur – Wald, Wiese, Berge, Meer. Dort stellt sich gar nicht die Frage nach Veränderung, sie erübrigt sich. Nichts Materielles kann dies ersetzen. Das Aushaltenwollen und Aushalten, wo möglich, hat einen Vorteil: Man muss nicht immer soviel entscheiden, nicht soviel grübeln.
Man kann sich umbringen, weil man das Leben nicht mehr aushält. Man kann sich aber auch umbringen, weil man die Veränderung nicht mehr aushält, oder weil man sich immer geändert hat, ohne seinen wahren Kern zu entdecken, oder weil man sich geändert hat und schließlich die innere Leere entdeckt hat, oder weil man erkannt hat, dass man nicht zu denen gehört, die das Leben aushalten können, auch wenn es nicht aushaltbar ist.
Wer das Wasser nicht mag, dessen innere Flammesunruhe wird durch das Wasser auch nicht gelöscht. Er muss die Flamme ersticken.
Die Frage nach dem Sinn des Lebens will sich mir nicht so recht erschließen, wo doch jeder Mensch etwas individuell Heiliges ist. Jemand, der sich die Frage nach dem Sinn des Lebens stellt, hat dies wohl nur noch nicht erkannt. Oder der Gedanke kam erst gar nicht auf, weil der Betreffende halt fürchterlich viel mitgemacht hat. Entweder kommt er da allein raus, was das Schönste wäre, oder man muss ihm helfen. Aber viele wollen sich auch nur helfen lassen, den bequemen Weg gehen: “Hört, ich frage mich, was der Sinn des Lebens ist – also helft mir!”
JM
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Nietzsches Mitleid
Für Nietzsche lässt sich das Mitleid als eine List des Christentums auffassen, von körperlichen Leiden, die die christliche Askese mit all ihrer Diesseitsverneinung und Jenseitsverehrung mit sich bringt, abzulenken: Siehe, da gibt es andere, die sind noch schlimmer dran als ich, meine eigenen körperlichen Leiden sind nicht so wichtig, man muss sie hinnehmen, sie sind nur des Diesseits, das Jenseits ist eine heile körperlose Welt. Die Geburt der Tragödie.
Der christliche Asket ist ein Verführter, ein in die Irre Geleiteter, verführt und in die Irre geleitet durch die christliche Tradition, durch Väter, Großväter und andere Einflußnehmer, mit ihren Versprechungen nach dem Jenseits und dem “ewigen Leben”.
Das Hochhalten eines jenseitigen Lebens kann in der Folge nur das diesseitige Leben diskreditieren und abwerten. Eine körperliche Wunde ist dann eine Kleinigkeit im Vergleich zum zu erwartenden unkörperlichen Heil der jenseitigen Welt. Das diesseitige Leben wird dabei nur als Vorstufe zu einem jenseitigen Leben angesehen. Da es aber kein jenseitiges Leben gibt, ist ein solches Leben verwirkt, ein solcher Mensch hat definitiv nie richtig gelebt. Wenn es ein Jenseits gibt, dann nur ein Jenseits von Gut und Böse.
Die Krankheit, mit der solche Menschen andere anstecken, mit der ein solcher Mensch selbst angesteckt wurde, von seinen Vätern, Müttern, Großvätern, Großmüttern und anderen Einflußhabenden, nennt man Religion. Eine spezielle Form dieser Krankheit ist das Christentum. Milliarden von Menschen auf diesem Planeten leiden an solchen Krankheiten. Aber sie wollen ihre Krankheit, sie kehren die Kategorien sogar um: Das richtige Leben sei ihre Religion. Menschliches, Allzumenschliches.
Wie verhalten sich Leid, Glück, Erkenntnis und Wissen zueinander? Wie Glauben und Wissen? Wie Religion und Wissenschaft? Gibt es wahrhaftes Glück ohne Erkenntnis? Gibt es wahrhaftes Glück ohne Wissenschaft? Fröhliche Wissenschaft.
Wer hat ein Interesse daran, eine Rangfolge statt einer Gleichberechtigung dieser Dinge aufrecht zu erhalten? Womit lassen sich Menschen leichter steuern? Wie verhindern Religionen, dass Menschen zur Erkenntnis gelangen? Inwiefern muss ein moderner Staat im Interesse des natürlichen Erkenntnisstrebens des Menschen die Macht der Religionen einschränken?
Zur Anerkennung einer Diagnose gehört Einsicht. Und Einsicht gibt es durch Erkenntnis. Widersprechen sich die Erkenntnis, vor allem die wissenschaftliche Erkenntnis, und die Religion nicht fundamental?
Der Kranke kann die Diagnose nur anerkennen, wenn er sich krank fühlt. Viele körperliche Krankheiten sind von einem sich Krankfühlen begleitet. Bei der Krankheit Religion ist dies anders. Sie ist wie eine Droge, bei der der Drogennehmer noch nicht einmal weiß, dass es eine ist, er hält sie für ein Lebenselixier, nicht für etwas Externes. Wenn Kranke nicht wissen, dass sie krank sind, und wenn sie noch dazu von lauter Kranken umgeben sind, die das auch nicht wissen, lässt sich schwerlich gegen Krankheit etwas tun.
Der abnorme Zustand wird in einem Kollektiv von Abnormen ja gar nicht als abnorm erfahren, sondern als normal. Normal ist, dass die Kirche im Dorf ist. Man könnte sich statt der Kirche aber auch einen astronomischen Beobachtungsturm mitten im Dorf vorstellen, vor dem die Dorfbewohner Respekt haben. Sie würden daran erinnert, dass sie in einem Universum mit Millionen anderer Welten leben. Mit einem Denkmal und Mahnmal für Giordano Bruno, der an die Existenz dieser Welten glaubte und der 1600 in Rom von der Inquisition als Ketzer auf dem Scheiterhaufen bei lebendigem Leibe verbrannt wurde. Stattdessen sollen die Menschen Respekt vor einem Jenseits haben, das nicht existiert. Der Kirchturm zeigt nach oben. Wohin eigentlich? Für den wahren Himmel, den Himmel der Sterne, interessiert sich niemand. Angebetet wird ein jenseitiger Himmel – das himmlische Jenseits.
Die Vertröstungskultur ist omnipräsent. Die Armen – die armen Opfer des Kapitalismus – werden auf ein Jenseits vertröstet. Hier gehen Christentum und Kapitalismus Hand in Hand, wie schon Max Weber richtig konstatierte. Und im Himmel sitzen dann die irdischen Ausbeuter und irdisch Ausgebeuteten friedlich nebeneinander und haben diese fehlbare, aber vom Kapitalismus dennoch angepriesene Produkt- und Bedürfniswelt, hinter sich gelassen.
Nietzsche entwarf mit dem Zarathustra das Projekt einer Gegenkultur zur etablierten Religion. Viele Begriffe im Zarathustra sind Gegenbegriffe zu christlichen Begriffen. Nietzsche feiert das irdische Leben im Zarathustra.
Zarathustra steigt von den Bergen – dem wahren Himmel – hernieder, geht zu den Menschen und lehrt sie – nicht die Lehre vom Jenseits – die des Diesseits. Es zu bejahen, so stark zu bejahen, dass man das irdische Leben, sein irdisches Leben, wollen muss, immer wieder wollen muss. Die ewige Wiederkehr, ins Irdische, nicht die ewige Abkehr vom Irdischen ins Jenseitige. Ecce Homo. Dies ist Dein Leib, dies ist Dein Blut. Amor fati.
Zarathustra rät den Menschen nicht zur Nächstenliebe, sondern zur Fernstenliebe, wobei mit dem Fernsten der Übermensch gemeint ist. Zu ihm hin muss sich der Mensch vervollkommnen. Es muss nicht der Jenseitserlöste, der Jenseitsmensch, angestrebt werden, sondern der Übermensch. Er ist derjenige, der das irdische Leben bejaht und sich nicht von Priestern mit Jenseitslehren vergiften lässt. Der Antichrist. Gott ist tot. Wille zur Macht.
Der Mensch ist ein Seil, das zum Übermenschen gespannt ist. Unter ihm lauern Abgründe, Abgründe, die eine Gefahr zum Weg des Heils, zum Weg zum Übermenschen darstellen: Die Verführungen der Religion, die Jenseitsvertröster und Diesseitshasser, die Versager, die mit dem irdischen Leben in ihrer Sklavenmoral gegen die Herrenmoral, die wahre Moral, die Moral des starken Lebens, nicht zurechtkommen. Die Schlechtweggekommenen, die Viel-zu-Vielen, die das Leben verachten müssen, das Leben, das von einigen Wenigen richtig gelebt wird, den wahren Aristokraten des Lebens. Genealogie der Moral.
Vielleicht lassen sich die meisten Menschen nur durch eine andere Religion auf den richtigen Weg bringen? – Den Weg Zarathustras? Dies schwebte Nietzsche wohl vor, er suchte eine quasireligiöse Plattform als Kommunikationsmittel zu den schon Verführten.
Die Verführten heutiger Tage sind nicht nur die religiös Verblendeten aller Orten, sondern auch die durch den Kapitalismus Verblendeten, die Gifte und Götzen des Kapitalismus und der Globalisierung sind der schnelle Markt und seine angeblich nötigen, unendlich vielen Produkte und Bedürfnisse. Götzendämmerung.
Brauchen wir einen Zarathustra, der uns den Weg aus dem religiös-fundamentalistisch-kapitalistischen Schlammassel weist?
Müssen wir wieder die Natur verehren? Müssen wir hin zu den verloren gegangenen Bergen Zarathustras?
Müssen wir uns wenden gegen das Dominium Terrae des Christentums und des Kapitalismus?
Nietzsche sagt: Terra – ist die heilige Erde. Bleibt der Erde treu!
Also sprach Zarathustra.
Wie man mit dem Hammer philosophiert.
Morgenröte – ein neuer Tag.
Hoher Mittag – Licht. Nietzsche bricht in Turin am 3. Januar 1889 körperlich und geistig zusammen, als er sieht, wie ein Pferd ausgepeitscht wird. Nacht – Dunkelheit.
Er macht die Erfahrung und Erkenntnis wahren Mitleids.
JM
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Klagelied eines Stadtmenschen
Wenn man sich vorstellt, wie viel Zeit man im Jahr mit alltäglich zu verrichtenden Dingen verbringt, kann man nachdenklich werden.
Nun lässt sich einwenden, selbst bei den alltäglichen Dingen könne man ja zeitgleich andere Dinge tun, die diese nüchternen Alltäglichkeiten wieder relativieren. Manche behaupten sogar, dass sie bei diesen alltäglichen Dingen am besten nachdenken könnten und die besten Einfälle hätten.
Wie dem auch sei. Aber sollte es nicht zu denken geben, wenn jemand diese alltäglichen Dinge als notwendige Voraussetzung dafür braucht, um überhaupt gute Gedanken und Einfälle zu haben? Sollte es nicht vielmehr so sein, dass es das Denken um seiner selbst willen geben sollte und sich dieses am besten vollzieht, wenn es gerade nicht von einer anderen Tätigkeit begleitet ist? Natürlich geschieht auch immer etwas anderes, wenn wir denken, aber diesem Geschehen sind wir, ist vielmehr unser Körper, ausgeliefert. Wir können dies nur passiv hinnehmen, man denke an den Herzschlag oder andere körperliche Automatismen wie das Atmen.
Nach einem hoffentlich angenehmen, traumreichen oder traumarmen Schlaf wacht man auf, und die täglichen Dinge des Lebens fangen an. In der Regel sucht man zuerst das Badezimmer auf und verrichtet dort alltägliche Tätigkeiten der Körperpflege. Wenn man sich 5 Minuten lang die Zähne putzt und dies morgens und abends tut, manche tun es sogar mittags, sind dies immerhin 10 Minuten am Tag, 3650 Minuten oder 60 Stunden oder 2 1/2 Tage im Jahr, die wir nur mit Zähneputzen beschäftigt sind. Wenn wir bei Männern noch das Rasieren hinzunehmen und dies ebenfalls mit 5 Minuten veranschlagen, kommen weitere 2 1/2 Tage hinzu, und damit insgesamt 5 Tage für Zähneputzen und Rasieren. Wenn man die tägliche gesamte Badezimmerzeit, inklusive An- und Auskleiden und aller dort noch zu erledigenden Verrichtungen, bei Männern mit 30 Minuten und bei Frauen, wegen der Kosmetik, mit bis zu 60 Minuten veranschlagt, und einen Durchschnittswert von 45 Minuten annimmt, macht dies 16425 Minuten oder 274 Stunden oder 11 Tage im Jahr, die wir nur im Badezimmer verbringen.
Weitere Tätigkeiten sind das Einkaufen, heute vor allem im Supermarkt, einschließlich des Wartens an der Kasse. Wenn man kalkuliert, dass bei jedem Supermarktkauf nur 3 Minuten im Schnitt an der Kasse gewartet werden muss, und man annimmt, dass im Durchschnitt einmal in der Woche ein Supermarktkauf auf der Tagesordnung steht, sind dies immerhin im Jahr 150 Minuten, also 2 1/2 Stunden, die man nur mit Warten an der Kasse verbringt. Wenn der Kauf inklusive Warten mit 20 Minuten angesetzt wird, sind dies 1000 Minuten im Jahr, also 17 Stunden, die wir nur im Supermarkt verbringen.
Auch die Zeit für die Nutzung der Verkehrsmittel lässt sich ähnlich ausrechnen. Wenn der tägliche Weg zur Arbeit mit 20 km angesetzt wird, bei den einen mehr, bei den anderen weniger, und wenn man bei starkem Verkehrsaufkommen, was in der Regel in den Ballungsräumen zu Berufsverkehrszeiten der Fall ist, eine Zeit von 30 Minuten benötigt, macht dies für den Hin- und Rückweg 60 Minuten, also 1 Stunde am Tag. Bei der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel sei der Einfachheit halber ein ähnlicher Wert angenommen. Ebenso, dass auch am Wochenende, an Feiertagen und im Urlaub wegen des Freizeitverkehrs ein ähnlicher Wert gilt, einschließlich aller Stauzeiten an Berufs- und Freizeittagen, so verbringt man im Jahr 21900 Minuten mit Fahrten, also 365 Stunden, also 15 Tage im Auto oder in Bussen oder Bahnen.
Wenn man diese alltäglich zu verrichtenden Dinge betrachtet, die einen in der Regel auch langweilen und auf die Nerven gehen können, so beschäftigen wir uns 11 Tage plus 1 Tag plus 15 Tage, also 27 Tage, also einen Monat im Jahr, mit solchen Dingen. Mindestens 1/12 unserer Zeit muss für Dinge investiert werden, die uns eigentlich hauptsächlich lästig erscheinen.
Wenn man nun noch die Arbeitszeit hinzu rechnet, und Arbeit wird in der Regel ja immer noch als notwendigerweise zu Tuendes und nicht unbedingt, im Vergleich zu Hobbys in der Freizeit, als gern zu Tuendes angesehen, und wir die durchschnittliche tägliche Arbeitszeit mit 8 Stunden ansetzen, macht dies 40 Stunden in der Woche, bei großzügigen 30 Tagen Urlaub, also 6 Wochen, macht dies 44 Arbeitswochen, 1760 Stunden oder 73 Tage im Jahr.
Wenn man zu diesen 73 Tagen die 27 obigen Tage aus den alltäglichen Tagesverrichtungen hinzufügt, erhält man 100 Tage oder 3 Monate im Jahr, die man mit Tätigkeiten verbringt, die man nicht unbedingt mag.
Was möchten wir in der uns verbleibenden wertvollen Zeit tun? – Was möchte der Stadtmensch in dieser Zeit tun, und die meisten Menschen sind Stadtmenschen, müssen heute notgedrungen Stadtmenschen sein.
Vielleicht vor allem Eines? – Nichts?
Wenn zum Nichtstun der Aufenthalt in der Natur, etwa in Bergen, Wäldern oder am Meer zählt, haben wir als Stadtmenschen, schon rein zeitlich betrachtet, den Draht zur Natur verloren. Wenn wir die Natur brauchen, um uns zu erholen und zu uns selbst zu finden, haben wir schon verloren.
JM
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Tagebuch eines Erfolgreichen
Nach dem morgendlichen Aufstehen trinke ich immer ein Glas Wasser. Wasser – was für ein Element! Aus dieser Quelle trinkt die Welt. Dies mache ich inzwischen jeden morgen, find’ ich gut – aus Erfahrung gut. Es lohnt sich, ich liebe es, es verleiht Flügel.
Beim Frühstück wollte ich die Zeitung lesen. Verdammt! – Brille? Endlich, da ist sie. Ich bilde mir über dieses und jenes meine Meinung.
Nach dem Frühstück und vor der Arbeit noch schnell meine privaten Mails checken. Bin ich schon drin?
Schnell noch ein Deo, ein Duft, der Frauen provoziert. Ich habe eine Arbeitskollegin – die zarteste Versuchung, eine Perle der Natur. Für das Beste im Mann.
Auch wenn der Berufsalltag sich wiederholt. An jedem Tag kann etwas neues passieren, nichts ist unmöglich, entdecke die Möglichkeiten. Wichtig ist ein guter Job, da weiß man, was man hat.
Drei Dinge braucht der Mann: Eine nette Frau, einen guten Job, und natürlich … ein Auto. Freude am Fahren, man gönnt sich ja sonst nichts.
Nach einer Staufahrt wieder einmal bei der Arbeit zu spät angekommen. Es gibt viel zu tun, packen wir’s an! Ist zwar auch nur ein Bürojob mit vielem Sitzen, aber zum Glück trainiere ich regelmäßig meinen Body. Ein starker Rücken kennt keinen Schmerz.
Mein Chef will nur eines: Fakten, Fakten, Fakten. Ich arbeite in einer erfolgreichen Company, mit netten Arbeitskollegen und -kolleginnen. Die tun was, geht nicht, gibt’s nicht, optimal ein- und verkaufen, Geiz ist geil. Zum Schluss sagen wir uns immer: Gut, dass wir verglichen haben. Wir sind doch nicht blöd. Weiter denken, wer nur die Hälfte weiß, weiß gar nichts. Leistung aus Leidenschaft, vorweg gehen, Vorsprung durch Technik. Bei uns ist der Kunde mitten drin, statt nur dabei. Vertrauen ist der Anfang von allem. Preise gut, alles gut, wenn’s um’s Geld geht. Wir streben nach Vollendung, der Kunde ist dann auch zufrieden, wenn ihm soviel Gutes widerfährt, bei uns sitzen sie in der ersten Reihe. Wir geben ihrer Zukunft ein Zuhause, wir legen ihnen keine Steine in den Weg, im Gegenteil, auf unseren Steinen können sie bauen. Das einzig Wahre, das Beste oder nichts, mehr vom Leben.
Auch wenn mir die Arbeit Spaß macht, ich freue mich schon auf den nächsten Urlaub, mit dem Flieger: keine Staus, keine Termine, keine Hektik, kein Stress, keine Kompromisse.
JM
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Kultur und Philosophie
Vorausgesetzt Philosophie ist im weitesten Sinne ein Element von Kultur. Gleichzeitig ist Philosophie aber per se natürlich auch Reflexion über das, was Menschen tun, zum Beispiel aus einer kulturellen Tradition heraus. Dann wäre Philosophie ein selbstreflexives Moment von Kultur. Ein reines Ausüben von Kultur findet aber in der Regel nicht reflexiv statt, zum Beispiel die alltägliche Pflege einer bestimmten religiösen Tradition. Denn Reflexion bedeutet irgendwo auch ein Infragestellen, religiöse Riten werden von denen, die sie ausüben aber nicht infrage gestellt, ansonsten wären sie keine Riten.
Unter der Prämisse eines umfassenden Kulturbegriffes scheint der moderne und häufig verwendete, inzwischen vielleicht schon überstrapazierte Begriff der Multikulturalität diesen dann wichtigen Aspekt von Kultur zu übersehen und nicht zur Geltung zu bringen. Wenn man den Begriff Multikulturalität in seiner gewöhnlichen Verwendungsweise hört, meint man, es gelte, doch die verschiedenen Kulturen der Welt, und vor allen Dingen die unterschiedlichen Religionen, als wesentliches oder wesentlichstes Element der Kultur eines Landes, zu respektieren. Man kommt überhaupt nicht auf die Idee, dass es hier auch um Philosophie gehen könnte.
Zwar gibt es überall auf der Welt Philosophie, im weiteren Sinne. Aber ich denke, dass die Philosophie im engeren Sinne ein Produkt des antiken Griechenland ist und dort die Wiege und Wurzel von dem liegt, was wir heute den Westen, die westliche Zivilisation oder westliche Kultur nennen.
Was ist der Kern dieser Philosophie, dieser Tradition, und unter obiger Voraussetzung dann auch: dieser Kultur? Reicht es, wenn wir ihn generalisierend unter dem Begriff Kultur, im landläufigen Sinne, subsumieren? Ich denke, er ist der reflexive Dialog, in dem unterschiedliche Meinungen gehört werden, in dem miteinander diskutiert wird. Zwar gibt es ihn beispielsweise auch im Buddhismus, vor allem im Zen-Buddhismus, man denke an den Koan. Aber hier bewegen sich die Beteiligten auf unterschiedlichen Ebenen, nämlich auf denen von Meister und Schüler. Der griechische philosophische Dialog ist dagegen reflexiver und offener.
Ich denke, wir schätzen diese Tradition heute zu wenig, selbst oder gerade im Westen. Wenn wir von Multikulturalität sprechen, nehmen wir bewusst keine Gewichtung vor: Alle Kulturen und Traditionen seien gleich wichtig. Was sicherlich irgendwo richtig ist. Aber ich denke, man sollte sich gerade über die Qualität westlicher Philosophie im Gefolge der griechischen Philosophie im Klaren sein: Das Wesen dieser Philosophie ist der offene Austausch und die Argumentation, nicht die religiöse Verehrung, nicht der Ritus. Und ich denke, dass wir dazu bereit sein müssen, diese unsere Tradition, die ein wichtiger Baustein unserer Freiheit als frei denkender Menschen ist, zu verteidigen. Dies sind wir auch der europäischen Aufklärung schuldig, einem historischen Phänomen, das in der Weltgeschichte seines Gleichen sucht, und die nach der Renaissance – ihrerseits eine Zeit, die sich bewusst der Rückbesinnung auf das griechische Erbe stellte – von einer philosophischen Kritik einseitiger Religiosität aus den Erfahrungen des Mittelalters begleitet war. Im Gefolge dieser Tradition ist überhaupt erst die moderne Naturwissenschaft entstanden.
Wir sollten unsere westliche Philosophie schätzen und nicht einem multikulturellen Relativismus opfern. Das hat sie nicht verdient und das haben ihre aufklärerischen religionskritischen Vorkämpfer nicht verdient.
JM
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Das unbekannte Leben
Wie lässt sich dieses schicksalhafte Leben ertragen? Und wann müssen oder mussten welche Entscheidungen im Leben gefällt werden?
Wir alle kennen, wenn wir uns an den Verlauf unseres Lebens erinnern, die Gefühle, die uns beschleichen, wenn wir an die Verzweigungspunkte unseres Lebens denken. Das Leben erscheint in der Rückschau wie ein Baum, bei dem sich der Hauptstamm, die Kindheit, der wir quasi entscheidungslos ausgeliefert waren, immer wieder verzweigt, vom ersten bis zum letzten Zufall oder Schicksal, von der ersten bis zur letzten Entscheidung. Manchmal wissen wir auch nicht so recht, ob es Entscheidungen oder ob es Schicksal war.
Wir kennen nur die Äste des Baumes, die wir tatsächlich beschritten haben, nicht die anderen Zweige. Wir wissen nicht, wo sie hingeführt hätten, wenn wir sie aktiv oder passiv gegangen wären, hätten gehen müssen, wir stellen aber manchmal Mutmaßungen darüber an. In Situationen, in denen wir uns schlecht fühlen, denken wir oft an diese Verzweigungspunkte zurück. Manchmal denken wir uns dann: Wäre dieses oder jenes doch anders passiert, hätte ich mich damals anders entschieden, hätte es doch in meiner Macht gestanden, mich anders zu entscheiden. Dann wären gewisse, darauf folgende Dinge nicht geschehen. Dann wäre ich auch heute nicht in der mißlichen Situation, in der ich mich befinde. Manchmal neigen wir dazu, die uns bekannten Äste, das uns bekannte Leben, als insgesamt mißlungen einzustufen. Manchmal verspüren wir aber auch so etwas wie Glück, und sagen uns: Insgesamt habe ich doch recht Glück gehabt im Leben. Und wir stellen fest, dass wir uns an den Kleinigkeiten des Lebens freuen können, die vermutlich auch in den Verästelungen des Lebens stattgefunden hätten, die wir nicht beschritten haben. Zum Beispiel einfach auf einer Wiese zu sitzen und einen alten Baum anzuschauen. Dies ist ja etwas, das in jedem Leben, in jeder Verästelung des Lebens im Prinzip stattfinden kann, egal wie das Leben so spielt. Selbst auf einem Gefängnishof.
Und dann denken wir oft an Menschen, die wir an bestimmten Verzweigungen zum letzten Mal gesehen haben. Und spüren, dass sie uns eigentlich wichtig waren, dass wir dies nur damals nicht richtig erkannt haben, oder dass wir sie in ihrer Rolle für unser Leben unterschätzt haben.
Es beginnt schon mit der Wahl der Schule. Auf die Wahl des Kindergartens hat man als Kleinkind keinen Einfluss, man wird von den Eltern einfach in den nächsten Kindergarten geschickt, wenn man denn überhaupt in den Kindergarten geschickt wird. Meistens ist ja nur ein Kindergarten am Ort, so dass noch nicht einmal für die Eltern eine Wahl besteht. Ähnlich sieht es bei der Wahl der Grundschule aus. Im Alter von fünf Jahren kann man sich noch nicht wirklich entscheiden, welche Schule man besuchen will. Anders sieht es mit der Wahl der weiterführenden Schule aus. Hier kann es sein, dass einen die Eltern fragen, auf welche Schule man gehen will. Und es kann auch sein, dass mehrere zur Wahl stehen. Gymnasium? – Ja, aber welches? Gut, jenes. Und in der Rückschau kommt einem die lange Schulzeit doch insgesamt sehr schicksalhaft vor. Was wäre, wenn? Hätte man sich bei einer anderen Schule und anderen Umständen nicht auch für eine andere Berufsausbildung und einen anderen Beruf entschieden? Als nächstes stand ja dann auch die Wahl der Berufsausbildung an. Studieren oder nicht? Ist man ein praktisch veranlagter Mensch, ein Handwerkertyp? Dann sollte es doch eine handwerkliche Berufsausbildung sein. Oder ist man ein Bücherwurm? – Ja dann, schnell zur Universität. Wieder ist die Wahl oder das schicksalhafte Verschlagen auf eine bestimmte Universität ganz entscheidend. Nach der Universität dann die endgültige Berufswahl, falls man heute überhaupt noch davon sprechen kann. Aber welchen Beruf? Auf der Universität bleiben oder in die Wirtschaft, die freie, die dann doch nicht so frei ist.
Im Grunde genommen beginnt diese ganze Schicksalhaftigkeit des Lebens schon mit dem Geburtsort. In welchen Ort wird man hinein geboren? In welche Zeit? Dies sind Dinge, die man nicht ändern kann und die man irgendwo akzeptieren muss. Mit diesen Dingen hadert man auch nicht. Hadern tut man dort, wo eine eigene Entscheidung oder zumindest der Hauch einer eigenen Entscheidung hätte anders aussehen können.
Aber irgendwann ist man des Haderns leid und akzeptiert den eigenen Baum, so, wie er sich letztlich verästelte. Es ist schade um die Menschen, die man nicht kennenlernte und die sich in den unbekannten Verzweigungen befinden. Es wäre aber auch schade um die, die man tatsächlich kennenlernte und die man zu schätzen weiß oder wußte, wenn man sie nun nicht mehr kennt. Und selbst der Einsame muss doch irgendwo seinen Ast, auf dem er gerade sitzt, eben die Einsamkeit oder eine einsame Phase des Lebens, für sich akzeptieren.
Bei einsamen Spaziergängen durch den Wald, während des Rauschens der Bäume im Wind, hört man manchmal das Flüstern der Menschen, die aus den Zeiten der Verzweigungen stammen. Wie sie von den hellen und dunklen Seiten des unbekannten Astes erzählen. Manchmal flüstern sogar unbekannte Menschen, nämlich die, die sich jenseits der Verzweigungen befanden und noch befinden. Und manchmal weint man eine Träne, ob dieser unbekannten Menschen, und es ist, als ob diese Träne eine Verbindung herstellt, als ob es eine Verbindung der voneinander abgezweigten Lebensbäume gibt.
Manchmal begegnet man auch sich selbst, als dem Anderen, dem, der den Weg jenseits der Verzweigungspunkte beschritt. Und manchmal sieht man sich als helles Licht, als lebendigen Menschen eines anderen Baumes. Doch manchmal ist da auch Dunkelheit, hinter denjenigen Verzweigungen, die zum Tode führten. Und manchmal meint man, der letzte Augenblick sei gekommen, wenn mal wieder ein Stechen im Brustbereich oder eine Atemnot da ist. Und dann fragt man sich, ob sich der Ast denn nun endlich nicht mehr verzweigt.
Man könnte damit leben.
JM
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Religion und Philosophie
Das wahrhaft Religiöse ist nicht die individuelle oder kollektive Verehrung eines bestimmten Gottes innerhalb einer bestimmten Religion, sondern die individuelle Suche nach Gott. Kein Mensch kann daran gehindert werden, Gott auch in seinem eigenen Inneren zu suchen. Hier begegnen sich nun Religion und Philosophie. Das reflexive In-sich-gehen ist ein genuines Feld der Philosophie, Religion ist insofern per se ein Teil von Philosophie. In einem mystischen Moment wird Gott im eigenen Inneren gefunden.
“Wir haben ihn getötet”
Gott in uns
JM
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Endzeit
Wir leben offensichtlich in einer sehr unphilosophischen Zeit. Warum? Weil wir einer permanenten Reizüberflutung ausgesetzt sind, durch omnipräsente Medien und durch Werbung, die durch sie transportiert wird. Selbst die Nachrichten durchmischen sich heute schon mit Werbung, jedenfalls in solchen Medien, die sich dem Bildhaften besonders verschrieben haben. Das Bildhafte ist heute angesagt, mit ihm lassen sich am meisten Informationen in kürzester Zeit stichwortartig übermitteln. Die Computer- und Smartphonedisplays flackern und flimmern geradezu nur so vor Bildinformationen.
Die Reaktion auf diese ganze Entwicklung ist, naheliegenderweise, wie sollte es auch anders sein, Apathie und Passivität. Passivität deshalb, weil der bloße Medienkonsument natürlich nur passiver sein kann als die, die so aktiv in den Medien präsent sind. Auch wird in der Werbung ja der aktive Produktkonsument präsentiert, da kann man als Werbekonsument, und somit nur potenzieller Produktkonsument, notgedrungen im Vergleich dazu nur passiver sein.
Was erregt noch wirklich unsere Aufmerksamkeit? Eine tiefergehende Form von Aufmerksamkeit wäre das Staunen. Wenn wir jedoch nicht mehr wirklich aufmerksam sind, können wir auch nicht mehr staunen. Das Staunen steht beim Philosophieren aber oft am Anfang.
Bilder müssen immer bunter werden, Filme immer wechselhafter, Musik immer rhythmischer, Bücher immer handlungsverschachtelter. Der Zwang zum Neuen wird immer ausgeklügelter, das scheinbar Neue aber immer gewöhnlicher, weil irgendwann Sättigung, wenn nicht gar Übersättigung, eintritt. Was gibt es noch, das es noch nicht gab? Welche Fragen und Antworten gibt es noch, die noch nicht gestellt und beantwortet wurden? Heute, in Zeiten des Massenmediums Internet, wurde offenbar jede Antwort schon gegeben, jede Frage schon gestellt. Man schaue nur bei Google nach, und wenn nicht dort, dann eben bei Wikipedia.
Das gesellige Beisammensein und -sitzen ist offenbar im Aussterben begriffen, und macht einem nur noch Voneinanderentferntsein und -sitzen Platz, vor Computern oder Smartphones, deren Hauptaufgaben darin bestehen, Mail-, Google- oder Facebook-Klienten zu sein; nicht mehr von Angesicht zu Angesicht, sondern von Face to Face. Wer wirkliches Vogelgezwitscher hören will, sollte besser mit dem Twittern aufhören. Wer mehr will, für den gibt es schon irgendeine App, die ihm die direkte Kommunikation mit seinen Mitmenschen erspart.
Auf Internetseiten muss man schon sehr suchen und sich durchclicken, um noch eine Telefonnummer zu finden, als jemand, der es tatsächlich noch wagt, mit dem gesprochenem Wort kommunizieren zu wollen, von Mensch zu Mensch. Man darf keine Fragen stellen, die Fragen sind in den FAQ-Listen schon alle beantwortet, die man gefälligst zu lesen hat. Die wahren Fragen sind die Frequently Asked Questions, die häufig gestellten Fragen. Stellt man eine Frage, die dort nicht auftaucht, ist man schon irgendwo ein Sonderling. Wie lästig man sich als Fragesteller und Antwortsucher beim Blättern in Internetseiten fühlt, zum Beispiel auf denen bestimmter Produkthersteller, die bei der Werbung noch so aktiv waren, wird einem immer wieder bewusst.
Es gibt keinen Grund mehr für ein Beisammensein im kleinen Kreis. Wenn, dann ist man beisammen, weil man es bei Facebook beschloss, um mal wieder ein großes Partyevent in einer aufregenden Location zu feiern. Man machte irgendwo einen Mausclick in einer Teilnehmerliste, dies war der initiale Akt der Teilnahme. Aktivität wird, so sie noch vorhanden, durch Mausclicks initiiert. Da man sowieso durch Smartphones ständig mit dem Internet verbunden ist und der Internetzugang über Flatrates nicht mehr zeitlich begrenzt und finanziell eingeschränkt ist, wird man auch das altmodische Medium SMS nicht mehr nutzen, sondern gleich online kostenlos Nachrichten mit “Freunden” austauschen.
Der Mensch, der heute gefragt ist, ist nicht derjenige, der Fragen stellen kann, schon gar nicht Fragen, die als philosophische Fragen auch nur für sich bestehen könnten. Philosophen sind jedenfalls nicht gefragt in Zeiten, in denen es nur noch Fragen gibt, die prinzipiell beantwortet werden können. Obwohl sie eigentlich sehr gefragt sein sollten, in Zeiten revolutionärer Medienveränderungen. Es gibt heute keine Fragen mehr, die für sich stehen. Das sind die Menschen als Antwortkonsumenten des Internet und insbesondere von Google, Facebook und Wikipedia heute so gewohnt. Fragen haben faq-gemäß in einem Frage-Antwort-Kontext zu stehen.
Da wundert es dann auch nicht, dass der Mensch, der heute gefragt ist, derjenige ist, der Fragen mithilfe des Internets beantworten kann. Der Informationen be- und entsorgen kann, nicht jedoch über wirklich eigene Informationen verfügt, was ohnehin bei der Masse von Information immer nur bruchstückhaft möglich ist. Wenn Bildung einmal das selbstständige Aneignen qualitativer Informationen war, so ist es heute eher ein Filtern quantitativ vorliegender Informationen.
Der Mensch, der heute gefragt ist, ist der, der möglichst wenig Fragen stellt, der durch Consultants optimierte Mensch, der ideale Mitarbeiter und Konsument, der möglichst wenig verdient, schon gar kein Mitleid, aber dennoch viel ausgibt. Der das Gefühl hat, in Sicherheit zu sein, Versicherungen helfen ihm dabei. Und der sich aus dieser Sicherheit heraus gesund dem Konsum hingeben kann, mit einer ebenso gesunden Krankenversicherung im Rücken, wobei ebensolcher durch ebenselbige wegen des vielen Sitzens vor dem Computer ge- bzw. unterstützt werden muss. Auf dass die Einkaufsclicks bei Amazon weitergehen können.
Gefragt ist der Mensch mit den 1000 Augen und dem geschlossenen Mund. Mit den 1000 Augen kann er bildlastige Werbung optisch konsumieren, mit dem geschlossenen Mund kann er keine überflüssigen Fragen stellen, schon gar keine die Werbung anzweifelnden, schon gar keine philosophischen. Die wenigen verbliebenen Philosophen schließen 1000 mal am Tag die Augen, um sich der Vergewaltigung der Sinne zu entziehen. Das allgegenwärtige Grinsen der 1000 Makellos-Gesichter unterminiert das Andere, das Nachdenkliche. Man wird heute schon nachdenklich, wenn man ein Muttermal in einem Gesicht sieht. Gibt es tatsächlich noch Menschen, die sich ihre Muttermale nicht weglasern lassen? Oder ihre überflüssigen Haare? Wellness ist der Fortschritt von Gesundheit. Gesund sind viele – wir wollen noch gesünder sein. Wir übernachten heute nur noch in Wellnesshotels mit WLAN-Zugang, wenn wir schon nicht im voll vernetzten Multimediazuhause sind.
Welche Rolle spielen noch die alten Medien? Das Fernsehen – inzwischen ein Medium, bei dem man schon weiß, was passiert, weil man es zuvor im Internet erfahren hat. Die Zeitung – das, was nach dem Fernsehen kommt, also praktisch doppelt dem Internet hinterher läuft. Im noch älteren Medium Radio gibt es vereinzelt noch gehobene Inseln der Kultur, die sich der Bilderflut erfolgreich entziehen.
Ohne Zweifel wird dies alles nicht ohne Auswirkungen auf die evolutionäre Weiterentwicklung des Menschen bleiben, falls man von Weiterentwicklung überhaupt noch sprechen kann oder will: Die Köpfe werden größer, auch die Augen, die Münder kleiner, da gesprochene Kommunikation immer unwichtiger wird, die Gliedmaßen immer schmaler. Was dabei herauskommen wird, kann man heute schon bewundern – in Science-Fiction-Filmen über Außerirdische. Hoffentlich werden wir uns selbst gegenüber nicht einmal so fremd, dass wir uns damit vom Menschen, wie wir ihn kannten und noch kennen, verabschieden. Womit wir dann doch wieder bei einer philosophischen Frage sind.
JM
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Mitten im Leben
Mit der Zeit zog ich mich immer mehr zurück. Ich schloss die Vorhänge, die Sonne blendete mich ohnehin nur. Das Internet bestimmte meinen Tagesablauf, ich sollte besser sagen, es bestand für mich eigentlich gar kein Unterschied mehr zwischen Tag und Nacht. Der Computer war immer eingeschaltet, er war noch nicht einmal im Standby, das Hochfahren dauerte mir zu lang, selbst das Aufwachen aus dem Energiesparmodus.
Würde mich doch einmal jemand aus meinem Internet-Dornröschenschlaf wecken und mich an die Hand nehmen. Aber was erzähle ich? – Ich komme da nicht mehr raus.
Der Tag beginnt, nach dem Aufwachen, falls man von Aufwachen nach einem kurzen Schlaf von 3 bis 4 Stunden überhaupt sprechen kann, wie immer, mit dem Abchecken meiner Mails. Der Spamfilter funktionierte in letzter Zeit nicht richtig, weiß der Teufel warum, ich musste Vieles von dem elektronischen Müll manuell löschen. Ich überfliege, wie jeden Tag, das Übliche, Werbung, Leute aus irgendwelchen Internetforen, ich wusste schon gar nicht mehr, wo ich mich überall angemeldet habe, auch die Passwörter kriege ich nicht mehr auf die Reihe. Ständig muss ich sie mir per Mail neu zuschicken lassen. Das war zu lang mit dem nächtlichen Chatten, ich bin noch nicht richtig wach, erstmal eine Kanne Kaffee und eine rauchen. Heute mittag rufe ich wieder den Pizzaservice an, das Frühstück fällt aus.
Wenn die Leute, mit denen ich mich im Internet unterhalte, wüssten, was ich für ein armes Würstchen bin. Vielleicht ist mein großkotziges Internetauftreten eine Kompensation für mein armseliges Privatleben. Eigentlich müsste man an der Zahl der Postings im Internet doch schon erkennen, dass ich gar kein richtiges Privatleben habe, sondern dass sich meine Existenz auf ein Internetdasein – mehr oder weniger real, mehr oder weniger virtuell – beschränkt. Ich kapiere nicht, dass mich die Leute noch für voll nehmen, im Internet ist halt alles möglich. Dabei bin ich selbst voll vom Internet, besoffen vom Internet.
Da ich aber kaum noch nach draußen vor die Tür auf die Straße ging, sondern nur noch vor dem Computer und dem Internet hing, wurden meine Beiträge, die ich im Internet schrieb, im Laufe der Zeit immer unrealistischer. Ich musste eine eigene reale Identität, ein eigenes Leben und Privat- und Sozialleben, heucheln, um überhaupt noch irgendwo anzukommen und für voll genommen zu werden.
Alle Informationen, die ich bezog, entnahm ich dem Internet. Zeitungsabonnements habe ich schon lange abbestellt, ich hatte mir einige Lesezeichen von den Webseiten bestimmter Zeitungen angelegt, ab und zu überflog ich die Favoriten, um wenigstens ein bisschen informiert zu sein, was da draußen – im Internet nennt man es: Real Life – so alles abläuft und auf der Tagesordnung steht. Diese Informationen verwendete ich dann dazu, um mich im Internet als politisch informiert zu geben.
Auch Radio höre ich im Internet, Fernsehen sehe ich im Internet, alle meine Daten liegen auf irgendwelchen Servern im Internet, zum Beispiel bei Google. Bei den wenigen Malen, bei denen ich einen Fuß vor die Tür setze, um auf der Straße ein wenig Luft zu schnappen, habe ich mein Smartphone dabei, auf dem mir über Pushdienste sofort irgendetwas aus dem Internet zugeleitet wird, ob Mails oder sonstwas. Ich telefoniere eigentlich fast gar nicht mehr mit dem Handy, das mache ich, wenn überhaupt, nur noch von Zuhause vom Rechner aus, über das Internet per Voice over IP. Man konnte mit dem Ding noch nie richtig telefonieren, da es halt ein eigenständiger Computer ist, der wegen des vielen Krims-Krams, der auf ihm installiert ist, auch öfter abstürzt, was Telefongespräche fast schon unmöglich macht. Was sollte ich auch mit wem mündlich besprechen? Das kann ich doch inzwischen auch über Facebook, früher hab’ ich halt ‘ne SMS geschrieben, wenn ich was von jemandem wollte. Bei meiner letzten Beziehung hab’ ich sogar per SMS Schluss gemacht.
Da man im Internet sowieso alles bekommt, wählt man halt den bequemen Weg. Immer nur Input, Input, Input. Und dann dieser kompensatorische Output, Output, Output. Ach wie bin ich heute wieder originell, was habe ich mich heute wieder im Internet ausgekotzt. Mit meiner Homepage konnte ich zudem prima angeben.
Doch irgendwann wird’s auch mir zuviel. Ich komme bei den Facebook-Einträgen nicht mehr nach, kein Wunder, wenn man 100 “Freunde” hat. Die sind mit den anderen 99 so beschäftigt, dass für mich genau 1/100 ihrer Zeit bleibt und in dieser Zeit schreiben sie mir dann, was für 100%-Typen sie sind.
Auch das Denken habe ich verlernt. Ich mache mir schon gar keine Gedanken mehr, wie ich selbst ein Problem lösen kann, sondern ich überlege mir recht schnell Begriffskombinationen, die ich dann in Google eingebe. Die Antwort kommt bestimmt, irgendjemand in der großen weiten Welt des Internet hatte bestimmt schon mal ein ähnliches Problem. Also: Wozu sich noch den Kopf zerbrechen?
Meinen letzten Job als Call-Center-Agent habe ich geschmissen. Ich hatte abends keine Zeit mehr für’s Internet. Im Moment klappt es mit der Stütze noch, aber ich muss aufpassen, dass ich meinen Rechner nicht himmel, ich hab’ momentan keine Kohle für ‘nen Neuen.
Irgendwann hatte ich auch keinen Bock mehr auf Dates aus dem Internet, wenn die meine Bude sehen, ist es ohnehin vorbei.
Im Internet geht es nicht klösterlich zu, aber inzwischen komme ich mir vor, als ob ich in einem Kloster lebe: total vernetzt und dennoch einsam. Wenn man doch nur die Muße hätte, sich als Eremit der Natur nur noch an ihren Lagerfeuern aufzuhalten, denn als Anonymous der Stadt nur Maschinen zu befeuern, deren Zeitmaß man sich unterwarf, über alle natürlichen Maße. Die Mühlen der Stadt, sie mahlen die groben Steine fein, bis zum Sand. Und es ist, als ob ich das Ergebnis sehe, wenn ich über ihn am Strand seelenaufgelöst auf das Meer schaue. Wie am Ende aller Zeiten und doch wieder am Anfang, schuldig und doch unschuldig, nach Äonen der Verführung.
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Raum und Zeit
Manchmal besucht man Orte in der Hoffnung dort alte Zeiten zu finden. Doch man wird oft enttäuscht, die Orte sind nicht mehr das, was sie einmal waren, sondern haben sich, wie die Zeiten auch, geändert. Eigentlich ist es schon falsch, zwischen Raum und Zeit eine Trennung vorzunehmen, dies ist nicht nur eine Erkenntnis der modernen Physik, sondern auch Teil unserer Lebenserfahrung. In Wahrheit sehnen wir uns nicht nur nach einer bestimmten Zeit zurück, wie wir oft sagen, wobei wir die räumliche Komponente ignorieren, sondern nach einer bestimmten Einheit von Zeit und Raum, wie sie zu einer bestimmten Zeit gegeben war.
Da diese Einheit jedoch einmalig war, bleibt unsere Sehnsucht Sehnsucht, selbst wenn wir die alten Orte aufsuchen und unserer Erinnerung damit auf die Sprünge helfen wollen. Womit wir die Erinnerung jedoch in gewisser Weise wieder als etwas Unselbständiges schwächen.
Wäre es nicht auch denkbar, dass wir Orte aufsuchen, bei denen wir das Gefühl haben, dass dort etwas für unser Leben Wichtiges stattfinden wird?
Warum diese Verengung auf die Vergangenheit, diese Bevorzugung der Erinnerung im Vergleich zur Hoffnung?
Es ist uns möglich, aufgrund ihrer vermeintlichen Konstanz, “vergangene” Orte aufzusuchen, nicht jedoch vergangene Zeiten. Die Erinnerung will diesen Makel überwinden, sie neidet dem Raum die Möglichkeit überzeitlichen Seins, sie will zu den alten Zeiten vorstoßen. Zum Erinnern müssen wir uns noch nicht einmal körperlich weg bewegen, wie bei einem Ortswechsel, wie dies beim Aufsuchen eines Ortes, der für uns eine wichtige Rolle spielte, ja der Fall ist. Dies zeigt, dass das Denken der Zeit und die Bewegung dem Raum verhaftet ist. Bewegung ist aber immer Bewegung in der Zeit. Für Aristoteles war die Zeit die Zahl der Bewegung. Das Zählen ist jedoch ein bewusster Akt unseres Denkens. Auch dies zeigt, dass Raum und Zeit untrennbar miteinander verbunden sind.
Unterschätzen wir den Vorgang des Erinnerns gewöhnlich nicht? Das Erinnern erscheint uns eher als ein verschwommenes Abbilden denn als ein aktives Sich-hinein-versetzen. Doch wenn wir uns so intensiv erinnern, als wäre das Vergangene präsent, so sagt dies ja auch etwas über die Leistungsfähigkeit unseres Erinnerungsvermögens selbst aus, und nicht nur über die Inhalte, an die wir uns konkret erinnern. Wäre es nicht denkbar, dass wir durch die Erinnerung eine tatsächliche Verbindung zu den Geschehnissen als raumzeitlichen Ereignissen haben? Dies würde bedeuten, dass es ein raumzeitliches Kontinuum gibt, bei dem alle Ereignisse miteinander in Verbindung stehen. Wenn wir uns im Moment unseres Todes an unsere Geburt erinnerten, wie auch immer, so wäre damit durch die Erinnerung eine Einheit von Geburt und Tod gegeben. Ist eine Erinnerung an die Geburt überhaupt möglich? Oder gibt es sie vielleicht nur, wenn wir sterben? Wenn wir im Moment der Geburt den Moment des Todes ahnten, was noch spekulativer erscheint, wäre diese Einheit ebenfalls gegeben. Es ist wie bei einem Kreis, der sich schließt, der an einem bestimmten Punkt entstand und der bis an ein bestimmtes Ende zirkuliert und zirkuliert, wie der Zeiger einer Uhr. Wobei Anfangs- und Endpunkt der Bewegung nicht Teil unseres alltäglichen Bewusstseins sind, sie liegen jenseits von dem, was wir eine gesicherte Erkenntnis nennen würden. Bei dem einen Punkt waren wir noch nicht, bei dem Anderen sind wir nicht mehr.
Trotz der Einheit von Zeit und Raum scheint uns doch der Raum als etwas Unveränderlicheres als die Zeit. Alte Orte, etwa uralte Häuser mit dicken Mauern, scheinen die Zeit zu ignorieren, sie bestehen über Jahrhunderte und Jahrtausende, scheinbar ewig. Unser Zeitempfinden prallt an ihnen ab, als ob es ihnen egal ist, was uns in der Zeit als wichtig erscheint. Als ob es ihnen einerlei ist, welche wichtigen Lebensereignisse wir gerade mit ihnen verbinden. Sie haben ein Eigenleben, das ihrer Entstehungszeit treu ist. Eine alte Kirche gibt irgendwo die Atmosphäre ihrer Entstehungs- und Bauzeit wieder, spätere Geschehnisse werden kaum abgebildet, vornehmlich in unserem Bewusstsein. Letztlich sind wir es selbst, in gewisser Weise durch unsere Lebenserinnerungen oder auch durch historische Aufzeichnungen, die alten Bauwerken ein Leben einhauchen.
Manchmal erscheint uns Raum und Zeit auch austauschbar, als ob es seltsame Verbindungen zwischen verschiedenen Ereignissen gibt, die wir eigentlich als unabhängig voneinander betrachten. Wir bewegen uns an einen Ort und denken plötzlich an eine andere Zeit, die mit dem Ort scheinbar gar nichts zu tun hat. Oder wir erinnern uns an eine bestimmte Zeit und denken ebenso plötzlich an einen völlig anderen Ort. Und in unserem Denken und Fühlen scheint trotz dieser Widersprüche dennoch alles vereint. Und das Geheimnis der Einheit von Raum und Zeit hängt untrennbar mit dem Mysterium unseres Lebens, einschließlich unserer Geburt und unseres Todes, zusammen.
JM
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Die wahren Freunde
Was bleibt Dir denn Anderes übrig, als Deine Gedanken zu Deinen Freunden zu machen, wenn Du allein bist?
JM
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Anthropisches Prinzip und Information
Informationen werden auf materiellen Datenträgern gespeichert. Die materiellen Manifestationen von Informationen zeigen sich beispielsweise auf durch Tinte beschriebenem oder Toner bedrucktem Papier bei Büchern, oder bei Compact Discs, auf denen mittels Laser Abfolgen langer und kurzer Rillen in das Oberflächenmaterial eingebrannt wurden. Da sich die materiellen Strukturen, auf denen diese Informationen gespeichert werden, jedoch ändern können, unterliegen Informationen der Möglichkeit der Zerstörung. Bücher können reißen oder brennen, Compact Discs brechen und Festplatten mechanischen Stößen ausgesetzt sein.
Spätestens wenn sich die Sonne in 5 Milliarden Jahren zu einem Roten Riesen aufgebläht haben wird und der Planet Erde in der Folge verglüht, können auf diesem Planeten keine Informationen mehr gespeichert werden, in welcher Form auch immer. Die Menschen müssten bis zum betreffenden Zeitpunkt schon zu interstellarer Raumfahrt fähig sein, um andernorts alte Informationen zu erhalten oder neue zu erzeugen.
Gibt es die Möglichkeit der Erzeugung einer unzerstörbaren Information? Man könnte zunächst an eine Manifestation in Form elementarer Teilchen, zum Beispiel Atomen, denken. Aber auch diese können sich bekanntlich verändern. Strukturierte Kohlenstoffatome könnten etwa durch bestimmte Prozesse zum Zerfall gebracht werden, und mit ihnen die Informationen, die durch sie gespeichert werden. Selbst bei Elementarteilchen besteht natürlich die Möglichkeit einer solchen Veränderung bzw. Zerstörung. Zudem müssten ja auch immer mehrere Teilchen zu einer Struktur aggregiert werden, um Informationen abzubilden.
Die Frage danach, ob eine Information erzeugt werden kann, die unzerstörbar ist, reduziert sich somit letztlich auf die Frage, ob es eine materielle Struktur gibt, die unzerstörbar ist. Nach allem, was wir wissen, sieht es nicht danach aus. Wohl mit einer Ausnahme: Das Universum selbst. Die Informationen über das Universum könnten immer irgendwo im Universum gespeichert sein. Es gibt wahrscheinlich eine Mindestanzahl bewohnter Planeten, wie groß diese auch immer sein mag, auf denen Informationen über das Universum gespeichert werden.
Wenn das Universum zeitlich endlich ist, werden auch die materiellen Manifestationen von Informationen, die letztlich in einem solchen Universum irgendwo materiell gespeichert werden, ein zeitliches Ende haben. Denkbar wäre ein Kollaps des Universums hin zu einer Singularität oder ein ewiges Expandieren mit einer unendlichen Ausdünnung der Materie bzw. Energie. In beiden Fällen würden Informationen endgültig vernichtet, da sich die Materie in einem extremen Zustand befindet, bei dem eine materielle Speicherung von Informationen nicht mehr möglich ist.
Angenommen, es wird postuliert, dass die Struktur des Universums derart beschaffen ist, dass Informationen über das Universum zu allen Zeiten des Universums bestehen können und dass dies auch unendlich lang geschehen soll. Dann müsste das Universum ewig existieren. Es sollte dann also immer im Universum Orte geben, zum Beispiel Planeten mit intelligenten, informationserzeugenden Lebewesen, auf denen diese Informationen speichern.
Letztlich wird es sich bei diesen Informationen um Informationen über das Universum selbst handeln, sie stellen eine Abbildung des Universums dar. Diese Informationen sind einerseits mathematische Informationen und Naturgesetze, Informationen, die wir der Mathematik, Physik, Chemie oder Biologie zuordnen, andererseits handelt es sich um Strukturbeschreibungen konkreter Objekte der Natur oder Kultur bzw. um Produkte kreativer intelligenter Lebewesen, etwa Musikstücke, Kunstwerke wie Gemälde, literarische Erzeugnisse, und Anderes.
Die Informationen der ersten Art wird es wahrscheinlich an jedem Ort geben, an dem Informationen gespeichert werden, somit auf jedem entwickelten Planeten mit Zivilisationen, die in Mathematik und Naturwissenschaften einen gewissen Grad erreicht haben. Diese Informationen zeichnen sich durch den Charakter der Allgemeingültigkeit und ihre experimentelle und intersubjektive Nachprüfbarkeit und Nachvollziehbarkeit aus. Die Informationen der zweiten Art werden in den meisten Fällen wohl einmalig sein. Dass sie exakt in derselben Form an unterschiedlichen Orten im Universum entstehen, ist aus Gründen der Wahrscheinlichkeit so gut wie ausgeschlossen. Beethovens 9. Sinfonie ist ein einmaliges Informationsereignis auf dem Planeten Erde. Dennoch wird es wahrscheinlich irgendwo auf einem anderen bewohnten Planeten eine Musik geben, die wir als klassische Musik im Stile Beethovens bezeichnen würden.
Mit der Zahl der von intelligenten Lebewesen bewohnten Planeten im Universum bzw. der Zahl der Zivilisationen, die interstellare Raumfahrt betreiben können und dadurch vielleicht sogar, unabhängig von einem lebensfreundlichen Planeten, auf einem artifiziellen Quasiplaneten leben und sich selbst versorgen könnten, nimmt die Wahrscheinlichkeit dafür zu, dass (jede – hier spielt der Grad der wissenschaftlichen und technischen Entwicklung einer Zivilisation eine Rolle) Information über das Universum irgendwo im Universum an mindestens einem Ort gespeichert ist. Dies würde bedeuten, dass das Universum zu jedem Zeitpunkt seiner Existenz in sich über eine informationelle Abbildung seiner selbst verfügt. Infolgedessen wäre das Universum dann gerade derart strukturiert, dass dies möglich ist, was zum anthropischen Prinzip führt, zur Beschaffenheit der Naturkonstanten und zur Stabilität des Universums aufgrund dieser Beschaffenheit dieser Konstanten. Wenn nun noch alle intelligenten Lebewesen des Universums humanoider Natur sind, folgt hieraus die Notwendigkeit der Existenz des Menschen, als Voraussetzung für den Erhalt von Information über das Universums.
Wäre es nicht denkbar, dass es eine hochentwickelte Zivilisation gibt, die durch ihren wissenschaftlich-technischen Entwicklungsstand, zum Beispiel in der astronomischen Beobachtungstechnik, über sehr viele Informationen über das Universum verfügt, bis hin zur Beobachtung bewohnter Planeten?
Vielleicht ist das Universum gerade zu allen Zeiten so beschaffen, dass eine Kenntnis seines physikalischen Zustandes, inklusive seiner materiellen Strukturiertheit (Galaxien, Sterne, Planeten, Lebewesen, …), im Prinzip an mindestens einem Ort gespeichert ist, nämlich dem Planeten (oder artifiziellen Quasiplaneten einer zu interstellarer Raumfahrt fähigen Zivilisation) mit der höchstentwickelten intelligenten Lebensform.
Es ist interessant, dass im Universum ein informationelles Abbild seiner selbst existiert. Es beschränkt sich jedoch auf die oben genannte erste Art von Informationen. Und dieses Abbild kann im Prinzip an jedem Ort des Universums existieren. Bei der zweiten Art von Informationen ist dies nicht der Fall. Es gibt auf einem Planeten im Virgohaufen kein getreues Abbild von Beethovens 9.
Dies sollte auch Anlass sein, darüber nachzudenken, welchen universellen Stellenwert naturwissenschaftliche Informationen haben, so interessant die Produkte menschlicher Kunst mit ihren Informationen einmaligen Charakters auch sein mögen. Deshalb ist es gerade so schwierig, die Informationen der zweiten Art zu erhalten. Naturwissenschaftliche Informationen werden irgendwo im Universum auf anderen Planeten gefunden, selbst wenn der Unsere untergeht. Unsere Kultur- bzw. Kunstprodukte dagegen sind unwiederbringlich verloren.
Dies könnte ein Argument dafür sein, alles dafür zu tun, gerade diesen unseren Planeten zu erhalten. Letztlich bedeutet dies dann auch, die Informationen auf diesem Planeten zu erhalten und nötigenfalls woanders im Universum im Prinzip ewig zu speichern. Beethovens 9. sollte ewig gespeichert werden, sie sollte nicht verloren gehen.
Das Universum selbst repräsentiert eine Wahrheit, es enthält implizit die Information der Naturgesetze. Da es nicht zerstörbar ist, ist auch diese Information nicht zerstörbar. Mag es Menschen geben, die diese Information lesen können oder nicht. Das Universum erkennt sich fortwährend selbst in dieser Wahrheit, auch durch uns Menschen. Wir Menschen sind die, die zwischen Information und Wahrheit stehen. Naturwissenschaftler sind da nicht anders als Dichter.
JM
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Am Anfang war das Wort
Ich stand am Fenster meines Büros und wartete. Meine Existenz hängt von meiner mobilen Erreichbarkeit ab.
Vor der Tür hielt der Kleintransporter eines Paketdienstes. Am Steuer saß schreibend ein Mann. Er stieg aus und warf einen gelben Zettel in meinen Briefkasten, klingelte jedoch nicht. Er fuhr wieder davon.
Aus Zeitknappheit habe ich gestern einen Bekannten, der ein paar Tage frei hatte, darum gebeten, über das Internet online für mich einen neuen Mobilfunkvertrag abzuschließen. Meine Daten, einschließlich meiner Kontodaten, habe ich ihm zuvor gemailt, verschlüsselt natürlich.
Da mein Bekannter nicht wusste, dass der Mobilfunkanbieter eine Trennung zwischen Privat- und Geschäftskunden vornimmt, bestellte er einfach auf der nächstbesten Bestellseite unter “Privatkunden” und gab als Lieferadresse meine Büroadresse an, auch hinsichtlich der späteren Rechnungsstellung und wegen der Formalitäten in der Steuererklärung für das zuständige Finanzamt im nächsten Jahr.
Auf dem gelben Paketzettel stand, dass das Paket nicht zugestellt werden konnte und man es in einem Lager des Paketzustellers direkt abholen könne. Auch jemand anders könne das Paket abholen, es könne auf dem Zettel der Name und die Adresse des Abholers eingetragen werden, mit einer Unterschrift des Paketadressaten. Der Zettel müsse dann nur zusammen mit dem Personalausweis des Abholers vorgezeigt werden. Die Abholzeiten waren nicht angegeben, weshalb ich die Hotline des Paketzustellers anrief, die ebenfalls auf dem Zettel vermerkt war. Dort teilte man mir mit, dass das Lager noch bis Acht geöffnet sei. Das Lager befand sich am Stadtrand auf einem Gewerbegebiet.
Ich hatte heute abend etwas vor, rief deshalb erneut meinen Bekannten an und fragte ihn, ob er das Paket noch heute abend für mich abholen könne. Es winke ein Abendessen. Er stimmte freudig zu. Ich füllte seinen Namen und seine Adresse auf dem Zettel aus und unterschrieb. Auf dem Weg zu meinem Date fuhr ich vorher bei meinem Bekannten vorbei und gab ihm den Zettel.
Er fuhr dann sofort zum Lager des Paketdienstes, kam um kurz vor Acht an und gab dem Mitarbeiter des Paketdienstes den Paketzettel und seinen Personalausweis. Der Paketdienstmitarbeiter ging mit dem Zettel in das Lager, kam mit dem Paket nach einiger Zeit wieder zurück und teilte meinem Bekannten mit, dass er es ihm leider nicht aushändigen könne, da die Übergabe gemäß dem Ident-Verfahren stattfinden müsse. Dies erfordere die Anwesenheit des Adressaten. Dabei wird die Adresse, die im Auftrag vermerkt ist, mit der Adresse im Personalausweis verglichen. Wie er mir im Nachhinein erzählte, fragte er sich, warum der Mobilfunkanbieter im Internet nicht explizit darauf hinweist, dass auch die Adresse eingegeben werden muss, die im Personalausweis des Adressaten steht. Auch teilte er dem Mitarbeiter des Paketdienstes mit, dass auf dem Paketzettel aber doch stand, dass ein Anderer im Auftrag des Adressaten das Paket abholen könne. Der Mitarbeiter teilte ihm daraufhin mit, dass er dazu nichts sagen könne, er entschuldigte sich förmlich und fragte meinen Bekannten, ob das Paket denn noch einmal zugestellt werden solle, und wenn ja, in welchem Zeitfenster, vormittags oder nachmittags. Mein Bekannter antwortete widerwillig, dass das Paket am anderen Tag noch einmal vormittags zugestellt werden soll.
Dann fuhr er wieder den langen Weg nach Hause. Als er zuhause ankam, rief er mich auf meinem Handy an, ich saß gerade im Restaurant, und teilte mir die Geschehnisse mit. Ich sagte ihm kurz, dass das Paket am anderen Vormittag nicht zugestellt werden könne, da ich dann nicht im Büro bin. Außerdem dachte ich mir, dass der Zusteller wahrscheinlich, wie beim letzten Mal auch, wieder nicht klingeln würde, und gleich den vorausgefüllten Zettel in meinen Briefkasten werfen würde. Ich beschloss, meinen Termin für den Vormittag des Folgetages abzusagen und teilte meinem Bekannten mit, dass er doch bitte noch einmal bei der Hotline des Paketzustellers anrufen und dort mitteilen solle, dass ich das Paket persönlich vom Lager abholen werde. Mein Bekannter rief dann auch die Servicenummer des Paketdienstes an und teilte der Call-Center-Mitarbeiterin mit, dass sie doch bitte weitergeben solle, dass das Paket doch nicht zugestellt werden soll, sondern dass es vom Adressaten selbst vom Lager abgeholt wird. Sie sicherte ihm zu, dass sie dies an den Paketdienst weitergeben werde.
Am anderen Morgen fuhr ich fast eine Stunde lang durch den Berufsverkehr zum Lager. Zudem waren auch noch einige Leute vor mir dran, so dass ich warten musste.
Das Paket war jedoch bereits wieder unterwegs zur Zustellung. Eine Information vom Call Center zum Paketdienst aufgrund des Anrufes meines Bekannten am Abend zuvor war offenbar nicht erfolgt oder ist untergegangen. Notgedrungen musste ich unverrichteter Dinge wieder fahren. Nachmittags lag im Briefkasten meines Büros ein zweiter Paketzettel, wiederum mit der Information, dass das Paket nicht zugestellt werden könne. Abends fuhr ich dann wiederum zum Lager, um es abzuholen. Ich hatte meinen Personalausweis dabei.
Doch wieder wurde mir das Paket nicht ausgehändigt. Der Lagermitarbeiter des Paketdienstes versicherte sich noch einmal telefonisch an vorgesetzter Stelle, dass das Paket auf keinen Fall an mich ausgehändigt werden dürfe. Die Adresse auf dem Auftrag stimme nicht mit der Adresse im Personalausweis überein. Ich rief daraufhin beim Mobilfunkanbieter an. Dort versicherte man mir, dass der Auftrag nicht zustande gekommen sei, da das Paket mit der Mobilfunkkarte und den Vertragsunterlagen ja nicht übergeben werden konnte. Es läge ein ähnlicher Fall vor wie bei einer Paketannahmeverweigerung. Ich könne im Internet noch einmal neu bestellen, diesmal mit der Personalausweisadresse, und alles würde seinen Gang gehen.
Ich bestellte daraufhin nochmals im Internet, füllte den Auftrag nun jedoch, im Gegensatz zur Vorgehensweise meines Bekannten, von vornherein im Geschäftskundenbereich aus. Es mussten Formulare ausgedruckt und unterschrieben werden, auch eine Kopie des Personalausweises solle gefaxt werden.
Am anderen Morgen, es war ein Samstag, bekam ich eine Mail von der Bonitätsprüfung des Mobilfunkanbieters, in der ohne Angabe von Gründen stand, dass der neuerliche Auftrag abgelehnt wurde. Es war eine Hotline angegeben, an die man sich wenden könne. Als ich dort anrief, wegen des Wochenendes landete ich in einem Dritt-Call-Center, nannte mir der Call-Center-Agent den Ablehnungsgrund: Das Paket aus dem ursprünglichen Auftrag sei vom Paketzusteller noch nicht zum Mobilfunkanbieter zurückgeschickt worden, was Vorschrift sei. Der erste Auftrag gelte als aktiviert. Dies wunderte mich, da man mir im Gegensatz dazu ja zunächst mitteilte, dass der erste Auftrag gar nicht zustande gekommen sei. Doch, sagte man mir nun, die Karte werde aktiv geschaltet, da sie beim Paketempfang sofort einsatzbereit sein soll. Im Moment könne man nichts machen, es sei Wochenende. Am Montag solle ich mich zu den Bürozeiten noch einmal melden.
Ich rief dann am selben Tag noch einmal den Geschäftskundenservice an. Dort bot man mir an, dass man den Paketzusteller unmittelbar darüber informieren will, dass das Paket so schnell wie möglich zurückgeschickt werden soll. Bis das Paket nicht wieder da ist, könne der zweite Auftrag nicht geschaltet werden. Ein Mobilfunkkunde könne in einem Vierteljahr nur einen Auftrag abschließen. Da der erste Auftrag aber technisch aktiv sei, auch wenn er vertragstechnisch nicht zustande gekommen sei, könne der zweite Auftrag logischerweise nicht geschaltet werden, da beide Aufträge zeitlich zu nahe beieinander lägen.
Es blieb mir also nichts anderes übrig als zu warten.
JM
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Tod eines Schriftstellers
Ein relativ unbekannter, aber dennoch ehrgeiziger Schriftsteller, war so von sich überzeugt, dass er, trotz der vielen Absagen der Lektorate der Verlage, an die er seine Manuskripte schickte, dieselben trotzig mithilfe einer Regalleiter auf das oberste Regal seines Bücherregals stellte, das inzwischen mehr oder weniger gefüllt war. Das zweite Regal von oben, das auch nur mithilfe der Leiter erreichbar war, war dagegen so gut wie leer.
Eines Tages las er eine Artikelsammlung von Literaturkritiken über weniger bekannte Schriftsteller, in der unter anderem auch er – fast schon als Exempel, wie man es nicht machen sollte – kritisiert wurde. Es ging um einen seiner wenigen Texte, die den Weg in die Veröffentlichung fanden. Beim Lesen des Artikels überkam ihn ein unbehagliches Gefühl, er wehrte sich innerlich gegen die Kritik, erahnte jedoch ganz allmählich, dass er ihr letztlich nichts entgegensetzen konnte. Er schaffte es nicht, den Artikel zuende zu lesen.
Zornig und trotzig nahm er das Buch und wollte es schnell ins Regal in die hinterste Ecke stellen. Vernichten wollte er es nach der vernichtenden Kritik nicht, da er sich an den Statussymbolcharakter von Büchern gewöhnt hatte. Er war immer von Stolz erfüllt, wenn er, falls er denn einmal Gäste hatte, diese in sein, von Bücherregalen nur so strotzendes Wohnzimmer führen konnte. Manche seiner Gäste mögen sich die Frage gestellt haben, ob man sich Belesenheit wie ein Möbelstück kaufen könne und ob die Bücher vielleicht doch nur Buchattrappen wie in Möbelgeschäften waren. Die obersten Regale waren ja zudem so hoch, dass selbst Gäste mit geübtem Auge die dort thronenden Bücher, nämlich diejenigen des belesenen und schreibenden Gastgebers, nicht von Attrappen unterscheiden konnten.
Schließlich wusste er nicht, wohin mit dem Buch, die unteren Buchetagen waren zu voll, da er in der Regel zu faul dazu war, wenn es denn nicht seine eigenen Ergüsse waren, Bücher umständlich mit der Leiter nach oben zu stellen. Bei dem Kritikerbuch blieb ihm jedoch keine andere Wahl. Er visierte das zweite Regal von oben an, nahm das Buch und legte es in der linken Ecke des Regals hin, so dass es von unten nicht zu sehen war. Er wagte es nicht, das Buch aufrecht hinzustellen, wie dies bei Büchern in wohnzimmergerechten Bücherregalen gewöhnlich der Fall ist. Dann ging er die Leiter wieder herunter und stellte sich vor das Regal. Er übersah jedoch, dass er an denselben Platz, an dem er das Buch hinlegte, vor Jahren schon einmal ein anderes Buch legte, vermutlich auch dasjenige eines Literaturkritikers. Plötzlich überkam ihn der Gedanke, als er wie festgefahren vor dem Regal stand, dass sich seit vielen Jahren bei seinem eigenen Schreiben ja so gut wie gar nichts geändert hat. Es ist derselbe Stil geblieben, die Autorenhimmelsleiter wurde zwar immer angestrebt, jedoch nie erreicht. Er musste mit seinen eigenen Leitergängen vorlieb nehmen, die natürlich durch die Zimmerdecke begrenzt waren; jeder nach seinen Möglichkeiten.
Das neue Kritikerbuch, es war recht voluminös, lag nun halb auf dem älteren und kleineren Buch. Langsam begann es zu rutschen. Er stand noch vor dem Regal, zufällig blieb sein Blick auf dem Buchrücken von “Lotte in Weimar” hängen, einem großen Roman eines großen Schriftstellers über einen anderen großen Schriftsteller. In seinem tiefsten Unbewussten dachte er sich: Da komm’ ich nie hin. Wie soll mein Schreiben nur weitergehen? Ich halte meinem Stil, der ja auch irgendwo einzigartig sein muss, trotz solcher Kritikerstimmen die absolute Treue. Zum Teufel mit den Kritikern, ich werde die Himmelsleiter schon bald erklimmen. Just in diesem Moment fiel das Buch aus drei Metern Höhe direkt auf seinen Kopf. Er war sofort tot.
JM
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Auf der Suche
Ich, eine moderne und wählerische Frau, hab’ eine recht konkrete Vorstellung von meinem Traummann. Welche Möglichkeiten doch heute gegeben sind, gerade für mich als Frau. Das Internet fördert sogar dieses Wählerische, denke ich mir oft selbstkritisch, irgendwie übertreibe ich es mit dem Abchecken vor einem Date. Ist ja schon nicht mehr schön, dieser Perfektionismus, lass’ Dich doch einfach mal überraschen. Aber groß muss er sein, und belesen, möglichst ein südländischer Typ.
Letzten Samstag war ich mit einer Freundin vor der Disko in einer neuen Cocktailbar. Es war schon spät, die Gäste fingen auf einmal einfach an zu rauchen, obwohl es seit einiger Zeit auch in diesem Lokal ein absolutes Rauchverbot gab. Wie ich im Nachhinein erfuhr, steckt sich der Wirt, selbst ein passionierter Raucher, in der Regel nach Zwölf selbst seine erste Zigarette an. Dies gilt auch als ein Zeichen für die Gäste.
Ich ging mit meiner Freundin an die Bar, irgendwie hatten wir Lust, mit dem Wirt zusammen zu rauchen. Zwei Männer saßen, jeweils auch mit einem Cocktail, an einem Tisch in der Nähe der Bar. Einer von ihnen hatte mich schon seit einiger Zeit im Visier, seine Haut hatte einen schönen Teint und er hatte dunkelbraune Augen. Nun fasste er, zu gegebenem Anlass, seinen Mut zusammen, kam an die Bar und fragte mich nach Feuer. Er sah ziemlich attraktiv aus, groß war er auch, ehrlich gesagt, habe ich noch nie so einen attraktiven Mann gesehen. Wär’ meine Freundin nicht dabei gewesen – es hätte alles passieren können. Insgeheim wünschte ich sie nun weit weg, schämte mich aber innerlich solcher Gedanken. Sie hatte auch schon einige Männer in meinem Beisein abblitzen lassen. Ich kostete die Situation noch ein wenig aus und ließ mir mit dem Feuerzeug ein bisschen Zeit. Auch beim Anzünden stellte ich mich bewusst ungeschickt an, um die Situation noch weiter hinauszuzögern. Er sah mich lange an, ging wieder an den Tisch und setzte sich.
Gedankenversunken rauchte ich meine Zigarette zu Ende. Meine Freundin und ich bestellten noch einen Cocktail, danach wollten wir in die Disko. Meine Enttäuschung über den Ortswechsel wollte ich meine Freundin nicht spüren lassen. Ich wollte mir noch eine Zigarette anstecken, doch die Schachtel war leer, meine Freundin hatte ihre letzte Zigarette dem Wirt gegeben. Ein wenig angeschwipst-übermütig ging ich schnurstracks auf den netten Mann zu und fragte ihn nach einer Zigarette. Dezent strahlend schaute er mich an und reichte mir seine Schachtel. Davidoff. Ob er vielleicht selbst David hieß?
Langsam ging ich wieder zur Bar zurück, einen Moment überlegte ich, ob ich die beiden fragen sollte, ob sie nicht Lust hätten, mit in die Disko zu kommen, nahm von dieser fixen Idee aber wieder Abstand. Als ich wieder an der Bar saß, ging das Handy seines Tischnachbarn, ich glaubte, die Klingelmelodie “Time to Say Goodbye” vernommen zu haben. Der Angerufene steckte hastig das Handy in die Tasche seines Sakkos und sagte nur kurz: “Roman, wir müssen.” Ich dachte mir noch: Was für ein schöner Name. Beide gingen eilig aus dem Lokal. Ich war ein wenig traurig, zugleich melancholisch-verträumt.
Ich fragte den Wirt, ob die beiden schon einmal da waren. “Nein”, sagte er, “aber sie sagten, dass sie auch noch ins Hemingway wollten”. So hieß unsere Disko.
Wir tranken unsere Cocktails aus, zahlten und gingen den ungefähr zehn Minuten dauernden Fußweg am Fluss entlang zum Hemingway. Der Himmel war sternenklar und irgendwie war ich in einer sehr sentimentalen Stimmung. Als wir im Hemingway waren, begann ich nach Roman zu suchen, doch er war nirgends zu sehen. Wahrscheinlich ist irgendetwas dazwischen gekommen, dieses hastige Handytelefonat kündigte es ja schon an.
Wir setzten uns an einen Tisch in der Nähe der Tanzfläche und bestellten beide ein Glas Sekt. Nach einem dritten Cocktail wär’ ich umgefallen. Die ganze Zeit über starrte ich auf die Menge auf der Tanzfläche, in der Hoffnung, ihn vielleicht doch noch zu sehen. Da er ein großer und attraktiver Mann war, musste er ja auch irgendwie auffallen, selbst auf einer überfüllten Tanzfläche. Aber auch das Glas Sekt war zuviel für mich. Ich war schon mehr als beschwipst.
Plötzlich fand ich mich in irgendwelchen Gängen der Diskothek wieder, wo es leiser als im Bereich der Tanzfläche war. Ich sprach wildfremde Leute an, ob sie einen “Roman” kennen würden, betrunken sagte ich, “einen großen”. Im Nachhinein muss ich darüber lachen. Doch immer wieder dieses Kopfschütteln. Und so langsam glaubte ich selbst nicht mehr daran, ihn noch jemals zu sehen. Vielleicht in dreißig Jahren, rein zufällig, wenn das Leben vorbei ist.
Meine eher nüchtern wirkende Freundin rief dann noch ein Taxi, das wir uns teilten. Zuhause angekommen fiel ich auf mein Bett und schlief sofort ein. Mitten in der Nacht erwachte ich nach einem tiefen und traumlosen Schlaf plötzlich, Roman ging mir wie ein Blitz durch den Kopf. Als ob wenigstens die Phantasiewelt zu ihrem Recht kommen sollte. Danach schlief ich sofort wieder ein.
Ein großer “Roman” ist mir nie mehr begegnet, ich habe die Hoffnung aufgegeben, ihn zu sehen.
JM
* * *
Kleines und großes Business
Wie schon so oft zuvor stand in einer anderen Stadt ein Meeting an. Mein Geschäftspartner wollte mich am Bahnhof abholen. Ich kam pünktlich an. Meinen neuen Partner suchte ich vergeblich. Ich hatte keine Lust, auf ihn zu warten, weshalb ich am Bahnhofsvorplatz in das nächste Taxi einstieg.
Der Fahrer war sehr beredsam, wie die meisten Taxifahrer. Reden? Wie so oft wurde mir einschmeichelnd ein Gesprächsthema aufgezwungen. Ich hatte aber keine Lust auf pseudointellektuelles Gequatsche, auf ein Immer-überall-mitreden-Wollen auf Basis eines Immer-und-zu-jeder-Zeit-und-an-jedem-Ort-Informiertseins.
Ich sehnte mich in den Zug zurück. Die heutige Anonymität beim Zugfahren hat doch auch etwas. In den üblichen Großraumwagen finden Gespräche zwischen einander Unbekannten kaum noch statt. Man sitzt wie auf einem Präsentierteller, in aller Öffentlichkeit. Früher gab es in jedem Waggon Abteile. Ich kann mich an stundenlange interessante Unterhaltungen mit wildfremden Menschen erinnern. Alles hat seine Vor- und Nachteile.
In diesem Taxi kommen mir die Minuten wie Stunden vor. Ich wünschte mich schon am Ziel, aber wie auch einige Male zuvor hatte ich den Eindruck, dass der Fahrer nicht den kürzesten und schnellsten Weg zum Ziel nimmt. Vielleicht weil er noch reden wollte und mich als würdigen Gesprächspartner ansah. Ich kenne die Statistiken von Taxifahrern über beliebte oder ungebetene Fahrgäste nicht. Aber offensichtlich gehörte ich zur ersten Gruppe. Jede Ampel musste durch absichtlich verzögertes Fahren mitgenommen werden. Meine Uhr lief und lief und ich musste noch am selben Tag mit dem Zug zurück.
Höflich gebärdete ich mich interessiert. “Ja”, sagte ich, als er abwechslungshalber auf das gestrige Fußballspiel zu sprechen kam, “das war ein Spiel gestern, und die Chancen, die da vergeben wurden”. Doch innerlich kochte meine Unzufriedenheit weiter. Früher rauchte ich in solchen Situationen, um mich der peinlichen Selbstpräsentation geborener Dilettanten ein wenig zu entziehen. Heutzutage darf in Taxen per se nicht mehr geraucht werden. Schade.
Dieses Sitzleder muss ihn irgendwie aufgeilen. Wenn er wenigstens noch schalten müsste, hätte er mehr zu tun und würde wenigstens mal die Fresse halten. Ich will doch nur schnell mein Business machen. In einer Table Dance Bar kann ich wenigstens noch rauchen, aber dieser Table Dance hier, während der Fahrt durch die Stadt, sollte doch, so hoffte ich wenigstens, bald ein Ende haben. Beim nächsten Mal sehe ich zu, dass ich in einen großen Transporter komme. Dann setz’ ich mich in die letzte Reihe. Am schlimmsten sind die, die sich für unerkannte Genies halten. Konservierte Studienabbrecherpubertät. Wenn der nicht gleich Gas gibt und die Fresse hält, reiße ich die Tür auf, leg’ den Zehner auf die Ablage und geh’.
Es war dann schließlich soweit. Vor der zehnten Ampel riss mir der Geduldsfaden. Ich legte den Zehner auf die Ablage, riss die Tür auf und ging.
Es war nicht mehr weit zur Firmenadresse meines Geschäftspartners. Es war ein langes Meeting und während der Besprechung ging mir die Frage nicht aus dem Kopf, ob ich den letzten Zug überhaupt noch mitbekommen würde. Nach dem Meeting überlegte ich, ob ich ihn überhaupt noch nehmen sollte, oder ob ich nicht besser in einem Hotel übernachten sollte, um morgen früh dann mit dem ersten Zug zu fahren. Außerdem wollte ich auch noch etwas essen, ich hatte schon den ganzen Tag Hunger, in der Meetingpause gab es nur Häppchen. Auch ein kühles Bier könnte ich nun vertragen.
Plötzlich erwachte ich. Ich war auf einem Stuhl festgebunden, in einem dunklen Kellerraum. Meine Arme waren auf dem Rücken durch Handschellen fixiert. Ein großes Klebeband war auf meinen Mund geklebt, ich konnte nur noch durch die Nase atmen. Ich hatte Todesangst.
Durch das Kellerfenster drang ein bisschen Licht. Ich konnte mich an nichts mehr erinnern. Hatte ich einen Unfall? Und wann und wo?
Ich saß in diesem Keller wie in einer Falle. An einer Wand entdeckte ich einen großen Lautsprecher. Plötzlich ertönte er: “Auch Schulbildung war nur eine Falle.” Es war eine durch einen Computer verfremdete Männerstimme, mit energischem dunklen Klang.
Was soll das jetzt? Will mir jemand etwas sagen? Will mich jemand foltern?
Wieder ertönte es nach einer kurzen Pause: “Das bisschen Bildung, das zu mir durchgedrungen war, hatte mich nur noch misstrauischer gemacht.” Wen meint er damit, sich selbst? Oder mich? Was hat dieser Keller und diese Situation mit meiner Bildung zu tun?
“Was waren denn Ärzte, Anwälte, Wissenschaftler?”
Wird es jetzt ernst? – Die Stimme spricht von “waren”. Ist das nun mein letztes Stündlein, meine letzte Minute?
“Doch auch nur Menschen, die sich die Freiheit nehmen ließen, selbständig zu denken und zu handeln.”
In Freiheit wäre ich nun gern. Geht es vielleicht doch noch weiter mit meinem Leben? Was hat das alles mit mir zu tun? Vollzieht da jemand ein Tribunal über mich? Habe ich irgendjemandem etwas getan? Ich kann mich nicht erinnern.
“Bach hatte zwanzig Kinder.”
Irgendetwas muss dieser Typ, der mir das antut, über mich wissen. Ich mag Bach, ich sterbe bei seiner Musik. Die nun ertönte.
“Tagsüber hat er auf Pferde gewettet.”
Das wusste ich gar nicht, ich dachte immer, er hätte sich voll und ganz seiner Musik gewidmet, und dies vierundzwanzig Stunden am Tag.
“Nachts hat er gefickt.”
Nein, Hilfe, was für ein Typ ist das, der mir das über einen Lautsprecher vorspielt? Ein perverser Lüstling? Ich hab’ neulich in der Zeitung von einer Mordserie gelesen, eines der Opfer wurde entstellt in einem Keller gefunden.
“Und am Vormittag gesoffen.”
Ich könnte mir vorstellen, dass dieser Typ, der mir das antut, auch säuft. Na prost Mahlzeit, sagte ich zu mir selbst. Und wunderte mich über mich selbst, über diesen Anflug von Humor, selbst in einer solchen Situation. Ich würde jetzt auch gern etwas trinken, möglichst etwas Alkoholisches, dann würde ich diese Situation vielleicht besser ertragen. Ich habe eine tierische Angst. Oder eine Zigarette rauchen! – Was würde ich jetzt dafür geben!
“Komponiert hat er zwischendurch.”
Es ertönte wieder Musik von Bach, diesmal ein Orgelkonzert mit Bachschen Fugen. Die Musik passte zu dem dunklen Kellergewölbe, in dem ich mich befand. Ich fühlte mich wie auf meiner eigenen Beerdigung.
“Du machst es, wie Du eine Fliege killst.”
Und wieder diese Todesangst. Mein Gott, wann hört das endlich auf? Wenn ich wenigstens das Gesicht meines Peinigers sehen könnte!
“Mit links.”
Ich schloss die Augen. Und wartete. Wo gehe ich jetzt hin? Gibt es ein Leben nach dem Tod?
“Liebe ist eine Art Vorurteil.”
Oh Gott sei dank, es geht doch noch weiter!
“Ich hab schon genug andere Vorurteile.”
Scheisse, er mag mich doch nicht! Jetzt bringt er mich doch noch zur Strecke! Mensch, was hab’ ich ihm bloß getan? Ich kann mich an nichts erinnern. Hatte ich gestern abend eine Schlägerei mit jemandem auf der Straße? Wo war ich denn gestern? Oder erst vor ein paar Stunden? Ich habe einen totalen Blackout. Mir muss jemand von hinten etwas über die Rübe gehauen haben. Vielleicht mit einem Baseballschläger, bestimmt so ein Jugendlicher, ich meine, einen mit einer Baseballmütze gesehen zu haben.
“Wenn ich nur dieses Gesicht kämmen könnte.”
Jetzt wird’s ernst, gleich kommt der Typ rein und streicht mir mit einem Rasiermesser durch’s Gesicht. Wenn ich mich doch damals beim Bund für die Einzelkämpferausbildung freiwillig gemeldet hätte, könnte ich das hier nun vielleicht besser durchstehen. Dort wurden auch Foltersituationen trainiert.
“Wenn eine heiße Frau auf einen Einsiedler trifft.”
Werde ich gar nicht von meinem Mann gequält, sondern von einer Frau?
“Muss sich einer ändern.”
An dieser scheiss Situation muss sich auch bald etwas ändern! Ich hatte Wut im Bauch und kippte mich einfach nach hinten. Der Stuhl brach entzwei, aber glücklicherweise hab’ ich mir nicht den Kopf gestossen, auch sonst ist mir nichts passiert. Ich konnte aufstehen, auch wenn meine Hände immer noch durch die Handschellen gehandicapt waren. Ich schob mit beiden Beinen einen Tisch vor das Kellerfenster, legte mich auf ihn, schließlich auf meinen Rücken, und trat mit aller Kraft mit beiden Beinen gegen das Metallgitter. Es flog sofort heraus. Dann bückte ich mich auf dem Tisch in Richtung Fenster und stoss mich in einem Sprung vom Tisch ab, der infolgedessen umkippte. Ich landete mit meinem Oberkörper auf einem Bürgersteig vor dem Kellerfenster. Es war Nacht. Mit letzten Kräften zog ich meine Beine aus dem Kellerfenster. Ich befand mich in einer Stadt, einer ziemlich dicht besiedelten Gegend.
Vor dem Bordstein stand ein Taxi. Jetzt fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich bin auf einer Geschäftsreise und hab’ gestern abend allein extrem einen in einer Kneipe über den Durst getrunken. Der Wirt hat von sich aus ein Taxi gerufen, was mich irgendwo verärgert hat. Ich hab’ mich aber letztlich damit abgefunden, da mir mein Zustand selbst auffiel.
Der Taxifahrer stützte mich ab und führte mich aus der Kneipe geradewegs zum Taxi. Ich wollte mich gerade hineinsetzen, da sagte er laut: “Stop!”. Auf dem Beifahrersitz lag ein Buch. Er legte es hastig zur Seite. Ich fragte, was es denn für ein Buch sei und was er denn so lese. Er nannte mir mit einem gewissen Stolz den Autor des Buches. Ich kannte ihn entfernt. “Ach der”, sagte ich, “der war beim Schreiben immer so besoffen wie jetzt ich”. “Konnte der überhaupt schreiben, wenn er hauptsächlich gesoffen hat?”, fragte ich. Das war das Letzte, an das ich mich erinnern konnte.
JM
* * *
Das Ende einer Nachbarschaft
Jede gute Nachbarschaft ist irgendwann einmal vorbei.
Nach der Arbeit zuhause angekommen hielt ich vor der Garage. In letzter Zeit hörte mein Nachbar oft laute Musik, er war fortgeschrittenen Alters und stand auf Volksmusik. Eine Reihenhaussiedlung ist doch nicht so das wahre, man hängt sich zu sehr auf der Pelle. Ein frei stehendes Haus mit großem Abstand zu den Nachbarhäusern wäre nicht schlecht. Aber das ist natürlich finanziell gesehen eine andere Hausnummer.
Es war Sommer und er saß auf der Terasse in einem Gartenstuhl. Trotz der lauten Musik, ich hätte ihn umbringen können, da ich einen extrem stressigen Bürotag hinter mir hatte und mich nun im Garten entspannen wollte, überredete ich mich zu einem “Hallo Hans”. Wahrscheinlich hatte er es nicht gehört.
Ich fuhr den Wagen in die Garage, schloss die Garagentür und grüßte noch einmal, diesmal lauter: “Hallo Hans”. Wieder gab es keine Antwort. Irgendetwas stimmt da nicht. Ich schaute zu ihm, er saß unnatürlich steif auf seinem Stuhl. Ich ging auf ihn zu und ein innerer Automatismus ließ mich seinen Vornamen rufen: “Hans!”. Jetzt wurde mir klar, dass er tot war. Seine Haut hatte einen unnatürlich wirkenden gelblichen Ton, den ich noch nie gesehen hatte, seine Augen waren halb geöffnet, es sah aus, als ob sie in die Ferne schweifen. Sein Gesicht, über das langsam eine Fliege lief, machte einen nachdenklichen Eindruck, aber auch wieder nicht.
Wir sind ja wirklich nur Körper, dachte ich mir schlagartig, und war erschüttert. Wo ist die Sprache, wo ist das Lächeln, wo die Persönlichkeit? Mit einem Schlag war alles weg, für immer. Es war wie eine Konfrontation mit der Wahrheit. Traurig stimmte mich zu diesem Zeitpunkt nicht sein Tod, sondern diese Wahrheit, die mir in alle Glieder fuhr. Während einer Sekunde war ich wie gelähmt.
Als ob ich diesem Anblick, der mich gefangen hielt, entfliehen musste, drehte ich mich um. Fast schämte ich mich dafür, ihn so lang angeschaut zu haben. Auch dies war ein Grund dafür, dass ich aus dieser Situation des versunkenen Schauens heraus musste. Es war fast so, als ob der Tod etwas Ansteckendes sein könnte und diese Krankheit irgendwie von mir Besitz ergreifen konnte. Ich musste auf die Straße rennen. Im Hintergrund lief die Volksmusik weiter. Es war eine absurde Szenerie: Da ist jemand gestorben und sitzt tot im Gartenstuhl und im Radio läuft lustige Volksmusik weiter.
Zufälligerweise standen Nachbarn in einiger Entfernung und unterhielten sich miteinander. Ich lief auf sie zu und sagte ihnen, dass Hans tot ist. Ein Nachbar ging mit mir zu ihm, er nickte. Ich hatte ein Handy dabei und rief den Notruf. Es kam keine Verbindung zustande. Der Nachbar lief in sein Haus und erledigte den Anruf.
Als der Krankenwagen eintraf führte ich die Notärzte zu ihm, sie erkannten, dass er schon seit einigen Stunden tot war. Eine Notärztin schlug die Arme über den Kopf, als ob sie so etwas trotz ihrer Berufserfahrung noch nie gesehen hat. Wahrscheinlich hatte er einen Herzinfarkt.
Kurz darauf kam die Polizei. Ein Polizist stellte mir routinemäßig ein paar Fragen, die mich ein wenig verwunderten. Prüfen die wirklich, ob ich was damit zu tun habe? Das müssen sie wohl, das ist ihr Job. Der Beamte gab mir jedoch recht schnell glaubhaft den Eindruck, dass es sich hier um einen Routinefall handelt.
Die ganze Zeit über lief die Musik im Hintergrund weiter. “Stell’ doch endlich mal jemand diese Musik ab!”, rief ein Polizist. Ein anderer ging in die Wohnung und schaltete das Radio schließlich aus.
Ein Notarzt legte ein weißes Tuch über ihn. Sie sagten mir, dass bald ein anderes Fahrzeug kommen und ihn mitnehmen werde. Krankenwagen und Polizei verschwanden daraufhin.
Schleunigst ging ich in mein Haus, es war mir unheimlich, mich auf der Terrasse oder im Garten aufzuhalten. Durch das Badezimmer sah ich, dass das weiße Tuch heruntergerutscht war. Auch saß er nicht mehr aufrecht, sondern ist auf die Seite gerutscht, sein Kopf hing zur Seite. Es sah aus, als ob er sich nun selbst mit seinem Tod abgefunden und ihn als letztgültig akzeptiert hat. Es dauerte noch eine Stunde, bis er abgeholt wurde. Ist das normal, dachte ich mir? Jemanden, der einen Toten gefunden hat, noch eine Stunde lang mit ihm allein zu lassen? Wahrscheinlich hatte der mich interviewende Polizist nicht von mir den Eindruck, dass ich psychisch labil bin. Er hätte wahrscheinlich einen Notfallseelsorger rufen können. Man findet ja nicht alle Tage einen Toten. Dann erinnerte ich mich, dass er mich ja auch fragte, ob ich Hilfe brauche, was ich schnell verneinte.
Als der Nachbar schließlich weg war, kam mir die Stille unheimlich vor. Erst jetzt erinnerte ich mich an bestimmte Situationen, in denen er mir auf eine menschliche Art und Weise begegnete. Schlagartig fielen mir sehr positive Situationen ein, in denen er sehr hilfsbereit und freundlich war. Alles in allem, war er ein guter Mensch, dachte ich mir, wobei ich Tränen in den Augen hatte. Ich hätte nicht gedacht, dass ich einmal über meinen Nachbarn Tränen vergießen würde. Aber diese Tränen galten nicht nur ihm, sondern mir selbst, denn mir wurde die Endlichkeit meines eigenen Daseins bewusst.
JM
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Was ist Kunst?
Da ging in einem Muu-see-um
mal eine fleiß’ge Muse um,
den Lohn wollt’ niemand recht berappen,
dennoch recht eifrig mit dem Lappen,
wischt sie hier und da den Dreck,
– und plötzlich war das Kunstwerk weg …
Wenn die Putzfrau eines Museums an einem Kunstwerk putzt, so kann dies in einigen Fällen erlaubt sein, man denke etwa an eine Skulptur aus Marmor. In anderen Fällen, wahrscheinlich sogar den meisten, kann es das Kunstwerk zerstören.
Was bewegt eine Reinigungskraft dazu, an einem Kunstwerk tätig zu werden? Entweder gibt es eine Direktive seitens der Museumsleitung, die das Putzen an bestimmten Kunstwerken in Ausnahmefällen erlaubt, oder es gibt eine Anweisung, dies bei allen oder zumindest bestimmten Kunstwerken zu unterlassen.
Wann ist das Putzen an Kunstwerken in Museumsräumen, so Reingungskräfte vorhanden sind, die die Direktiven der Museumsleitung nicht kennen, nicht verstanden haben oder sich nicht für sie interessieren, am wahrscheinlichsten? Naheliegenderweise in dem Fall, wenn Kunstwerke dreckig aussehen, sonst bräuchten sie ja nicht geputzt werden, wenn sie denn in Ausnahmefällen geputzt werden dürfen.
Wann sehen Kunstwerke dreckig aus? Offenbar, wenn sie tatsächlich dreckig sind, oder wenn der Dreck immanenter Bestandteil des Kunstwerkes ist, sozusagen gewollter Dreck seitens des Künstlers. Es gibt solche Kunstwerke und es gab Fälle, bei denen genau solche Kunstwerke geputzt wurden, wobei das Putzen einem Zerstören des Kunstwerkes gleichkam. Nicht auszudenken ist der Ärger auf Seiten der Leihgeber des Kunstwerkes und besonders der Aussteller, die das Kunstwerk als Leihgabe in die Obhut ihres Museumsbetriebes nahmen und deren Ruf nun ebenfalls, wie das Kunstwerk selbst, zerstört ist. Hätten sie nicht klare Direktiven an den Reingungsdienst geben müssen? Hat das Reinigungsunternehmen die Anweisungen des Museums seinerseits nicht richtig an die Reinigungskräfte weitergegeben? Liegt hier nicht eine mangelnde Organisation vor? Kann man einem solchen Museum überhaupt noch etwas leihen? Muss in Museumsräumen überhaupt geputzt werden?
Zurück zu der Frage: Was ist Kunst? Zu allen Zeiten, und besonders in modernen Zeiten, wurde nach Kriterien dafür gesucht, was Kunst sei. Eine moderne Haltung ist die, dass alles Kunst sei. Dies meinten sogar manche Künstler, sogar solche, deren Kunstwerke durch Putzen zerstört wurden.
Der Kunstmarkt sagt: Es ist nicht alles Kunst, es gibt wertvolle Kunst und es gibt weniger wertvolle Kunst, oder gar wertlose Kunst. Man kann letztere zwar immer noch Kunst nennen, aber welche Bedeutung sollte sie auf dem Kunstmarkt haben? Der Kunstmarkt, der die Kunstwerke von Künstlern vermarktet, die alles für Kunst halten, interessiert sich offenbar nicht für die Aussagen vieler Künstler, die er vermarktet.
Vielleicht gibt es eine Lösung aus dem ganzen Dilemma: Kunst ist das, was sich in irgendeiner Weise vom Alltag absetzt, ein Werk, das auffällt und nicht für einen Alltagsgegenstand, wie zum Beispiel Dreck, gehalten wird. Der alltäglichste Gegenstand, den man sich vorstellen kann, ist offenbar Dreck. Was sollte es Alltäglicheres geben?
Also muss man feststellen, dass sich Kunstwerke, die Dreck enthalten, nicht, zumindest nicht vollständig, von Alltagsgegenständen abheben. Die Putzfrau hat aus ihrem Alltagsverständnis heraus Teile des Kunstwerkes für Dreck gehalten. Waren sie das nicht auch? War es nicht die Intention des Künstlers, echten Dreck zu einem Bestandteil seines Kunstwerkes zu machen? Oder war es ihm wichtig, dass es sich um artifiziellen Dreck handelt? Ist uns das Alltagsverständnis von Menschen nicht wichtig? Ist uns ein artifizielles Umdrehen von Alltagsgegenständen seitens einer allwissenden Kunst wichtiger?
So sehr die moderne Kunst Alltagsgegenstände in ihrer Bedeutung herausstellen will, das Gegenteil erreicht sie, sie hat sich von der Alltagswelt des einfachen Kunstkonsumenten entfernt. Für wen wird Kunst gemacht? Für alltagsferne Menschen, vielleicht für betuchte Konsumenten internationaler Kunstmärkte, denen einmal wieder die Bedeutung von Alltagsgegenständen wie Dreck nähergebracht werden muss?
Auf der anderen Seite könnte man aber auch sagen, dass das Kunstwerk durch das Putzen und seine partielle Zerstörung erst zu seiner wahren Vollendung gekommen ist. Die Intention einen Alltagsgegenstand zu exponieren, hat ihr Ziel in der Alltagswelt selbst erreicht. Was kann ein Künstler mehr erlangen als die absolute Akzeptanz seines Kunstwerks in der Alltagswelt?
Vielleicht sollten Museumsräume permanent gefilmt werden. Der Akt des Putzens könnte dann im Nachhinein zum Kunstwerk selbst zählen. In Kunstwerken könnten sich potenziell zu vollendende Handlungen verbergen, die von seiten des Kunstkonsumenten vollzogen werden müssten.
Offenbar gibt es die Möglichkeit einer Kollision zwischen Kunst- und Alltagswelt, ihre mögliche Überschneidung, im positiven, aber auch im negativen Sinne. Sie kann gewollt sein, bei Projekten von Künstlern, die ihre Kunst unter die Leute, gerade auch unter die einfachen Leute auf der Straße, bringen wollen. Sie kann aber auch unbeabsichtigt sein, wie im vorliegenden Fall der Putzfrau, die eine Installation des Künstlers unwiederbringlich zerstörte.
Natürlich kann und muss man von der Zerstörung eines Kunstwerkes sprechen. Aber muss man nicht auch noch von einer weiteren Zerstörung sprechen? Und zwar von derjenigen eines Freiraums in einer Alltagswelt, in diesem Falle des Freiraums der Alltagswelt der Putzfrau. Zwar ist der Ort des Geschehens ein offizieller, einer für die Kunst reservierter, aber dieser Ort ist nicht Kunstort an sich, sondern auch noch Alltagsort. Ist die Zerstörung eines Kunstwerkes oder eines Teiles eines Kunstwerkes nicht dort wahrscheinlicher, wo das Kunstwerk Platz in Alltagsräumen beansprucht, noch dazu in Räumen, die von seiten der Kunst, der Künstler, der Kunstorganisatoren und -vermarkter noch nicht einmal als Alltagsräume erkannt werden? Es ist, wie wenn jemand einen Zaun errichtet und die Welt innerhalb des Zauns zur ganzen Welt erklärt, und die Welt jenseits des Zaunes, die eigentlich kontinuierlich in seine Innenwelt übergeht, ignoriert.
Die Frage nach der Kunst, was sie sei, ist auch eine gesellschaftliche Frage. Sie zeigt sich besonders bei solchen negativen Ereignissen, die im philosophischen Sinne aber wiederum etwas Positives an sich haben, indem sie der Ausgangspunkt für eine Reflexion sind, nicht nur über die Kunst, sondern auch über die Gesellschaft selbst. Nur die positiven Momente der Kunst zeigen uns nicht wirklich, was Kunst ist, allenfalls zeigen sie uns die Vielfalt der Kunst, das weite Spektrum ihrer Möglichkeiten. Gerade die Momente, in denen die Welt der Kunst mit der Welt des Alltags im negativen Sinne kollidiert, zeigen uns, was Kunst ist und was Alltag ist.
Die Vorfälle zeigen zudem, dass Formen von Kunst, die für solche Geschehnisse anfällig sind, nicht richtig beim sogenannten “einfachen Volk” ankommen. Aus einem einfachen möglichen Grund: Es hat offenbar andere Sorgen als die abstrakt-kritische Botschaft einer modernen Installation zu dechiffrieren.
Ein weiterer Grund für diese ärgerlichen Vorkommnisse für die etablierte Kunstwelt wäre natürlich auch die mangelnde Bildung über Kunst, eine fehlende Allgemeinbildung, eine unzureichende Verankerung der Kunst und vor allen Dingen der modernen Kunst in ihr. Es wäre somit nötig, den Stellenwert moderner Kunst im Gefüge der Kultur herauszuarbeiten, wobei mit Kultur nicht nur Artefakte im Sinne der Kunst, sondern gerade auch mögliches Wissen, das durch Kunst repräsentiert sein könnte, gemeint ist.
Es gibt offenbar eine Grundsubstanz des Alltags, die sich auch durch die Kunst nicht beeinflussen lässt und die für sich bestehen bleibt. Diese Grundsubstanz hat sich bei dem Beispiel, um das es geht, als Teil der Alltagswelt, des Alltagsraumes der Arbeit, im konkreten Fall der Arbeit einer Putzfrau, gezeigt.
Die Teile des Alltags, die durch Kunst beeinflussbar sind, sind offenbar nur solche der Freizeit oder des Luxus. Ein Künstler sucht eine Fußgängerzone am Samstag vormittag auf und versucht Kunst, in welcher Form auch immer, ob professionell oder schaustellerisch, unter die Leute zu bringen. Es handelt sich hier also um eine ziemlich behütete Form des Alltags, will sagen: Der Künstler erreicht gar nicht den Alltag des Alltagsmenschen, der etwa durch Arbeit wesentlich geprägt ist. Ich habe noch keinen Künstler gesehen, der Menschen bei ihrer Arbeit besucht, hier gibt es enorme praktische Probleme, wie das Verständnis des Arbeitgebers. Das Bild, das der Künstler von Kunst an sich hat, ist doch in der Regel ein so Positives, dass er irgendwo befangen ist und über Kunst nicht richtig reflektieren kann.
Die wirkliche Rezeption von Kunst findet offenbar nicht in der hektischen Alltagswelt, sondern in einer von der Alltagswelt abgeschotteten und behüteten Kunstinterpretationswelt statt, einer Welt der Muße, in der ein besonnener Zuschauer zum wahren Verständnis eines Kunstwerkes gelangt. Das Problem ist, dass wir diese Räume der Muße, auf die eigentlich jeder ein Recht haben sollte, nicht jedem zur Verfügung stellen wollen oder können, oder dass wir die einfachen Menschen nicht erreichen, um sie darauf aufmerksam zu machen, dass es solche Räume der Muße überhaupt gibt. Vielleicht sind auch die nichtkünstlerischen Medien ein Hemmschuh, die Massenmedien, die nun einmal den größten Draht zu den meisten einfachen Gemütern haben.
Der Künstler muss daran erinnert werden, dass sich seine Kunst in einem nichtkünstlerischen Kontext bewegt, in Welten, die durch die Natur- und Sozialwissenschaften beschrieben werden. Er kann nicht verhindern, dass sein Werk verändert wird und in einen neuen, eventuell ganz anderen Kontext gestellt wird. Es kann auch sein, dass sein Werk dann gar nicht mehr Kunstwerk ist, sondern etwas anderes. Zum Beispiel könnte bei einem Krieg ein großes Bild mit einem dicken Rahmen als Trage für Verletzte fungieren. Das ursprüngliche Kunstwerk würde in diesem Kontext unter Umständen sogar noch einen größeren Sinn erfüllen als in seinem ursprünglichen, rein künstlerischen. Es könnte Leben retten.
Vielleicht sollte man darüber nachdenken, ob es nicht sinnvoll ist, dass ein Künstler, soweit dies möglich ist, die “richtige” oder zumindest alle möglichen sinnvollen Rezeptionen seines Werkes veröffentlicht, im Sinne seiner Erhaltung, letztlich im Sinne der Erhaltung der Kultur. Das Kunstwerk selbst lässt sich unter Umständen nicht erhalten, wohl aber die Information über das Werk, einschließlich seiner Rezeptions- und Interpretationsmöglichkeiten. Eine Gesellschaft, in der Kunst nur von Eliten verstanden werden kann, bleibt als Elitegesellschaft elitär.
Ein ähnlich katastrophaler Fall der Kollision zwischen Kunst- und Alltagswelt könnte auch bei der Kunstform Musik vorliegen. In einem Museum gebe es ein Konzert, die Musik hört sich an einer bestimmten Stelle an als ob Wind durch eine Fensterspalte pfeift. Eine Putzfrau hört in einem Nebenraum die Musik, die für sie aber nur ein Geräusch ist. Sie denkt sich, dass da nebenan jemand vergessen hat, das Fenster zu schließen, und dass es windig ist. Sie öffnet die Tür, die Tür macht beim Öffnen einen lauten Knall – das Konzert ist zerstört, es befand sich gerade an einer ganz entscheidenden Stelle. Musiker sind aus aller Welt extra für die Premiere angereist. Es hat alles sehr viel Geld gekostet, das zu organisieren. Auch eine Liveaufnahme wurde gemacht. Die Putzfrau hatte vergessen, dass die Schicht heute ausfällt.
Das Schöne an der Musik als Kunstform ist nun, dass das Konzert prinzipiell wiederholt werden kann. Die Musiker könnten sich mit Humor sagen, gut, machen wir es noch mal, von Anfang an. Natürlich wären sie vielleicht verärgert, aber warum nicht noch mal anfangen? Bei unserem Ursprungsbeispiel ist der Künstler gar nicht anwesend, schlimmer: Er ist schon lange verstorben. Das Kunstwerk ist etwas Starres, etwas, das sich nicht wiederholen lässt. Es beansprucht für sich Raum für alle Ewigkeit.
Ein Gedankenexperiment: Angenommen, es gebe auf einem hypothetischen Planeten sehr sehr viele Künstler, die sehr sehr viel Kunst machen, sehr viele Bilder malen, sehr viele Skuplturen erschaffen, sehr viele Installationen kreieren. Es wäre irgendwann keine Ausstellungsfläche mehr vorhanden, es würde eine Konkurrenz geben, wer wann wo etwas hinstellen darf. Was tun? Das Recht Kunst zu produzieren, müsste eingeschränkt werden, vielleicht müssten sogar Kunstwerke zerstört werden, wenn Künstler mit Gewalt versuchten ihre Objekte irgendwo aufzustellen. Das Aufstellen von Kunstwerken würde Ressourcen benötigen und es würde zu einem Konflikt mit anderen Bedürfnissen kommen, vielleicht grundlegenden Bedürfnissen, die befriedigt werden müssen. Flächen könnten ja auch als Austragungsorte für Sportveranstaltungen benötigt werden, oder für Krankenhäuser. In einem konkreten Fall müsste entschieden werden, ob an einem bestimmten Ort ein Krankenhaus gebaut werden darf, das gebaut werden muss, da es zuwenig Krankenhäuser gibt. Man wäre dann in einer Situation, dass es keinesfalls so ist, dass ein Künstler für alle Ewigkeit für seine Kunstwerke Raum beanspruchen darf. Es wäre eine Gesellschaft der Zukunft denkbar, die sich, vielleicht notgedrungen, darauf verständigt, dass Kunst etwas ist, was auf materiellen Datenträgern zu speichern ist, aber keinesfalls realen Raum für sich beanspruchen darf.
Eine weitere interessante Frage hinsichtlich der Kunst und insbesondere mit Blick auf das Verhältnis von Kunst und Natur, ist die, ob man sich in der Natur – oder besser gesagt: in der mittlerweile berührten Natur, unberührte Natur gibt es ja nicht mehr – den Anblick eines Kunstwerkes, das Naturraum für sich beansprucht, aufnötigen lassen muss.
Das Objekt strahlt aus, negativ formuliert, vergewaltigt es einige tausend Quadratmeter seiner Umgebung, es transformiert Natur- in Kunstraum. Man muss Kunst nicht immer positiv sehen, vielleicht tun das Künstler, aber sie sollten ihre eigene Haltung nicht verallgemeinern. Viele Kunst kommt mir in diesem Sinne wie eine Form von Nötigung vor.
Neuerdings gibt es Kunstwerke an Wanderwegen. Schön und gut, es ist eigentlich eine originelle Idee. Der Wanderer kann an bestimmten Stellen des Weges innehalten und wird mit einem Kunstwerk konfrontiert. Muss man das mögen? Wenn ich wandern gehe, will ich vor allem eines: In der Natur entspannen, ich will mit Objekten der Natur konfrontiert werden, und nicht mit artifiziellen Objekten, die mich an die Welt erinnern, der ich gerade zu entfliehen suche. Zwar ist meine Alltagswelt nicht von Kunst geprägt, aber die Tatsache, dass ich mit einem von Menschen geschaffenen Objekt konfrontiert werde, erinnert mich gerade an meine Alltagswelt, von der ich mich in der Natur entspannen will. Der Freiraum, den ich ganz bewusst gesucht habe, wird mir durch die Kunst genommen, das Naturerlebnis wird getrübt. Natürlich kann ich einen inneren Schalter betätigen, der da sagt, gut, nun gehe weiter, das war jetzt ein Kunstwerk, jetzt kommt wieder Natur. Aber ich will keinen Schalter. Ich kann das Kunstwerk für sich genommen interessant, vielleicht sogar schön finden, aber mir wird der Kontext, in den ich mich absichtlich und ganz bewusst hinein bewegt habe, kaputt gemacht.
Die Frage, wie viele Menschen einfach nur Natur wollen und wie viele Menschen eine Kombination von Natur und Kunst wollen, wird in der Gesellschaft erst gar nicht gestellt. Es wird einfach angenommen, dass Kunst per se interessant sei, auch in Natur, vielleicht gerade in Natur. Auch dies mag sein, Kunst kann gerade in Natur interessant sein, aber dies ist nicht das, was ich in der Natur suche oder was ich in ihr will. Wenn ich das will, muss ich offenbar woanders hin, zum Beispiel in entlegene Regionen Finnlands, wo es nicht so viele Kultur- und Kunstorganisatoren gibt. Die Grundannahme, dass Kunst etwas ist, dass grundsätzlich überall einfach so hingestellt werden kann, ist infrage zu stellen. Es kann durchaus sein, dass ich mich in meiner Wahrnehmung vergewaltigt fühle, wenn ich in einem Wald ein Kunstwerk sehe.
Die Grundannahme der selbstverständlichen Präferenz des Menschen für die Kunst ist im übrigen eine sehr anthropozentrische, die den Menschen mit seiner Kunst in den Mittelpunkt des Geschehens setzt. Ich will in der Natur aber Natur und nicht menschliche Kultur. Wenn ich letztere wollte, könnte ich gleich in der Stadt bleiben. Ich kann mich der Kultur nicht entziehen, obwohl ich mich ihr entziehen will, ich werde durch Kunstverehrer im wahrsten Sinne des Wortes verfolgt.
Es ist nicht lediglich ein politisches Thema, es ist auch ein Thema der augenblicklichen Verfasstheit der Menschen hinsichtlich des Wertes von Natur und Kunst und insbesondere hinsichtlich des Verhältnisses der Werte von Natur und Kunst. Und da ist es offenbar so, dass das Aufstellen von Kunstwerken in der Natur nicht besonders hinterfragt wird. Die gute Absicht, die ja durchaus eine gute ist, einen “besonderen Ort” zu schaffen, steht am Anfang. Und sie wird umgesetzt und gute Absichten werden gewöhnlich nicht mehr hinterfragt.
Die Kunst hat nicht nur eine, vielbeklagte, Alltagsferne, sondern wie sich am Ausgangsbeispiel gezeigt hat, auch manchmal eine zu große Alltagsnähe. Im konkreten Fall kollidierte der Kunstraum des Kunstobjektes mit dem Alltagsraum der Putzfrau, wobei auf die Existenz des Alltagsraumes der Putzfrau, bei aller Liebe für die Kunst, nüchtern hingewiesen werden muss. Die Alltagsferne der Kunst liegt also darin begründet, dass sie nicht registriert, dass ihre Räume sich mit Alltagsräumen so stark überschneiden können, dass eine Gefahr für das Kunstwerk selbst gegeben ist. Alltagsferne schlägt plötzlich in Alltagsnähe um.
Die Ausgangsfrage ergab sich aufgrund eines besonderen Vorfalles, eines besonderen Ereignisses. Durch die Vielfalt der Kunst erschließt sich kein Weg, diese Frage phänomenologisch zu beantworten. Alles ist gut. Nun ist einmal etwas schlecht, etwas, das die Kunst existenziell betrifft. Dies war der Ausgangspunkt, die Frage nach dem, was Kunst sei, noch einmal zu stellen.
Die Abstraktheit der modernen bildenden Kunst hat sich in einem konkret Fall in der Realität niedergeschlagen. Kunstwerke können so abstrakt wirken, dass sie von der Realität nicht mehr zu unterscheiden sind. Dieses Umschlagen von Abstraktheit in Realität ist faszinierend.
Was ist die Bedeutung der Kunst im Gesamtgefüge dieser ganzheitlichen Welt? Was ist Kunst wirklich? Ist sie nicht auch eine Rebellion gegen die Naturgesetze, eine Rebellion gegen eine geordnete Welt, eine Ordnung, die Naturwissenschaftler fasziniert und die für die Bewegung der Sterne am Himmel sorgt? Das gestaltende Subjekt setzt sich darüber hinweg, es will sich dieser Ordnung entziehen, es schafft etwas, das es noch nicht gab. Die Naturgesetze sollen nicht das letzte Wort haben. Merkwürdigerweise findet Kunst dennoch im Rahmen der Natur statt. Aber was ist dann Kunst unter dieser Prämisse wirklich? Wogegen man sich anhand des vorliegenden konkreten Beispieles der Kollision von Kunst- und Alltagswelt wehren kann, ist die Höherbewertung des physisch-realen Raumes, den das Kunstobjekt für sich beansprucht, im Vergleich zu dem physisch-realen Alltagsraum der Putzfrau.
Oft erzeugt moderne Kunst Unbehagen in mir, manche Kunstwerke, gerade der modernen bildenden Kunst, erscheinen mir suspekt und elitär zugleich. Ich muss etwas entschlüsseln, dechiffrieren, als Intellektueller mit Muße am Wochenende habe ich vielleicht noch die Zeit dazu. Aber eine Putzfrau in ihrem hektischen Berufsalltag?
Offensichtlich ist es heute eine Hauptmotivation der Kunst, vor allem der bildenden Kunst, etwas herzustellen, das gerade nicht jedem gefällt. Das erinnert mich irgendwie an eine Zwangshandlung. Gibt es einen unendlichen Fundus von Möglichkeiten, Dinge zu produzieren, die den meisten Menschen wahrscheinlich nicht gefallen? Die Ästhetisierung des Ekelhaften?
Auch die Kunst kann über Ergebnisse der Hirnforschung nicht hinweg sehen, wenn Menschen etwas als schön empfinden, materialistisch gesprochen: bestimmte Hirnregionen affiziert sind. Und wenn bestimmte Bedingungen für diese Vorgänge erfüllt sein müssen, zum Beispiel gewisse Symmetrien vorliegen müssen. Dies wäre ein Anrennen der Kunst gegen die natürliche Verfasstheit des Menschen, letztlich gegen die Symmetrien in der Natur.
Vielleicht ist es ein Hauptlanliegen der Kunst, gerade Formen herzustellen, die nicht in der Natur vorhanden sind. Aber was wäre dies für eine durch eine Negation verankerte Definition von Kunst? Wenn Artefakte zu Kunstwerken erhoben werden, unter der Prämisse, dass sich Kunstwerke in erster Linie von natürlichen Objekten abzusetzen haben, stellt sich mir die Frage, welche Bedeutung und welchen Stellenwert die Natur für die Künstler und die Gesellschaft, die der Kunst einen öffentlichen Raum gibt, hat.
Könnte es nicht sein, dass heute viele Künstler, vor allem der bildenden Kunst, Werke schaffen, die zuviel Verstand von Seiten des Betrachters erfordern? Und ist dies der Grund dafür, warum diese Kunst bei einfachen Gemütern nicht ankommt? Wenn ich ein Kunstwerk betrachte, versuche ich gerade meinen Verstand abzuschalten, ich will es unvoreingenommen auf mich wirken lassen. Ich hasse es, in Museen und auf Ausstellungen Begleittexte zu lesen.
Wieviel Zeit muss man investieren, um ein Kunstwerk, in dem eine Botschaft verborgen ist, die der Künstler selbst noch nicht einmal preisgeben will, zu dechiffrieren? Welche Möglichkeiten gibt es, was die Intention des Künstlers angeht? Entweder hatte der Künstler eine bestimmte Absicht, er kennt sozusagen den Code, er wollte etwas darstellen, das dechiffrierbar ist und es existiert auch eine eindeutige Interpretation. Oder der Künstler hatte eine vage Absicht, die er nur sehr weiträumig ausdrücken konnte, vielleicht entdeckt er in seinem eigenen Werk viele Interpretationsmöglichkeiten. Oder, und dies ist ein sehr interessanter Fall, der Künstler hatte gar keine konkrete Absicht, eine mögliche Absicht kristallisiert sich im Spiel der Interpretationen heraus. Vielleicht wird er schweigen und damit andeuten, dass sehr viel in seinem Werk steckt (und sich vielleicht insgeheim ins Fäustchen lachen). Wie sagt man doch so schön: “Was da alles drinsteckt!” Und “was da alles drinsteckt” wirkt “ansteckend” auf den Künstler selbst. Ein interaktiver, ein dynamischer Prozess, nur: Warum wird dabei so wenig geredet? Warum so wenig philosophiert? Weil Worte das Wahre nicht erfassen können? Oder weil der Künstler absichtlich um sein Werk herumgeheimnissen will? Oder weil der Kunstkonsument um seine vermeintlichen Kunstkenntnisse und seine Interpretationsfähigkeiten herumgeheimnissen will?
Die aufzuwendende Zeit für die Dechiffrierung eines Kunstwerkes ist im Prinzip unendlich groß, da das Kunstwerk unendlich groß ist, es steckt halt so viel drin. Dieses “Was da alles drinsteckt” wird aber nicht explizit vom Künstler ausgesprochen, sondern diese Bürde nimmt ihm der Konsument ab, übrigens ein sehr gewünschter Konsument seitens des Künstlers. Wie war das noch: Diese Stille bei Vernissagen, diese gekünstelte Ehrfurcht, bei der ich am liebsten in meinem Sektglas (oder Champagnerglas – je nach Örtlichkeit) versinken würde.
Der erste Eindruck eines Kunstwerks ist für mich nach wie vor der wichtigste. Wenn man zu ehrgeizig ist, kommt man aus dem Dechiffrierungsprozess, der aus obigen Gründen oft von vornherein kein richtiger sein kann, nicht mehr heraus. Und am Schluss wird man ausrufen, wenn man sich seine eigene Unfähigkeit nicht eingestehen will, da man pathologisch darauf beharrt, dass der große Künstler ja eine tiefe, fast unergründliche Botschaft im Werk hinterlassen haben muss: “Was da alles drinsteckt!” – Ein Erlösungsschrei.
Das erlösende Durchatmen beginnt aber so richtig erst dann, wenn ich die Vernissage oder das Museum wieder verlassen habe und die grünen Bäume und den blauen Himmel sehe, Dinge, die ich nicht dechiffrieren oder interpretieren muss.
Einmal saß ich mit zwei Bekannten in einem Cafe. Wir unterhielten uns angeregt und waren gerade in einer interessanten Diskussion. Da ertönte eine Damenstimme: “Wenn Ihr jetzt bitte einmal alle ruhig sein würdet, die Ausstellung wird eröffnet!”
Wir sind also in einem Cafe in eine Ausstellung hineingeplatzt, “hineinplatzen” kann man aber nicht wirklich sagen. Der Nichtraucherbereich, in dem die Ausstellung stattfand, war gar nicht richtig abgegrenzt, es waren lediglich einige Tische reserviert. Mag sein, dass am Eingang des Cafes ein Plakat mit einem Hinweis hing, aber dieser fiel uns nicht auf, da wir uns zu einer bestimmten Zeit verabredeten und sofort in das Cafe hineingingen.
Ein Cafe ist nicht ein Cafe. Zwar hingen in dem Cafe immer verschiedene Bilder, aber daran hatten wir uns gewöhnt. Nun hatten wir eine halbe Stunde den Mund zu halten, wir schwiegen uns an, schauten uns ratlos in die Augen, und waren dazu verurteilt, den interessanten Ausführungen der Laudatorin ((dem affektierten Gequatsche einer Möchtegernkunstkennerin)) zuzuhören. Verlassen konnten wir das Cafe auch nicht, da alle Tische besetzt waren und es so eng war, dass man gar nicht hätte herausgehen können.
Was passierte hier? Offenbar ebenfalls eine Kollision zwischen Kunst- und Alltagsraum, der Kunstraum einer Ausstellung kollidierte mit dem Alltagsraum von Kaffeehausbesuchern, die in ein Cafe gingen, weil sie halt einen Cafe trinken und sich dabei angeregt unterhalten wollten, wie man das in Kaffeehäusern halt so tut.
Die angeregte Unterhaltung wurde sehr abrupt unterbrochen. Diese Tatsache hat einem eigentlich die Lust genommen, sich die Werke der Ausstellung noch genauer anzuschauen. Dieses gewaltsame Entreißen aus der Alltagswelt konnte nicht harmonisch in einen Kunstgenuss übergehen. Da Ausstellungen in diesem Cafe inzwischen offensichtlich die Regel sind, werden wir es als Nichtraucher als Cafe, dessen Nichtraucherbereich dauerhaft reserviert zu sein scheint, nicht mehr besuchen. Wir könnten uns ja auch nicht unterhalten, allenfalls nach Ausstellungseröffnungen, und wie es sich dann in einer Atmosphäre von Kunstwertschätzern gehört, allenfalls über Kunst und insbesondere die Werke der Ausstellung. Das Cafe ist uns unwiederbringlich als Alltagsraum genommen worden und zu einem Kunstraum mutiert. Das mag die Kunstfreunde freuen, aber nicht die Kaffeehausbesucher, die eben in ein Cafe und nicht in eine Ausstellung oder ein Museum gehen wollen.
Und alle standen um das Kunstwerk und staunten.
Weil sie keine Zeit zum Nachdenken hatten.
Der Künstler wollte das Nachdenken, nun gibt es nur das Staunen. Das reicht ihm. Hätte er die Botschaft gleich mitgegeben, gäbe es weder das Staunen noch das Nachdenken.
Nun weiß man, warum viele Künstler so viel um ihr Werk und ihre Werke herumgeheimnissen. Genauso wie Romanschriftsteller, die absichtlich nichts von ihrem eigenen Leben preisgeben. Die Leser würden sagen: Ach, das ist ja wesentlich nur eine Geschichte, und nicht viele.
Bei Naturschönheiten gibt es einen wichtigen Unterschied zu Kunstwerken. In ihnen ist keine Botschaft absichtlich verschlüsselt. Das macht den Genuss von Naturschönheiten so entspannend.
Wie sagte Nietzsche, der sich bekanntlich gern in den Schweizer Bergen aufhielt: “Wir sind so gern in der freien Natur, weil diese keine Meinung über uns hat.”
Wenn stets nur die Vielfalt und Unentschlüsselbarkeit der Kunst betont, immer nur das Vielschichtige und Undeutbare in Kunstwerken geschaffen wird, auf dass die Werke stets nur unverstehbar erscheinen, ist dies nicht nur für das kunstbetrachtende Individuum, das einen Zugang zu einem konkreten Kunstwerk sucht, ein Hindernis, sondern auch für den über Kunst Philosophierenden, der sich aus einem ehrlichen Erkenntnisinteresse heraus die Frage nach dem Wesen der Kunst stellt. Selbst der Nichtkünstler kann stets das Vieldeutige und Undurchschaubare schaffen. Und dies ist es, was mir manche Kunst suspekt macht. Dass ich den Künstler nicht mehr von dem Nichtkünstler unterscheiden kann, das Kunstwerk nicht mehr vom Nichtkunstwerk, dass es diese Unterschiede nicht mehr gibt, dass sie auch gar nicht mehr gewollt werden. Wenn der Philosoph die Erkenntnis will, braucht er die Differenz. Wenn ihm die Differenz genommen wird, wird ihm die Erkenntnis genommen.
Wer hat ein Interesse daran, dass Kunst undefinierbar bleibt? Gibt es einen Begriff, der sich durch unendlich viele Beschreibungen konstituiert? Macht das gerade das Wesen der Kunst aus?
Ich sehe eine Analogie zu dieser Welt der unendlich vielen Bedürfnisse, in der wir leben. Wer hat ein Interesse nach unendlich vielen Bedürfnissen? Begegnet uns nicht alltäglich der heilige Markt, der uns einreden will, dass wir gefälligst unendlich viele Bedürfnisse haben sollten, auf dass diese Welt der unendlich vielen Produkte und Bedürfnisse, diese Welt des Konsums, auf Dauer bestehen bleiben möge? Aber kann es in einer endlichen Welt mit endlichen Ressourcen Unendlichkeit geben? Können wir durch immer bessere Software auf immer kleineren Computern immer weiter wachsen?
Geben die Künstler der Unendlichkeit dem Wirtschaftswachstumswahn nicht eine intellektuelle Rechtfertigung?
Warum wird so viel für die Kunst getan, für die Befriedigung des Kunstkonsums, und so wenig für die Befriedigung des Naturkonsums? Weil der Naturkonsum mangels unberührter Natur ohnehin nicht mehr möglich ist? Muss es hier einen kompensatorischen Ersatz geben? – Es ist alles nicht so schlimm, wir haben ja immer noch die Kunst. Was für ein Anthropozentrismus steckt hinter einer solchen Haltung? Ist die Kunst eine Droge, ist sie ein Ersatz für mangelnde Naturerfahrung? Stellt sie eine Universalisierung des Städterlebens dar?
Warum gibt es in der Kunst so wenig Protest gegen die Aneignung von Naturräumen? Ist das wahrhafte Kunsterlebnis nicht wesentlich nur dann möglich, wenn Natur, als ihre Gegenwelt, noch existiert?
Ist die Kunst nicht auch ein Trostmittel für mangelnde Naturerfahrung?
Kunstwerke dürfen nicht zerstört werden, genauso wenig wie Bücher. Aber sie dürfen und sollen kritisiert werden, genauso wie Bücher und Ansichten. Es ist nicht zu akzeptieren, dass ein Kunstwerk ein unhinterfragbares Kulturprodukt ist, dies würde zudem einer Nötigung gleichkommen. Dies wäre, so paradox es klingen mag, eine ähnliche Ebene wie die Zerstörung oder Verbrennung von Kunstwerken oder Büchern. Das per se Unhinterfragbare, als Unhinterfragbares von vornherein Gesetztes, bewegt sich auf einer ähnlichen Ebene wie die Zerstörung von Information.
Die Bildung über Kunst muss bei den einfachen Menschen ankommen, um auf das Ausgangsbeispiel zurück zu kommen. Sonst bleibt sie elitär. Die Putzfrau verfolgte einen bestimmten Zweck, nämlich die Reinigung. Die Verfolgung dieses Zwecks lief schief. Es wurde zwar etwas gereinigt, aber auch zugleich zerstört. Dasselbe hätte mit einem Nichtkunstwerk, zum Beispiel einer einfachen Gebrauchsblumenvase, geschehen können. Die Verfolgung von Zwecken in der Alltagswelt wird stärker hinterfragt als in der Welt der Kunst, wo nicht klar ist, ob überhaupt und welche Zwecke sie verfolgt. Und genau aus dieser Unklarheit heraus kann dann so ein Missgeschick entstehen. Die Zwecke des Kunstwerkes waren der zweckbedachten Putzfrau nicht ersichtlich, sie verfolgte ihre nahe liegende Intention. Die Missverständlichkeit von Kunst, die zugleich ihre Freiheit ist, stellt auch ihre Bedrohung dar. Wenn das Erkenntnisinteresse danach, was Kunst ist, befriedigt werden kann, vereinfacht dies auch die Wahrnehmung von Kunst. Die Frage, was Kunst ist, muss bei den einfachen Menschen ankommen, muss prinzipiell der Beantwortbarkeit zugänglich sein.
Die Kunst ist eine von verschiedenen Sphären, die “die Welt” als Ganzes konstituieren, eine besondere Sphäre, eine sehr sensible Sphäre, eine, die vermittelt; wie die Philosophie. Und selbst wenn die Menschen nicht Philosophen sein können, so können sie immer noch Künstler sein. Hier liegt die Berechtigung und Wichtigkeit der Kunst.
Harmonie der zwei Sphären
JM
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Besitz
Die Rechtmäßigkeit des Besitzes von Land, als Eigentum in Form von Grund und Boden, das über viele Generationen hinweg innerhalb einer Familie, man denke etwa an eine Adligen- oder Bauernfamilie, immer wieder als Erbe an die Nachkommen weitergegeben wurde und noch wird, steht gemeinhin außer Frage.
Aber wie sah die Ursituation der Inbesitznahme von Land aus und was rechtfertigte sie? Handelte es sich nicht ursprünglich um Land, das als Teil der Natur allen Menschen gemeinsam zur freien Verfügung stand? Wenn die Menschen ursprünglich Jäger, Sammler oder Nomaden waren, so zogen sie von Landstrich zu Landstrich, je nachdem, was ihnen die Natur wo und wann zur Verfügung stellte.
Irgendwann kam jemand auf die Idee, nicht mehr umher zu ziehen, sondern sesshaft zu werden. Er baute einen Pflanzentyp auf einem Acker an, umgab den Acker mit einem Zaun und erntete die Früchte zu einer bestimmten Zeit des Jahres. Einen Teil der Ernte verbrauchte er selbst, einen anderen tauschte er mit anderen, zum Beispiel einem Bauern, der eine andere Frucht anbaute. Irgendwann wurde das Geld als universelles Tauschmittel eingeführt.
Aber was berechtigte den Urbauern zu einem Akt, der ein Stück der Natur in sein Eigentum transformierte? Was erhebt das sesshafte Bauernleben über ein Nomadenleben? Gab es überhaupt einen Dialog zwischen denen, die sesshaft werden wollten und denen, die wie gewohnt in der Natur umherziehen wollten?
Liegt auf der anderen Seite aber nicht auch ein Akt der Gewalt seitens eines Jägers vor, der auf einem bestimmten Gebiet jagt, auf dem der Bauer gern etwas anbauen würde? Wer ist hier gewalttätiger, derjenige, der einen Zaun errichtet, oder derjenige, der keine Zäune haben will?
Auf der einen Seite könnte man argumentieren, dass der Mensch Teile der Natur für seine Zwecke kultiviert und die Möglichkeit der Kultivierung von Natur auch irgendwo zum Wesen des Menschen gehört, der Mensch also letztlich ein Kulturwesen ist. Und eine Kultivierung der Natur geht nun einmal notgedrungen mit einer Abschottung bestimmter Gebiete von bestimmten natürlichen Einflüssen einher, die diese Kultivierung behindern. Man denke etwa an die Vernichtung von Unkraut, das zum Beispiel von der natürlich belassenen direkten Umgebung das Ackers, etwas eines Waldes, durch Sporenflug auf den Acker gelangt.
Aber liegt nicht dennoch ein Akt der Gewalt vor, wenn der Urbauer dem Jäger, Sammler oder Nomaden natürlichen Raum entzieht und ihn nur für sich beansprucht? Der Unterschied liegt wohl darin, dass auf dem Kulturgebiet Acker nur noch Ackerbau möglich ist, nicht aber mehr Jagen, Sammeln oder das Nomadendasein. Noch dazu, wenn der Acker von einem Zaun umgeben ist, der ja nicht nur eine faktische, sondern auch symbolische Barriere darstellt. Während dagegen ein Jäger durch sein Tun das Sammeln eines Sammlers nicht unmöglich macht, und umgekehrt.
Es stehen sich offenbar zwei Lebensphilosophien gegenüber, die eine steht unter dem Primat der Kultivierung der Natur, die andere steht für eine Harmonie mit der Natur, wobei Natur gar nicht großräumig verändert werden soll, überhaupt keine großräumige Transformation von Natur in Kultur stattfinden soll. So konnte ein Jäger, Sammler oder Nomade ja herausfinden, dass es sinnvoll ist, der Natur nur zu bestimmten Zeiten und in bestimmten Gebieten etwas zu entnehmen, wenn er in der Natur ein auskömmliches Leben über das ganze Jahr über haben wollte. Wenn ein Jäger alles Wild in einem Gebiet jagte, wurde ihm recht schnell klar, dass es im Folgejahr dort kein Wild mehr gab.
Kommt die Infragestellung von Besitz nicht dennoch letztlich einer Infragestellung von Kultur gleich? Aber wird die Infragestellung von Besitz nicht zugleich auch einem Leben in und mit Natur gerecht? Muss der Mensch, selbst wenn er eine anthropozentrische Sichtweise einnimmt, nicht die Interessen anderer Menschen berücksichtigen, die in und mit Natur leben wollen? Und ist das Leben eines Jägers, Sammlers oder Nomaden nicht aus den oben geschilderten Gründen ein harmonischeres Leben in und mit Natur als das des Bauern, der einen Zaun errichtet und sich von der den Acker umgebenden Natur und jenen Menschen, die stärker in und mit Natur leben wollen als er selbst, abschottet?
Während der Waldbewohner lernt, mit den Tieren des Waldes zu leben, empfindet der Bauer sie nur als Bedrohung, er wählt sich die Tiere, die er auf seinem Hof als Haus- und Hoftiere halten und über die er Macht ausüben kann. Seine Lebensweise ist eher ein Über-der-Natur-stehen als ein In-der-Natur-sein, obwohl man gewöhnlich – paradoxerweise – gerade dem Bauern ein naturnahes Leben unterstellt.
Wie sieht die Situation heute in der modernen Welt aus? Besitz ist auf der Welt einerseits sehr differenziert, andererseits aber auch sehr monopolisiert verteilt. Um die Metapher des Ackers wieder fruchtbar zu machen: Braucht nicht auch ein Acker ein natürliches Umfeld zu seinem Gedeihen? Kann man der Natur beliebig Ressourcen entziehen, um eine unendliche Zahl von Äckern zu bewirtschaften? Der Wasserkreislauf, der letztlich für die Bewässerung des Ackers sorgt, hängt auch von den Verhältnissen in den Waldgebieten, den Nicht-Ackergebieten, ab. Ist es nicht falsch, zu meinen, dass man irgend etwas beliebig anbauen kann, wenn man es nur richtig macht? Kann es überhaupt eine oberste Kontrolle des Menschen über die Natur geben?
Vielleicht sind der Ackerbau und die Viehzucht eine Erfindung derjenigen Spezies von Mensch, die als Wilde beziehungsweise Jäger im Wald nicht zurecht kamen, denen Instinkt und Körperkraft fehlten. Daraus aber nun zu folgern, dass der Mensch in erster Linie ein Vernunftwesen und nur in zweiter Linie ein Naturwesen sei, halte ich für fragwürdig.
Der Mensch hat die Technik entwickelt, offenbar auch aus an einem Mangel an Organen, die im Tierreich bei unterschiedlichsten Arten zur Bewältigung der verschiedensten Funktionen vorhanden sind. Dennoch verfügt der Mensch von seiner Körperlichkeit her über Fähigkeiten, die ihn auch in Natur überleben lassen. Vielleicht muss der Mensch heute daran erinnert werden, dass er viel stärker in und mit Natur leben kann, als er denkt. Es kann ja nicht sein, dass die menschliche Kultur eine Einbahnstraße in Richtung immer größerer Kulturalisierung und Naturverfremdung ist.
Man kann einem Menschen zudem nicht vorschreiben, dass er als Kulturwesen gefälligst in erster Linie in einer Stadt leben muss, statt sich von den Früchten des Waldes zu ernähren. Der letztere Menschentyp ist zwar eine Ausnahme, man findet ihn heutzutage bei Überlebenskünstlern, sogenannten Survivalspezialisten oder auch Eremiten und Aussteigern, die sich selbst beweisen wollen, dass sie es zum Beispiel monatelang in einem Wald oder im Gebirge aushalten können.
Der Fortschritt ist wohl nicht in dem Sinne Fortschritt, dass er eine stärkere Harmonisierung des Menschen mit der Natur impliziert. Ganz im Gegenteil, der Fortschritt ist insofern ein Rückschritt, da er den Menschen von der Natur entfremdet.
Ist nicht eine Welt mit weniger Menschen denkbar, die in Harmonie mit der Natur leben? Warum zählen die Interessen von Millionen von Autofahrern mehr als die von Hunderttausenden von Radfahrern oder von Tausenden von Fußgängern oder Wanderern? Warum muss es Menschen ermöglicht werden, Urlaub auf der anderen Seite des Globus zu machen? Sollten sie sich stattdessen nicht besser um den Wald vor der Haustür kümmern?
Hätte der Urbauer nicht zumindest auf die Idee kommen können, dass er den anderen ein Stück Land wegnimmt, das für sie dann für die gewohnte Verwendung (Jagen, Sammeln, Nomadendasein, …) nicht mehr zur Verfügung steht? Es gab zu diesem Zeitpunkt zwar noch nicht den Begriff des Eigentums, aber er wurde praktisch mit dem Akt des Urbauern (Einzäunen von Land, …) geschaffen. Eigentum wäre dann prozessual definiert als Abgrenzung eines Naturraumes zu einem speziellen Zweck, eine Transformation von Natur- in Kulturraum.
Vielleicht hat der Urbauer auch nur aus einer Not heraus gehandelt, weil für ihn das traditionelle Leben als Jäger, Sammler oder Nomade sehr schwierig oder vielleicht sogar unmöglich war. Dennoch könnte er ja auf die Idee kommen, dass sein eigenes originelles Tun etwas besonderes, etwas anderes, vielleicht sogar etwas unverschämtes ist.
Die Einsicht der Jäger, Sammler und Nomaden ist die der Abhängigkeit von und des Lebens in und mit Natur, wobei sie wissen, dass ihre Kontrolle über die Natur begrenzt ist. Die Einsicht des Urbauern ist die der Möglichkeit einer stärkeren Kontrolle über Vorgänge in der Natur. Er sah, dass bestimmte Pflanzen im Wald gut wachsen und nahrhafte Früchte tragen. Warum diese nicht nur anbauen, die Bäume des Waldes fällen und den unkrautbehafteten Boden von Unkraut befreien und einebnen? Ihm konnte schon bewusst sein, dass er etwas tut, was in dieser Form noch nicht geschah. Zumindest konnte ihm klar gewesen sein, dass andere Menschen andere Früchte mögen, oder eine Vielfalt von Früchten, die nur der Wald generieren kann. Nun kommt er mit seinem Interesse nach einer bestimmten Frucht und zäunt ein Gebiet ein, das dann für andere Menschen, denen nach einer Vielfalt von Früchten ist, nicht mehr zur Verfügung steht. Das ist offenbar Eigentum, zu behaupten: “Das ist meins!” – Etwas, das wertvoller als Natur selbst sein soll, nämlich etwas, was ich für mich und meine Sippe geschaffen habe. Die Höherstellung der eigenen Interessen über die der Anderen, über eine Vielzahl anderer Interessen, wie sie in der Natur im weitesten Sinne repräsentiert sind, wenn man den Begriff des Interesses einmal sehr weit fasst. Man könnte auch sagen: Der Ursprung des Eigentums ist der Egoismus, und zwar eine besondere Form des Egoismus. Zwar findet sich Egoismus auch im Reich der Natur, aber in der Natur gibt es kein bewusstes Zerstören von Lebensräumen für andere, es gibt allenfalls beispielsweise die Jagd innerhalb eines Lebensraumes, der Lebensraum für viele unterschiedliche Arten ist.
Man könnte auch sagen, mit dem Verhalten des Urbauern wird ein Naturraum so verändert, dass von einer Spezies nur ein Individuum und seine Nachkommen überleben können. Und zwar deshalb, weil sich auf dem betreffenden Territorium gar keine anderen Individuen derselben Art oder anderer Arten mehr aufhalten können und dürfen, und weil sie dort auch gar nicht mehr die Nahrung finden würden, die sie zum Überleben bräuchten. Es handelt sich also nicht nur um eine Schaffung von Kultur-, sondern auch um eine Zerstörung von Naturraum.
Der Prozess hätte verhindert werden können, wenn es nicht Menschen gegeben hätte, die dem Urbauern geglaubt haben, als er sagte: “Das ist meins!” – Wurde hier Unverschämtheit mit Intelligenz verwechselt? Oder ging es um Macht, und Macht beeindruckt? Er fand offenbar tatsächlich ein paar Idioten, die ihm diese Unverschämtheit abnahmen. Unter den Folgen dieser Unverschämtheit und Idiotie leben und leiden wir noch heute.
Es wären Fälle in der Geschichte interessant, in denen Ackerland oder Viehweiden vernichtet wurden, um aus ihnen wieder Wälder zu machen. Solche Beispiele sind mir nicht bekannt. Die Mächtigen hatten in der Regel ein Interesse daran, Acker- und Weideland zu erhalten und zu besitzen. In vielen Fällen nahmen es Adlige den Bauern weg oder unterjochten die Bauern, die dann lediglich nur noch Besteller des Feldes waren, wobei der Ertrag dem Fürsten zufloss, zumindest in Form von Steuern.
Worin liegt der genaue Unterschied zwischen der Kultur des Urbauern und der Kulturen der Jäger, Sammler und Nomaden? Verfügten letztere nicht auch schon über Besitz? Der qualitative Unterschied ist wohl, dass die Einrichtung von Acker- und Weideland Naturräume stärker manipuliert. Der Besitz von Kleidung, Waffen und Schmuck muss nicht notgedrungen mit einer Manipulation großen Naturraums einhergehen.
Wenn man den Kulturbegriff sehr weit fasst, wäre Kultur im weitesten Sinne so etwas wie die bewusste Veränderung von Natur.
JM
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Rationalität und Emotionalität
Es gibt Situationen, in denen wir nicht wissen, ob wir rational oder emotional reagieren sollen. Interessant ist nun, dass wir das wissen, und das fällt ja wieder in den Bereich des Rationalen.
Gilt also doch ein Primat des Rationalen?
Ich glaube nicht denen, die behaupten, dass man sein Gefühl letztlich entscheiden lassen solle. Manchmal ist es sicherlich richtig, sich von seinem Gefühl leiten zu lassen, manchmal überschätzt man sein Gefühl aber auch.
Gibt es nicht Menschen, die, wenn sie in Argumentationen nicht weiter kommen, ihr erhabenes und wertvolles Gefühl entscheiden lassen und sich mangels Argumente oder der Fähigkeit rational zu argumentieren, die Diskussion abbrechen und behaupten, dass etwas nicht stimmen kann, da “mein Gefühl” da stark widerspreche?
Die Folge dieses ganzen Szenarios ist, dass ich rationaler Typ emotional sehr betroffen bin, da mir die Argumentation leid tut. Die Argumentation kommt mir dann wie eine Person vor, die nicht beachtet wird. Ein Gedankengebäude kommt mir jedenfalls ziemlich persönlich vor.
Mangels genaueren Wissens würde ich aus pragmatischer Sicht mit Aristoteles argumentieren und die Mitte zwischen Rationalität und Emotionalität anstreben.
Ich misstraue den beiden Extremen gleichermaßen, ich misstraue denen, die das Rationale so betonen, ich misstraue aber auch denen, die auf das Emotionale eingeschworen sind. Interessanterweise ist mein Misstrauen selbst etwas, das genau zwischen dem Rationalen und Emotionalen liegt. Obwohl man vermuten würde, dass Misstrauen in erster Linie etwas Emotionales ist. Aber das stimmt nicht, es gründet sich auch wesentlich auf das Rationale, schon konsistent Gedachte.
Während Männer oft zu rational reagieren, reagieren Frauen oft zu emotional. Deshalb mag ich weder extrem männliche noch extrem weibliche Typen. Sie kommen mir wie Kinder vor, die von einer harmonischen Mitte noch ganz weit entfernt sind und etwas aburteilen, das sie nicht mögen, oder nur etwas wollen, was sie eben wollen, weil sie’s wollen.
JM
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Die Zeit sieht sich nicht selbst
Die Zeit sieht sich nicht selbst.
Wenige stellen sich jenseits der Zeit, jenseits der Welt, in der sie leben, leben müssen.
Man nennt sie auch Philosophen.
Es ist die Zeit der großen Hypnose. Wie hypnotisiert sind die Menschen, in Massen. Jemand sagte ihnen, was richtig sei.
Und sie suchten und wurden fündig.
Auch sie gehörten nun zu denen, die wissen, was richtig ist. Dabei sind sie in Wahrheit hypnotisiert und autistisch. Ihre Sinne sind vergewaltigt und überreizt. Sie schauen nur noch geradeaus, sie selbst sind transparent, wie die allgegenwärtigen Glasscheiben, durchschaubar, steuerbar.
Das Jahr ist wohlgeordnet. Im Vier-Viertel-Takt.
Sie fühlen sich frei und sind doch gefangen. In Giften, die frei machen sollen.
Ihre leeren Blicke zeigen, dass ihre Seelen nur noch Spiegel sind.
Jemand sagte ihnen, dass sich diese Leere mit dem Richtigen füllen lässt. Und sie glaubten es. Und sie füllten und füllten. Und sie blieben doch leer. Und sie fühlten nicht und fühlten nicht. Und blieben leer. Und sie liefen und liefen. Hypnotisiert. Autistisch. Verführt. Übersättigt.
Und sie gaben sich ein Äußeres, das scheinbar ein reiches Inneres zeigt, und betrogen sich dabei selbst, da sie sich ihre eigene innere Leere nicht eingestanden.
Ich gehöre auch dazu.
Ich consumiere, also bin ich.
Allen ist es recht, jeder gehört zu den Gewinnern. Und wenn einmal Zweifel aufkommen, gibt es einen Lobbyisten, der einen zu den Gewinnern zählt, und der das Blau wieder in den Himmel zurückholt.
Ich denke, also bin ich nicht.
Da ich nicht consumiere, wenn ich denke.
Das Innere ihrer Seelen ist wie das Innere ihrer Städte: Consum.
Und sie machen sich ihren Consum zu ihrem Gott. Und feiern ihn.
Und die Welt ist wieder wohlgeordnet.
Anno Domini MMXI
JM
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Religionen in modernen Zeiten
Die Rolle der Religionen, insbesondere des Christentums in einer Welt des Konsums, vor allem zu den oben beschriebenen Hochkonsumzeiten, kommt mir recht suspekt vor. Ähnlich geht es mir aber auch mit dem Buddhismus. Ist der Buddhismus nicht auch eine Art von Ersatzreligion für all jene, die sich von einem Christentum abgewendet haben, das ihnen in modernen Zeiten als zu konservativ erscheint? Ich sehe durchaus eine Parallele zwischen den Leitmotiven des Nichtdenkens des Buddhismus und dem Nichtdenken in einer Welt maßlosen Konsums.
Einerseits heißt es heute oft, gerade in Managerseminaren für gestresste Manager und Marketingexperten, dass es auf ein “Entschleunigen” ankäme, man müsse schließlich heraus aus diesem hektischen Alltag, andererseits führt diese Maxime in praxi dann dazu, dass der beklagte Alltag gar nicht mehr kritisch hinterfragt wird, da ja das Denken bereits abgeschaltet wurde: Man ist ja meditativ bereits beim Nichts angelangt, wo wollte man noch hin, wenn doch das höchste Ziel bereits erreicht ist.
In Möbelhäusern sieht man immer häufiger Buddhaköpfe, jedenfalls sehr viel häufiger als Kruzifixe, die in Möbelgeschäften völlig ausgestorben zu sein scheinen, jedenfalls in solchen, die nicht gerade bayrische Bauernmöbel als ihr Hauptverkaufsrepertoire ansehen. Bei beiden Dingen handelt es sich um religiöse Symbole, auch wenn dies die Anhänger des Buddhismus, die ihre Religion gewöhnlich als eine Lebenshaltung ausweisen, in der Regel verneinen. Was man jedoch durchaus als einen argumentativen Trick ansehen kann, um diese Religion, die sie nach wie vor ist, effektiv zu verbreiten.
Vielleicht sollen Buddhaköpfe in Möbelhäusern das Denken abschalten. So dass der hohe Preis des Möbelstücks nicht mehr sonderlich hinterfragt wird. Ob diese Strategie wirklich gelingt? Buddhaköpfe in Möbelhäusern entspannen mich jedenfalls nicht, ganz im Gegenteil, sie erinnern mich eher an die hohe Stellung, die die Religionen noch immer in der Gesellschaft einnehmen, trotz vieler Jahrhunderte moderner Wissenschaft und Philosophie. Der Urknall und der Sinn unserer Existenz sind schon ziemlich langweilige Fragen, wenn wir nur wissen, wie wir uns richtig entspannen können.
Wer hat ein Interesse daran, eine maßlose Konsumwelt mit festen Hochkonsumzeiten als solche zu erhalten? Dieselben Manager und Marketingexperten, die sich nach ihrem Workaholicday abends mit Zen oder autogenem Training entspannen? Dieselben Leute, die mit dafür sorgen, dass möglichst viele Konsumenten hektisch über Einkaufsstraßen laufen, weil sie die von ihnen selbst kreierten, plakativen Werbeslogans für bare Münze nehmen? Sie sagen einem schließlich, was man kaufen solle, dass man es schnell und gefälligst viel davon kaufen soll. Sie erzeugen Hektik und Stress, massenhaft. Anschließend hören und erzählen sie in Zen-Managerseminaren was von Entschleunigung, von Entspannung, von dem Weg zum wahren Sein, von der Erfüllung im Nichts, von Meditation.
Inwiefern wird heute der Buddhismus vom Kapitalismus für seine Zwecke instrumentalisiert?
Der kapitalistisch gefärbte Buddhismus ist der moderne Nihilismus par excellence. Der Nihilismus aalglatter Manager, die über Leichen gehen. Alle streben vereint zum Nichts, wobei das Nichts der angestrebte und ersehnte Zielpunkt ist, eben der im Unendlichen liegende, aber nie wirklich erreichbare Punkt des Nichtkonsums als Gegenpol zum gewohnten alltäglichen Konsum. Man könnte auch sagen, dass buddhistisch orientierte Manager in einer Welt des Dualismus leben, einem Kosmos, der sich aus der Unruhe und der Ruhe als seiner dualistischen Substanzen speist, aus einem Wechselspiel von Konsum und Nichtkonsum. Nur sind den Durchschnittskonsumenten keine teuren Managerseminare vergönnt, auf denen sie sich, wie die Führungskräfte auch, entspannen könnten. Und geteilt wird ja nicht im Kapitalismus.
Das Jahr endet mit einem großen Knall und einer punktuellen Erfahrung des Nichts. Dann geht der Konsumalltag recht schnell wieder los. Mitte Januar kommt die Osterdeko.
In einer Zeit der Ereignislosigkeit bedarf es der Ereignissetzer.
Die Welt könnte untergehen und es würde immer noch die besagten Hochkonsumzeiten geben. Zum einen terminlich fixiert auf dem Boden religiösen Hintergrundes, zum anderen durch die Setzung wohl etablierter Bedürfnisindustrien. Der Buddhismus als Ersatzchristentum kommt dann noch als Alternative hinzu, man ist ja schließlich ein besserer Konsument. Als braver Verbraucher hat man sich jedenfalls nicht sonderlich für die realen Ereignisse da draußen in der weiten Welt zu interessieren, weil sie im Vergleich zu den periodisch gesetzten Ereignissen nebensächlich sind, sein müssen, soll exzessiver Konsum wirklich funktionieren. Wie könnte man es anders erklären, dass trotz der Katastrophen da draußen in der weiten Welt die heimische heile Konsumwelt einfach so weitergeht? Selbst wenn eine Katastrophe in einem Nachbarland passiert, ist das ja immer noch weit genug weg, also noch zur großen weiten Welt gehörig. Was für ein Glück, dass wir so provinziell sind.
JM
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Fragen und Antworten
In einer Zeit, in der Antworten vorgegeben werden, verkümmert das Fragen zu einem bloßen Erwarten einer Antwort.
Der Fragende versucht nicht selbst, sich über eigenes Denken einer Antwort zu nähern, er offenbart sich als Hilfloser in einer Welt vorgegebener Fragen und Antworten.
Und übersieht dabei selbst die wichtigen Fragen. Fragen, die er nur selbst beantworten kann.
Er läuft vor sich selbst davon.
JM
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Paradoxien des Endlichen
Am Ende meines Lebens frage ich mich, was ich eigentlich war, und noch bin.
Ein bloßer Schatten meines Gehirns? Sein Begleiter, der scheinbar aus dem Nichts entstand?
Wenn ich wesentlich immateriell bin, welche Ursache könnte es für meine immaterielle Existenz geben, außer wieder eine immaterielle Ursache? Ansonsten müsste es einen Übergang vom Materiellen zum Immateriellen geben, aber den kann ich nicht denken.
Ich werde damit vertröstet, dass materielle Komplexität, eben mein physisches Gehirn, die Ursache meines Ichs sein soll. Doch diese Vertröstung hilft mir nicht weiter.
Ich trauere wirklich. Über mich selbst.
Meine Trauer kommt mir absurd vor, auch wenn sie mir real erscheint. Und sie kommt mir endlich vor, wegen ihrer Gebundenheit an eine materielle Struktur. Ist sie vielleicht nur die Trauer über das Ende dieser Struktur? Oder ist es in Wahrheit die Trauer der Struktur über das Ende ihrer selbst? Aber wie können Gehirne traurig sein?
Oder ist meine Trauer nur die Gewissheit der Vergangenheit eines mehr oder weniger reichhaltigen Lebens, eines Lebens, in dem viel passierte, vielleicht noch mehr hätte passieren können, das aber nun zuende geht, mitsamt seinen Wünschen, Sehnsüchten und Hoffnungen?
Ratlos bleibe ich, da ich diese Trauer nirgends dingfest machen kann, selbst wenn ich wüsste, welche Teile meines Gehirns nun an ihr beteiligt wären oder sie gar verursachten. Und dies stimmt mich noch trauriger. Es ist also nicht nur die Trauer über das Ende des Lebens, sondern auch die Trauer über das Ende der Trauer. Wo man doch in der Regel will, dass die Trauer endlich bleibt.
Es ist, als ob das Gehirn wüsste, dass es mit ihm zu Ende geht, und dies macht die Trauer irgendwo noch realer, als wenn sie lediglich etwas rein Immaterielles wäre. Und ich bin noch ratloser.
Auch dass ich wesentlich Gehirn sein soll, und unwesentlicher andere Teile meines Körpers, will mir nicht einleuchten, da ich mich doch immer mit meinem ganzen Körper identifiziert habe.
Zum ersten Mal empfinde ich so etwas wie Mitleid mit meinem eigenen Körper. Ein Körper, der mir ein Leben lang treu war. So schlug das Herz immer, mit einer Selbstverständlichkeit, sodass ich mir denke, dass keine vom Menschen geschaffene künstliche Struktur an diese natürliche biologische Gegebenheit heranreicht. Auch meine anderen Organe taten stets ihren Dienst, mit ein paar Ausnahmen, die Zeiten der Krankheit. Einerseits fühlte ich mich gemäß meines schlechten körperlichen Zustandes auch schlecht, andererseits kann ich mich an Fieberträume erinnern, die mein Bewusstsein erweiterten. Aber vielleicht tat hier das Gehirn kompensatorisch anderen Teilen des Körpers Beihilfe und hinter der Bewusstseinserweiterung steckte nur eine körperliche Selbstregulation. Oder auch eine Beruhigung des kostbaren Kindes Ich, das ein schönes Märchen erzählt bekommt. Aber wer oder was steckt dann hinter dem Märchenerzähler?
Gerade am Ende meines Lebens komme ich mir wie der stumme Begleiter meines eigenen Körpers vor, wie sein Schatten. Und auf einmal bekomme ich Angst. Wenn er nicht mehr funktioniert, wenn er verfällt, wenn er nicht mehr da ist, bin auch ich nicht mehr.
Und ich bezweifle, dass die Religionen recht haben. Religion kommt mir wie ein Bekenntnis zur Ignoranz des Körperlichen vor. Wenn ich nun religiös wäre, würde ich meinem Körper unrecht tun. Dann gehe ich lieber mit ihm unter, statt ihn zu verleugnen. Und dies nenne ich Treue zu mir selbst.
Immerhin werde ich in einer endlichen Zeit etwas Wunderbares gewesen sein.
Und reicht dies nicht?
JM
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Transparenz
Transparenz ist das Zauberwort.
Die Produzenten einer Nachricht schaffen Transparenz: eine transparente Nachricht.
In dieser Nachricht wird über eine Person und ihr vergangenes Tun berichtet.
Die Produzenten der Nachricht, und ihre Konsumenten, fordern nun auch eine transparente Person, im Sinne der Transparenz der Nachricht und weiterer transparenter Nachrichten.
Die Person sieht sich plötzlich in der Situation eines Transparenzdruckes, sie registriert das öffentliche Interesse, wobei sich die Öffentlichkeit im wesentlichen aus den Produzenten und Konsumenten möglichst transparenter Nachrichten zusammensetzt. Sie soll und muss ihr Personsein nun aufgeben, insofern das Nichttransparente, ihr Innerliches und Privates wesentlich zu ihrem Personsein gehört. Wenn es nicht dazu gehören würde, könnte man eigentlich gleich den Begriff der Person aufgeben, da dann eine Person eine Gesamtheit von öffentlich zugänglichen Eigenschaften wäre.
Jemand, der Transparenz schafft, sorgt in gewisser Weise für das Unpersönliche, sowohl die Produzenten und Konsumenten von Nachrichten, als auch die Personen selbst, um die es geht, die mit der Transparenz einen Teil ihres Innerlichen und Privaten zugunsten eines Öffentlichen aufgeben.
Wenn die Grenze zwischen Nachrichten und Werbung verschwimmt – Transparenz wird bei beidem hoch gehalten, Transparenz wird ausdrücklich bei beidem gewünscht – wird der Medienkonsument zum Produktkonsument, ein transparentes Wesen, das transparente Nachrichten und Produkte transparent konsumiert.
Wer etwas verschweigt, ist nicht mehr transparent, dass Verschweigen auch wesentlich zum Personsein gehört, wird nicht mehr registriert.
Die Arbeitswelt wird zu einem gläsernen Großraumbüro, der Markt wird zu einem transparenten Labyrinth, mit gläsernen Schaufensterscheiben, ein Markt, in dem sich die gläsernen Konsumenten wie in einem Zauberlabyrinth der Zauberprodukte bewegen sollen, keinesfalls wie in einem dunklen Irrgarten, der er aber letztlich ist.
Wer absolute Transparenz fordert, fordert letztlich in gewisser Weise die Abschaffung der Person, die wesentlich Privates und Innerliches ist. Wer absolute Transparenz bietet, schafft sich in gewisser Weise selbst als Person ab.
Politiker sollen nun besonders transparente Personen sein. Gleichzeitig wird besonders viel Persönlichkeit von ihnen verlangt. Die eiermilchlegende Wollmilchsau auf einer Gratwanderung, transparent und doch persönlich.
Die Macht der Medien entsteht aus dem Nichts. Plötzlich ist eine Nachricht da. Von wem sie erschaffen wurde, unter welchen Umständen, unter welchen Zurückhaltungs- und Veröffentlichungstaktiken, steht nicht zur Debatte. Im Fokus des öffentlichen Interesses steht der Inhalt der Nachricht, nicht ihre Urheber, nicht ihr Tun und Unterlassen.
Journalisten werden zu unsichtbaren Mächtigen. Politiker zu verschwindenden Personen, nicht nur ihre Person, ihr Persönliches, schwindet, sie verschwinden auch tatsächlich, sie treten zurück. In Konsequenz können Politiker, die an der Macht bleiben wollen, öffentlich nur noch so tun, als ob sie über viel Persönliches verfügten. Mit der Macht der Medien wächst die Ohnmacht wirklich persönlicher Politiker. Nicht umsonst hört man immer öfter den Ruf: Früher, das waren noch Politiker, die hatten noch Persönlichkeit. Die Medien selbst beteiligen sich an solchen Rufen, dabei sollten sie erkennen, dass gerade sie in ihrer Transparenzgeilheit die Hauptursache für das rare Vorhandensein von Politikern mit Persönlichkeit sind.
Am besten sollte man als Politiker in Deutschland kein Haus besitzen. Am besten sollte man generell nie etwas gekauft haben. Am besten sollte man gar keine Freunde haben. Man sollte nie irgendwelche Geschäftsleute, nie irgendwelche Unternehmer kennen, nie in Aufsichtsräten gesessen haben.
Öffentliche Rechtfertigung wird einseitig praktiziert. Gerechtfertigt wird sich vor den Medien als oberster Rechtfertigungsinstanz, die zugleich mit der Öffentlichkeit gleichgesetzt werden. Welche Medien rechtfertigen sich vor der wirklichen Öffentlichkeit, welche rechtfertigen sich vor Politikern? Die Medien scheinen immer auf Seiten des Objektiven zu sein, als bloße Vermittler, bloße Präsentatoren von Geschehnissen, Ereignissen und Fakten. Irgendwie entstehen in den Medien Informationen, in einem Wechselspiel mit Werbung, ein Wechselspiel, das immer subtiler wird. Irgendwie entsteht im globalen Supermedium Internet eine Information, hier wird erst recht nicht mehr nach den Ursprüngen gefragt.
Die Drahtzieher der Informationen sind die wahren Mächtigen, die jeden Politiker stürzen können. Aber auch jeden Politiker an der Macht halten können. Aber auch jeden Politiker an die Macht bringen können.
JM
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Tugenden
Ist es nicht auffällig, dass der Begriff der Tugend in der heutigen Gesellschaft ausgestorben zu sein scheint? Allenfalls existiert er noch unter Gebildeten, Intellektuellen oder in den Feuilletons. Wer redet auf der Straße heute noch von „Tugenden“?
Dass in der heutigen Zeit vieles untugendhaft ist, scheint fast schon selbstverständlich. Das Übermaß, sprich der maßlose Konsum und alles Maßlose was darauf folgt und sich an dieser Maßlosigkeit orientiert, wird doch tagtäglich in der Werbung und den Medien gepredigt und propagiert, wenn nicht sogar für gut geheißen. Wobei ein subtiles Wechselspiel zwischen Nachrichten und Werbung besteht, bei dem der Medienkonsument mitunter schon gar nicht mehr richtig mitbekommt, was denn nun Nachricht und was Werbung ist.
Eine westlich orientierte kapitalistische Gesellschaft, die sich den Freiheitsbegriff auf ihre Fahnen geschrieben hat, inwiefern interessiert die sich heute noch für Tugenden?
Untugenden im finanziellen Bereich werden heute offenbar eher verziehen – der Staat, letztlich der Steuerzahler, kommt für die Investitionsrisiken und -spiele privater Großbanken und mitunter geldgierigen Managern auf. Untugenden im finanziellen Bereich gehören zur Normalität. Wer will nicht ein Schnäppchen machen, seinen Gewinn maximieren oder seine Schäfchen im Trockenen halten? Solche Laster gehören offenbar sakrosankt zum System.
Der Verweis auf Tugenden ist dann noch so etwas wie ein intellektueller Luxus, den sich eine kapitalistisch orientierte Gesellschaft trotz ihrer Lasterhaftigkeit noch leistet.
JM
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Fremde Städte
Ich liebe es, mich in fremden Städten zu verirren. Aus dem Irren wird ein Verirrter, und dies erhebt mich.
Selbst wenn sie mir nicht gefallen: Intuitiv suche ich die nächste, möglichst alte Kirche auf. Dort fühle ich mich dann einerseits als Fremder, da ich in dieser Stadt nun einmal ein Fremder bin, andererseits fühle ich mich als Suchender. Vielleicht sind Kirchen die letzten Zufluchtsorte von Spiritualität in modernen Städten.
Warum gibt es in meiner Stadt nicht so alte Kirchen? Gut, dafür gibt es auch nicht so viele Touristen. Aber sind die nicht der lebende Beweis dafür, dass man in einer besonderen Stadt lebt?
Es gibt Städte, die auf dem Reiseprogramm von Touristen stehen und solche, die dies nicht tun. Für meine Stadt gilt eher letzteres. Dies macht sie für mich aber wieder zu etwas Besonderem. Wogegen die besonderen Städte wegen ihrer vielen Touristen schon wieder gleichförmig wirken. Sie sind sich aufgrund der ähnlichen Überfüllung ihrer Stadtzentren in einem wesentlichen Punkt wieder alle recht ähnlich.
Als Vielgereistem fällt es mir heute zuweilen recht schwer, Kosmopolitismus von Amerikanismus zu unterscheiden. Sollte mich das in Zeiten der Globalisierung auch überraschen? Das Hackfleisch schmeckt weltweit recht ähnlich, egal in welchen Kontinent, egal in welche Stadt Du jettest. Die Flughäfen sehen sich weltweit sehr ähnlich, überall dieselben Shops, dieselben Produkte, dieselben Marken, dieselben Designerklamotten, dieselben Düfte, dieselben Zigarettenmarken, dieselben Spirituosen. Und dieselben Hotelketten: Bin ich nun in Sydney oder in New York? Ist ja eigentlich auch egal. Das Internet verbindet. Vielleicht leiden die Menschen heute darunter, dass sie aufgrund mangelnder Innerlichkeit alles ins Äußerliche tragen müssen, alles zwanghaft äußerlich dokumentieren müssen. Irgendwie kommen einem die Gesichter alle so extrovertiert vor. Mit Glubschaugen. Internet hier, Internet dort. Da höre ich lieber echtes Vogelgezwitscher im Wald.
Zuweilen bin ich gern provinziell und altmodisch, vielleicht ist das meine bewusste Gegenhaltung, es macht mich kommerzfreier. Ich bin nicht en vogue gekleidet, ich weiß nicht, was in ist, ich sch… darauf. Und ich rauche antiquierte und spiessige Zigarettenmarken, die einen an ein jugendliches Alter erinnern, zumindest von ihrem Namen her. Bingo?
In Eiche rustikal fühle ich mich sauwohl. Ich verstehe nicht, wie sich Menschen in Wohnungen wohl fühlen können, die den Charakter einer Möbelausstellung haben. Wollen die nun ein Zuhause oder wollen sie ein Möbelhaus en miniature? Es ist alles so gepflegt, dass es schon ungemütlich wird, sich hinzusetzen. Mach’ ich irgendetwas kaputt, wenn ich hier zu entspannt sitze?
Gibt’s hier einen Jägermeister? – Nein, nur Prosecco.
Das Schönste am Kapitalismus ist, dass es auch altmodische Produkte zu kaufen gibt, die out und uncool sind. Das Schönste an Fernsehern oder Computern ist, dass man sie abschalten kann. Das Schönste an neuen Romanen ist, dass man sie nicht lesen muss. Das Schönste für mich als Pendler in der Stadt, in der ich arbeite, ist das Gleis auf dem Bahnhof, von dem mein Zug zu der Stadt fährt, in der ich wohne.
Früher träumte ich viel von Zügen, die ich knapp verpasste. Wenn ich heute einmal davon träume, lache ich schon innerlich. Manchmal mache ich mir auf Bahnhöfen einen Spaß daraus, zum Gleis zu rennen, obwohl ich noch genug Zeit habe. Auch mag ich es, mich mit wildfremden Menschen über zu spät kommende Züge zu ärgern. Und über alles, worüber man sich im Zusammenhang mit Bahnhöfen und Zügen noch so ärgern kann. Man redet ja doch noch miteinander.
In Träumen ist so viel Weisheit, dass sie uns schon wieder dumm vorkommen, wenn wir wach sind. Unser Alltagsich ist offenbar so konstituiert, es maßt sich eine Bewertung an. Sind wir so weise Konsumenten?
Träume sagen Dir auch, was Du für ein Mensch bist, aber Du brauchst sie nicht notwendig dazu, erinnere Dich an all die Situationen in Deinem Leben, in denen Du Dich von Menschen getrennt hast oder sich andere Menschen von Dir getrennt haben. Dir werden gewisse Grundkonstanten auffallen, die mit Deiner Persönlichkeit zusammenhängen. Im Leben gibt es viele Bahnhöfe und verpasste Züge.
Die Stadt, in der ich arbeite, ist meine frühere Heimatstadt, und die Stadt, in der ich nicht arbeite, ist die Stadt, in der ich heute wohne. Wie sich die Zeiten doch ändern. Und die Räume. Die Ränder von Ballungsräumen haben etwas für sich: Einerseits wohnt man nicht zu weit vom Schuss weg, andererseits ist man aus dieser Suppe auch recht schnell heraus. Und dann natürlich auch schneller im Grünen.
Aufgewachsen bin ich in einer Großstadt, an ihrem nördlichen Stadtrand, mit viel Industrie, in einem Stadtteil, der an drei andere Städte grenzt. Hieraus ist ersichtlich, dass ich auch in einem Ballungsraum groß geworden bin.
Passend dazu war ich immer ein Grenzgänger und Außenseiter. Das ergibt sich fast schon automatisch, als jemand, der von einem unschönen Stadtrand-Stadtteil kommt, einem Gebiet, das von Leuten, die mitten in der Stadt leben, oder in ihren gehobenen Vierteln, sowieso nie aufgesucht wird. Aus dem Grenzgänger und Außenseiter wird dann schnell ein Einzelgänger. Muss ich nun traurig sein?
Aber wollen wir die Kirche im Dorf lassen. In einem Dorf auf dem Lande aufzuwachsen hat vielleicht auch was. Vielleicht zieht es einen immer in die Gegenwelt. Alles hat seine Vor- und Nachteile.
Aber wenn Du vergisst, wo Du herkommst, bist Du nicht mehr echt.
JM
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Quod erat demonstrandum
Es ist ein empirisches und theoretisches Faktum, dass Gottesbeweise schwierig, wenn nicht gar unmöglich sind. Offenbar hat Gott, so er dennoch existiert, das Universum, als Schöpfer des Universums, so eingerichtet, dass sie tatsächlich schwierig, wenn nicht gar unmöglich sind.
Angenommen, der Mensch ist das höchste vorstellbare intelligente Lebewesen im Universum und ursächlich von Gott geschaffen. Da Gott möglicherweise wollte, dass er möglichst unbeweisbar ist, hat er den Menschen demgemäß erschaffen. Der Mensch könnte diejenige Entität sein, die am weitesten von Gott entfernt ist, er wäre quasi die Negation Gottes, und zwar die bewusste und gewollte Negation Gottes, durch Gott selbst. Der Mensch wäre der wichtigste Teil der Verfremdung Gottes vor sich selbst.
Gott betrügt sich fortwährend selbst, im Sinne des Geheimnisses. Das Universum ist schön und geheimnisvoll, wobei das Schöne – das wirkliche, wahrhaftige und tiefgehende Schöne – untrennbar mit dem Geheimnisvollen zusammenhängt. Nicht umsonst heißt es: Wahre Schönheit kommt von innen. Und das Innere ist das Unzugängliche und Geheimnisvolle. Es ist kein schöneres und geheimnisvolleres Universum vorstellbar. Es ist eines, aus dem Gott ein Geheimnis macht und keines, über das Gott alles unmittelbar offen legt.
Da Gott seine eigene Existenz nur aushält, wenn er auch sich selbst ein Geheimnis ist, und das Universum das größte denkbare Geheimnis ist und Gott sich selbst gegenüber zugleich das größte Geheimnis sein will, ist Gott das Universum.
Da es keine creatio ex nihilo gibt, war Gott immer, ist das Universum ewig. Gott ist insofern der Schöpfer des Universums, da er sich fortwährend vor sich selbst verfremdet. Er ist der Schöpfer seines eigenen Geheimnisses. Sobald sich Gott der absoluten Erkenntnis nähert, die nicht möglich ist, weil Gott sich in dieser absoluten Erkenntnis selbst nicht aushalten könnte, muss er sich im Sinne des Geheimnisses wieder von ihr entfernen. Gott ist nicht erkennbar für den Menschen, da Gott schon sich selbst gegenüber nicht erkennbar sein will. Daraus folgt, dass die absolute Erkennbarkeit des Universums nicht möglich ist. Da der Mensch der wichtigste Teil der Verfremdung Gottes vor sich selbst ist und Gott das größte Geheimnis ist, ist der Mensch selbst ein Geheimnis. Da der Mensch sich selbst zum Gegenstand seiner Reflexion machen kann, ist er sich selbst ein Geheimnis. Die Philosophie und Metaphysik ist eine Aufhellung dieses Geheimnisses, wobei das Geheimnis selbst aber unangetastet bleibt. Die Physik und die Naturwissenschaften sind eine Aufhellung der Umstände des Universums, wobei das Geheimnis des Universums selbst aber unangetastet bleibt.
Durch das bloße materielle und physische Vorhandensein des Universums ist noch kein Geheimnis gegeben. Dieses bedarf eines Schöpfers, den Schöpfer des Geheimnisses. Ein Geheimnis, das gegenüber seinem eigenen Schöpfer noch ein Geheimnis ist, ist ein noch größeres Geheimnis. Ein ungeschaffenes Geheimnis ist kein Geheimnis, sondern Unwissen. Das größte Geheimnis ist dasjenige Geheimnis, das Geheimnis eines Schöpfers ist, der dieses Geheimnis geschaffen hat, und für den dieses Geheimnis selbst Geheimnis ist. Das absolute Geheimnis ist aber das Geheimnis, das sich selbst gegenüber Geheimnis ist. Also ist Gott ein Geheimnis. Also ist das Universum ein Geheimnis. Also existiert notwendig Gott, da das Universum existiert und da das Universum ein Geheimnis ist. Der Mensch stellt fest, dass das Universum existiert und dass es ein Geheimnis ist. Er kommt nicht hinter dieses Geheimnis, auch wenn er danach strebt und die Wissenschaft und die Philosophie ein Teil der Entkleidung des Geheimnisses sind. Es eröffnen sich nur neue Geheimnisse, die Teil des großen Geheimnisses sind. Gott trägt unendlich viele Kleider.
Aus der Existenz des Universums folgt die Existenz Gottes.
Das Einzige, was an Gott absolut erkennbar ist, ist seine Existenz.
Aus Gottes gewollter Unbeweisbarkeit seiner eigenen Existenz folgt seine Existenz.
Quod erat demonstrandum
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Est empirica et speculativa facto, testimonium quod Deus difficile, si non impossibile, sunt. Videtur, Deus, adhuc est, universi, ut creator universi, accomodata, quod actu difficile, si non impossibile, sunt.
Assumpsit, homo est summum intelligibile in rerum cognoscentium in universi et causalis a Dei. Quia Deus voluit esse, quod est possibile indemonstrabilis, creavit hominem secundum. Homo posset unum entitatem, quod est aversam a Dei, erat virtualiter negatio Dei, et quod negatio Dei conscientia et deliberato, per Deus ipse. Homo deficit ab illo esse se maxima parte deo.
Deus fallit se constans, in sensu mysterium. Universi est pulchra et arcanum, in quod pulchritudinem – verus, vera et profunda forma – obstrictius ad mysterium. Non enim nihil est: Verum forma ex intra. Et interior est inaccessibilem et arcanum. Est non pulchrius et arcanum universi imaginabile. Est unum, facit Deus est mysterium et nemo, de Deus ponit omnia directe aperire.
Cum Deus suum esse solum resistere, si ipse mysterium, et universi est maxima excogitari secretum et Deus contra maximum mysterium est, deus universi.
Cum sunt nemo creatio ex nihilo, Deus semper. Deus creator omnium hucusque, ut continue alienati a se. Creatorem suum esse mysterium. Semel absoluta scientia Dei est accedere, est non possibile, quod Deus sit scinetia se sustinere non posset, arcana de illa in sensu est etiam remota. Deus hominibus non videtur, quia Deus in se non vult videri. Sequitur, visibilis mundi absoluta non potest. Cum homo sit pars maxima est alienato a Deo et Deus est maximum mysterium, homo ipse mysterium est. Quoniam cogitatio hominis, cui se, est se a mysterium. In philosophie et metaphysica est institutioni de hoc mysterium, quod autem mysterium intacto. Fulgur de rebus physicis et naturalibus sunt universi, ubi manet intactum sed universa mysterium.
Ex praesentia corporis et mundi materialis adhuc latet. Requirit a Creator, Creator mysterium. Etiam secretum suum Creatorem mysterio abscondita est etiam maiora. Increatum mysterium est non mystermium, sed ignorantia. Maxima mysterium est mysterium, mysterium creator est, qui creavit hoc mysterium et hoc mysterium est mysterium. Absoluta mysterium est mysterium, quae se est mysterium. Ita Deus est mysterium. Sic mundus mysterium. Ita deus necessario, cum universi est et quia mundus mysterium. Mundus est et homo est mysterium denotat. Non post sacramenti, etiam si quaerit et scientia et philosophia parte mysterium vestes deponeret. Tantum aperit nova secreta, pars Magnum Mysterium. Deus fert infinitae vestimenta.
Secundum quod Deus omnia existentia.
In tantum, quod est absolute apparet ad Dei, eius esse est.
Ex indemonstrabilis suum esse voluit Deus, esse sequitur.
Quod erat demonstrandum
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It’s an empirical and theoretical fact that proofs of God are difficult, if not impossible. Apparently, if he still exists he created the universe so that they are actually difficult, if not impossible.
Given man is the highest imaginable intelligent creature in the universe and is created originally by God. Possibly God wanted to be unprovable and he created man accordingly. Man could be the one entity which is as far away from God as possible, he could almost be the negation of God, namely the conscious and deliberate negation of God, by God himself. Man would be the most important part of God’s alienation from himself.
God is continually deceiving himself, in the sense of the mystery. The universe is beautiful and mysterious, where beauty – the really, true and profound beauty – is inextricably linked with the mystery. Not for nothing is it: True beauty comes from within. And the interior is the inaccessible and mysterious. There is no finer and more mysterious universe imaginable. It is one that makes God a mystery and it is not one over which God reveals everything immediately.
Since God’s own existence only withstand even if he himself is a mystery and the universe is the greatest conceivable mystery and at the same time God wants to be the greatest mystery to himself, God is the universe.
Because there is no creatio ex nihilo, god was ever, the universe is eternal. God is the creator of the universe so far as he continually alienated from himself. He is the creator of his own mystery. As soon as God approaches the absolute knowledge, which isn’t possible, because God could not withstand himself in this absolute knowledge, he has to remove from it in the sense of the mystery. God is not visible for man, since God would not even be recognizable to himself. It follows, that the absolute detectability of the universe isn’t possible. Because man is the most important part of God’s alienation of himself and God is the greatest mystery, man itself is a mystery. Since man can make himself the object of his reflection, he is a mystery to himself. Philosophy and metaphysics is a brightening of this mystery, where the mystery itself is left untouched. Physics and Science is a brightening of the circumstances of the universe, where the mystery of the universe itself is left untouched.
By merely the material und physical presence of the universe is still given no mystery. This requires a creator, the creator of the mystery. A mystery which is still a mystery towards his own creator is a greater mystery. An uncreated mystery isn’t a mystery but ignorance. The greatest mystery is the mystery, which is the mystery of a creator which created this mystery, and where the mystery is a mystery for himself. The absolute mystery is the mystery, which is a mystery to itself. So God is a mystery. So the universe is a mystery. So god necessarily exists, because the universe exists and the universe is a mystery. Man notes that the universe exists and that it is a mystery. He doesn’t understand the mystery, even if he seeks and science and philosophy are a part of the disrobing of the mystery. It only opens up new mysterys, which are a part of the great mystery. God carries infinitely many clothes.
The existence of the universe implies the existence of God.
The only thing that is absolutely evident in God is his existence.
From God’s willed unprovability of his own existence follows his existence.
Quod erat demonstrandum
JM
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Nur ein paar Fragen zu Gott
Angenommen, Gott existiert nicht, welchen Sinn und Status haben dann Gottesbeweise?
Was ist ein Beweis? – Eine konsistente Darlegung, dass etwas existiert. Was ist Existenz? – Das Vorhandensein von etwas. Gibt es etwas, das existiert, aber dessen Existenz nicht bewiesen werden kann? – Offenbar für uns Menschen heute schon, wenn man an gewisse weit entfernte Objekte im Universum denkt. Dies ändert aber nichts daran, dass deren Existenz im Prinzip, durch andere intelligente Lebewesen, die sich dort „in der Nähe“ aufhalten, bewiesen werden kann.
Gibt es also etwas, das existiert und grundsätzlich nicht bewiesen werden kann? Und wenn ja, warum kann seine Existenz nicht bewiesen werden? Muss es dann nicht in einer anderen Form existieren als die Dinge, deren Existenz bewiesen werden kann? Gibt es also zwei oder vielleicht sogar noch mehr Formen von Existenz? Gibt es etwas, das zugleich existieren und nicht existieren kann? Ist Gott vielleicht etwas, das zwar anwesend, aber doch nicht „richtig“ anwesend ist? Wenn Anwesenheit als physische Anwesenheit definiert wird, wäre er nun physisch anwesend oder nicht. Aber ist er es nun oder nicht? Oder ist er das potenziell mögliche physisch Anwesende? Ist er so etwas wie ein quantenmechanischer Zustandsraum? Was ist Quantenmechanik? Was ist Physik? Was ist Naturwissenschaft? Was ist Wissenschaft? Was ist Wissen? Was kann der Mensch wissen? Was weiß Gott, wenn er etwas weiß?
Was wäre eine nichtphysische Anwesenheit, wenn es sie denn überhaupt gäbe? – Vielleicht eine geistige Anwesenheit? Ist Gott ein reines Geistwesen? Gibt es eine Verbindung zwischen dem Geist Gottes und dem Geist des Menschen, auch wenn es keine physische Verbindung zwischen Gott und dem Menschen gibt? Gibt es einen Übergang von einer geistigen zu einer physischen Verbindung? Wann wird aus der geistigen Verbindung eine physische Verbindung? Gilt das psychophysische Problem auch für das Verhältnis von Gott und Mensch?
Oder ist Gott vielleicht nur ein Beobachter des Geschehens, der aber in dieses Geschehen nicht eingreift, vielleicht auch gar nicht eingreifen kann oder nicht eingreifen will? Was ist das Theodizeeproblem?
Ist er vielleicht soetwas wie das reine Schauen? Aber muss er nicht auch dazu physisch anwesend sein?
Oder umgekehrt: Ist er ein reiner Akteur, jemand, der nur handeln kann, aber dieses Geschehen nicht reflexiv beobachten kann? So etwas wie der reine Akt? Aber muss er nicht auch hierzu physisch anwesend sein?
Gibt es eine Existenz außerhalb des Physischen? Und ist das die Existenz, die nicht bewiesen werden kann?
Was meinen wir eigentlich, wenn wir „Gott“ sagen? Wenn wir überhaupt nicht wissen, was das ist, warum wollen wir es dann beweisen? Wissen wir nur, was es sein könnte? Wofür könnte „Gott“ stehen?
Für den Schöpfer der Welt? Die Welt ist etwas, das wir im weitesten Sinne phänomenologisch als große Gesamtheit, in der alles passiert, wahrnehmen. Hat Gott mit der Welt den Menschen geschaffen? Oder mit der Welt nur die Möglichkeit seines Entstehens? Wenn er ihn mit der Welt zugleich erschaffen hat, wäre dies mit Ockhams Razor eigentlich unnötig, wenn doch mit der Welt die Möglichkeit seines Entstehens inbegriffen ist, wenn man an die Evolution denkt. Widersprechen sich Evolution und Schöpfung grundsätzlich?
Da der Mensch in einer Welt leben muss, muss diese vorhanden sein, damit er überhaupt existieren kann. Folglich kann Gott den Menschen nicht vor der Welt geschaffen haben, wenn er ihn geschaffen hat. Allenfalls könnte er die „Idee“ des Menschen gehabt haben, sogar „vor“ der Idee der Welt. Und er könnte die Welt geschaffen haben, weil er den Menschen schaffen wollte. Aber warum wollte er den Menschen erschaffen? Oder: Warum wollte er eine Welt erschaffen, in der die Existenz des Menschen möglich ist? Wollte er eine Welt schaffen, in der die Existenz des Menschen nur möglich ist oder wollte er eine Welt schaffen, in der sich die Existenz des Menschen zwangsläufig ergibt, wenn er ihn schon nicht zeitgleich mit der Schöpfung der Welt erschaffen wollte?
Woraus hat Gott die Welt geschaffen? Aus welchem Substrat, aus welcher Substanz? Und wenn es ein solches Substrat oder eine solche Substanz gab, ist dieses nicht selbst wieder Teil einer schon existierenden Welt?
Hat Gott die Welt aus dem Nichts geschaffen? Gilt also die sogenannte creatio ex nihilo? Dies scheint schwer vorstellbar.
Wenn Gott die Welt geschaffen hat, wer oder was hat dann Gott geschaffen? In welcher ursprünglichen Welt existiert Gott? Müsste Gott nicht auch dem Nichts entstammen? Oder existiert er ewig?
Wenn Gott oder die Welt ewig existiert: Was bedeutet Ewigkeit? Können wir uns die Ewigkeit besser vorstellen als die creatio ex nihilo, also letztlich besser als das Nichts? Ist das Nichts nicht ein rein mathematisches Objekt? Ist die Ewigkeit, ist die Unendlichkeit ein rein mathematisches Objekt? Was ist Mathematik?
Ist die Ewigkeit für uns so schwer vorstellbar, weil sie aus der unendlichen Vergangenheit kommt? Ist nicht auch eine Ewigkeit vorstellbar, die zyklisch ist? Dann gäbe es die Möglichkeit, dass sich alles exakt wiederholt. Oder es gäbe die Möglichkeit, dass sich nicht alles exakt wiederholt, aber dann hätte man unendlich viele Zyklen mit unendlich vielen Ereignissen. Aber selbst wenn sie sich exakt wiederholt, hätte man unendlich viele, gleichartige Zyklen, also immer noch Unendlichkeit. Und auch die ist wieder schwer vorstellbar.
Ist der Ausweg vielleicht, dass die Zeit eine Illusion ist? Aber was ist dann die Zeit? Etwas, das uns wie Zeit erscheint, das aber in Wahrheit etwas anderes ist? Aber was?
Warum gibt es nicht einfach nichts? Wieder ergibt sich die Frage: Ist das Nichts ein rein mathematisches Objekt? Welchen Bezug hat die Mathematik zur Realität, zu dem, das wir materielle oder physische Realität nennen?
Was bedeuten diese ganzen Begriffe, die diese Probleme bereiten? In der Regel nennen wir sie „philosophische Begriffe“? Was ist ein Begriff? Was ist Philosophie? Wer betreibt Philosophie? Empirisch gesehen nur der Mensch. Wir kennen kein anderes Wesen im Universum – möglicherweise noch nicht – das Philosophie betreibt. Was ist der Mensch?
Warum hat Gott, so er existiert, dem Menschen nicht alle Informationen gegeben, über die er selbst verfügt? Ist Gott allwissend? Ist Gott allmächtig?
Ist Gott immer noch anwesend oder hat er sich nach der Schöpfung verabschiedet? Gibt es vielleicht nicht nur einen Gott, sondern Götter?
Warum glauben die Menschen an Gott? Wollte das Gott vielleicht? Warum wollte er das, wenn er es wollte? Und warum hat er dem Menschen nicht stattdessen ein vollständiges Wissen über seine Existenz gegeben?
Was ist der Unterschied zwischen Glauben und Wissen? Warum glauben die Menschen nicht an sich statt an Gott?
Sind sich der Mensch und Gott vielleicht ähnlich? Und wenn ja, warum? Und wenn nein, warum?
Neben der Existenz gibt es das Gute. Was ist Existenz? Was ist das Gute? Hat Existenz ohne das Gute einen Sinn? Gibt es das Gegenteil des Guten, das sogenannte Böse? Wenn ja, warum? Wenn nein, warum?
Ist Gott nur gut? Oder kann er auch böse sein? Wie kann sich der Mensch nach dem Guten richten, wenn er nicht weiß, was das Gute ist? Wenn er weiß, was das Gute ist, woher weiß er das? Von Gott? Warum kann er es nicht selbst wissen? Ist der Mensch so unselbstständig?
Wo ist das Gute? Was ist die Substanz des Guten? Zeigt sich das, was wir gut nennen, nicht lediglich in physischen Prozessen, die im Universum ablaufen? Aber was ist dann an diesen Prozessen gut? Die Prozesse selbst oder nur die Ergebnisse? Oder nur die Ausgangszustände? Wenn das Gute vom Physischen unabhängig ist, wovon ist es dann abhängig? Vom Geistigen? Was ist der Geist? Wie ist die Verbindung von Körper und Geist? Was ist das Leben? Ist der Geist etwas wichtigeres als der Körper? Wenn ja, warum? Wenn nein, warum?
Gibt es eine Einheit der Existenz und des Guten?
Ist eine vollständige Welt nicht eine Welt, in der es auch das Unvollständige gibt? Und ist das nicht der Grund für die Existenz des Menschen, der diese Welt nicht versteht, im Gegensatz zu Gott? Wollte Gott das? Und wenn ja, warum? Und wenn nein, warum? Was ist das wichtigste Fragefürwort? Warum? Wo? Wann? Wie? Wer? Was? Und warum ist es das? Wer stellt Fragen? Ein Subjekt. Worüber? Über Objekte und/oder Subjekte. Was ist ein Subjekt? Was ist ein Objekt? Was ist die Verbindung zwischen Subjekt und Objekt? Kann etwas zugleich Subjekt und Objekt sein? – Ja, der Mensch. Nur der Mensch? Tiere nicht? Gott auch? Wenn nein, warum? Wenn ja, warum? Wie wäre die Einheit von Subjekt und Objekt, so sie in Gott vorhanden ist, zu denken?
Wäre es nicht auch möglich, dass Gott die Welt gar nicht geschaffen hat, weil er selbst die Welt ist? Aber wenn er die Welt ist und die Welt existiert, das tut sie jedenfalls für uns, warum muss dann seine Existenz noch bewiesen werden? Oder scheint es uns unrealistisch, dass Gott die Welt ist, sodass wir uns versichern müssen, dass dies auch tatsächlich der Fall ist? Was ist Realität? Ist alles ganz einfach? Was ist Einfachheit?
Gott wäre aber nicht mehr Gott, wenn er als Welt von etwas anderem geschaffen worden wäre. Wenn er also die Welt ist, so ist er ungeschaffen, also ewig. Also ist die Welt ewig. Gibt es nicht eine zyklische Ewigkeit, in der die Zyklen miteinander verbunden sind, und in jedem Zyklus eine Alternative aller möglicher Alternativen abläuft? Wie viele mögliche Alternativen gibt es? Wenn es eine endliche Zahl möglicher Alternativen gibt, würden sich welche wiederholen, da die Zahl der Zyklen ja unendlich ist. Ist die Zeit eine unendlich lange Gerade oder ist sie ein Kreis? Beisst sich die Schlange in den Schwanz? Was ist ein Symbol? Was ist ein religiöses Symbol?
Neben der Zeit gibt es den Raum. Was ist der Raum? Was ist die Einheit von Zeit und Raum, wie ist sie zu denken, auch wenn sie sich mathematisch und physikalisch beschreiben lässt? Was ist der Unterschied zwischen der physikalischen Zeit und der Zeit im Zeitempfinden des Menschen? Was ist die Zeit für Gott? Empfindet er auch die Zeit? Ist er überhaupt einer Zeit unterworfen? Befindet er sich irgendwo im Raum oder ist er überall? Oder gar an entfernten Orten zugleich?
Muss sich Gott über den Menschen und seine Gottesbeweise selbst seine eigene Existenz beweisen? Wäre dies nicht traurig für Gott? Will sich Gott selbst bestätigen? Warum? Ist sich Gott über seine eigene Existenz gar unsicher?
Fragen über Fragen. Aber keine Antworten. Was ist Sprache? Ist alles vielleicht nur ein sprachliches Problem, weil wir Menschen mit unserer begrenzten Sprache die großen Zusammenhänge nicht verstehen oder beschreiben können?
Warum sprechen Menschen und Tiere nicht? Wissen Menschen mehr als Tiere, weil sie sprechen? Was ist der Unterschied zwischen einem Menschen und einem Tier? Können Tiere denken? Was ist ein Tier für den Menschen? Vielleicht so etwas ähnliches, wie es der Mensch für Gott ist?
Wenn Gott die Welt ist und wahre Existenz nur dem Größten zukommt, anderes also nicht richtig existiert, ist Gott dann nicht ziemlich einsam? Kann er dann noch glücklich sein? Was ist Glück? Was ist Unglück? Was ist Einsamkeit? Verfremdet sich Gott vor sich selbst, um nicht einsam zu sein? Liegt der Ursprung der Sünde gar in ihm selbst?
Ist es besser in einer Welt zu leben, in der Gott existiert, oder ist es besser in einer Welt zu leben, in der er nicht existiert? Ist es besser in einer Welt zu leben, in der er existiert und man weiß, dass er existiert, oder ist es besser in einer Welt zu leben, in der er existiert und man weiß nicht, dass er existiert, oder ist es besser in einer Welt zu leben, in der er nicht existiert und man weiß, dass er nicht existiert, oder ist es besser in einer Welt zu leben, in der er nicht existiert und man weiß nicht, dass er nicht existiert?
Ist Gott notwendig, damit eine oberste moralische Instanz existiert? Was ist Moral?
Ist es für den Menschen besser, wenn Gott existiert, oder ist es für den Menschen besser, wenn Gott nicht existiert?
Führen diejenigen Menschen Gottesbeweise, die meinen, dass es für den Menschen besser ist, wenn Gott existiert, und führen diejenigen Menschen keine Gottesbeweise, die meinen, dass es für den Menschen besser ist, wenn Gott nicht existiert?
Warum werden heute keine Gottesbeweise geführt? Weil die Menschen nicht mehr in erster Linie an Gott glauben, sondern an die Wissenschaft?
War das sogenannte „Mittelalter“ wirklich so dunkel, wie es häufig heißt?
Die letzte Frage: Ist nicht jede Zeit gleich nah an Gott, so er existiert?
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Vielleicht müssen diejenigen, die sich eines nüchternen Rückblickes auf die Philosophiegeschichte erfreuen und Gottesbeweise mitunter belächeln, von Zeit zu Zeit daran erinnert werden, dass der Gottesbegriff immanenter Bestandteil der Philosophiegeschichte ist.
JM
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Der Philosoph
Der Philosoph lebt jeden Tag wie den letzten. Er philosophiert.
Der Philosoph kostet die Süße der Einsamkeit. Er ist mit seinen Gedanken allein.
JM
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Moderne Traurigkeit
Wenn ein Sterbender sagt, dass er nun gehen müsse, was meint er eigentlich damit?
Ist er bescheiden, ist damit einfach nur gemeint, dass er bald nicht mehr leben wird. Ist er gläubig, meint er wohl, dass er aus dem Irdischen in ein Jenseits geht, in dem er irgendwie weiterlebt, ohne den irdischen Körper.
Aber wenn dieses „Ich“ nun nie existiert hat und lediglich eine Konstruktion des Gehirns seines Körpers ist, so bedeutet obige Aussage, dass es bald kein „Ich“ mehr geben wird, das auf einem physischen Gehirn als Konstruktion dieses Gehirns superveniert.
Dennoch sind diese Menschen traurig. Aber was bedeutet dann diese Trauer? Ist es vielleicht die Trauer darüber, dass doch alles nur vom Körperlichen abhängt?
Dann wäre Trauer etwas, das seine eigene Nichtexistenz beklagt. Aber gäbe es dann nicht doch die Trauer?
Werden die modernen Menschen, denen die Erkenntnisse der Hirnforschung zugänglich sind, nicht generell immer trauriger? Und muss ihnen diese Trauer nicht selbst absurd vorkommen?
Gibt es einen neuen Sinn von Traurigkeit?
JM
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Sport
Die allgegenwärtige Präsenz des Sports verleitet mich zu einer Diagnose und einer These, die für viele recht kühn klingen mag, ich stelle sie aber trotzdem auf: Wir leben in einer Zeit der Körperbetontheit und der Geistesferne.
Gleichzeitig leben wir ohne Zweifel in einer Zeit maßlosen Konsums. Dieselben Institutionen, die den maßlosen Konsum propagieren – die Medien und die Werbung, in einem fröhlichen Ringelrein-Wechselspiel – halten den Sport hoch und widmen ihm immens viel Zeit und Aufmerksamkeit. Diese Verhältnisse liegen objektiv vor, man schaue sich nur die vielen Zeiten an, in denen in den Medien Sport- und insbesondere Fußballsendungen ausgestrahlt werden, im Vergleich zu Kultur- oder Wissenschaftssendungen, die spät abends um 23.00 ein „Aspekte“-Dasein fristen, nach dem Fußball und den Tagesthemen. Eine Zeit, in der man schulpflichtige Jugendliche, die man erziehen will, so altmodisch sich das heute in Zeiten von google und facebook anhören mag, nicht unbedingt vor dem Fernseher haben will. Natürlich kann man heute solche Sendungen auf technischem Wege aufnehmen, aber am Abend des nächsten Tages steht garantiert wieder anderer Sport zur besten Sendezeit auf dem Programm, und sei es auf einem anderen Kanal. Ich möchte dafür wetten, dass zur Sendezeit einer Kultursendung auf irgendwelchen Fernsehkanälen wieder irgendwelche Sportsendungen laufen, die Menschen davon abhalten, diese Sendung zu sehen und infolgedessen vielleicht einmal wieder ein Buch zu lesen.
Mögen viele Menschen wirklich Sportsendungen oder werden Menschen durch die Medien, die Werbung und das soziale Umfeld dazu gebracht, dass es selbstverständlich ist, diese zu konsumieren und interessant zu finden?
Einerseits kann man für eine Kompensation seitens des Sports dankbar sein: Die Menschen haben Probleme im Alltag und der Sport ist irgendwo ein Ausgleich, sowohl aktiver Sport als auch der passive Konsum von Sportsendungen. Andererseits werden die Menschen dadurch mitunter von ihren geistigen Fähigkeiten abgelenkt, die sie vielleicht selbst noch nicht einmal kennen bzw. die sie unterschätzen. In der Bewertung eines Fußballspiels kann selbst der Dümmste trumpfen.
Natürlich kann es Spaß machen, Sport zu treiben und zu konsumieren, aber genauso kann es Spaß machen, ein interessantes Buch zu lesen und geistig statt körperlich aktiv zu sein.
Daneben betrachte ich Sportereignisse als Rechtfertigung, mal wieder einen zu trinken. Das Fußballspiel und das Bier sind doch nicht voneinander zu trennen. Hier werden Jugendliche über den Fußball zum Alkohol geführt. Und dies noch mit Bierwerbung zur Halbzeitpause, wogegen Tabakwerbung gleichzeitig in einem Übermaß verteufelt wird. Ich weiß nicht, ob es einem Leberkrebskranken besser geht als einem Lungenkrebskranken.
JM
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Zwei Medien
Das Internet bringt wohl für viele seiner Konsumenten auch viel Frustration mit sich, und zwar die Frustration darüber, dass irgend jemand anderes wahrscheinlich schon einmal den Gedanken hatte, den man selbst hatte und den man dann im Nachhinein nur relativ originell findet. Man braucht nur ein paar Stichworte in eine Suchmaschine einzugeben und schon kommt die Antwort: Ja, das, was man für originell hält, wurde schon einmal gedacht, geschrieben oder sogar veröffentlicht.
Aber selbst ein neuer Gedanke fällt im Internet kaum auf, selbst wenn man einen originellen Gedanken hat und ihn im Internet veröffentlicht, interessiert dies kaum jemanden, es sei denn, man hat schon einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht, zum Beispiel als Buchautor. Der Grund hierfür liegt nah: Internetseiten, Homepages, Internetforen oder Facebook-Seiten haben nicht den Status eines Publikationsorgans wie eines Printmediums: eines Buches, einer Zeitschrift oder einer Zeitung.
Auf der einen Seite schätzen wir das Internet als neues Kommunikationsmittel, auf der anderen Seite stufen wir es herab, indem wir das in ihm Publizierte per se für schnelllebig, unausgereift und diskussionswürdig halten. Wenn wir dagegen in die gedruckten Medien schauen, zum Beispiel in den Feuilletonteil einschlägiger Wochen- oder Tageszeitungen, so werden uns dort Printmedien mit ihren Autoren in einer Feierlichkeit vorgestellt, wo auf eine gewisse Art und Weise – zwar nicht explizit, aber dennoch implizit – die Wichtigkeit des Printmediums im Vergleich zum Medium Internet unterstrichen wird. Wenn derselbe Roman eines neuen Buchautors dagegen im Internet auf irgendeiner Literaturseite als Produkt eines Hobbyautors erscheinen würde, so würde ihn niemand beachten. Ist dies jedoch der richtige Weg, wenn man das Medium Internet wirklich ernst nehmen will? Sorgen Leute mit Einfluss dafür, dass es die wahren Neuerscheinungen nach wie vor nur im Bereich der Printmedien gibt? Welche Leute dies sind, kann man sich denken: Buch-, Zeitschriften- und Zeitungsverleger, also Leute, die über die Printmedien ihr Geld verdienen.
Mir kommt dies irgendwie zweispältig vor: Tagtäglich surft man im Internet und liest viele interessante Dinge von allen möglichen interessanten Leuten: Ihr Geschriebenes, bis hin zu selbst verfassten Romanen. Darunter gibt es vorzügliche Texte. Aber nein, nur in dem etablierten Feuilleton einschlägiger Printmedien erfahren wir, was ein richtiger Text sei, nämlich einer, der gedruckt wurde und als Buch verkauft wird. Insofern ist die Medienwelt de facto gespalten und die Vertreter der alten Medien kommen mir mitunter recht abgehoben vor.
Das Internet leidet natürlich auch darunter, dass jeder überall mitreden kann und meint, mitreden zu müssen, selbst Leute, die keine Ahnung von der Materie haben. Beispielsweise werden Diskussionen in Internetforen so unlesbar. Wenn man im Internet gezielt eine Information sucht, eine Antwort auf eine Frage, so muss man sich erst einmal durch einen endlosen Wust von Suchmaschinenergebnisseiten quälen, die auch deshalb so lang sind, weil sich etliche Leute in vielen vergangenen Jahren dazu berufen fühlten, ihren Senf dazu zu geben, obwohl sie gar nichts beizutragen hatten.
Als Experten gelten offenbar nur diejenigen, die schon Bücher über ein Thema geschrieben haben. Ein reines Internetdasein reicht nicht aus. Ist dies nun gut oder schlecht? Es gibt so etwas wie ein Misstrauen gegenüber dem Internet: „Bis jetzt steht es nur im Internet“, will sagen, es wurde noch nicht gedruckt. Einerseits ist ein solches Regulativ gut: Informationen werden noch einmal auf ihre Konsistenz geprüft, bevor sie „in Druck“ gehen. Andererseits wird das Medium Internet auf diese Art und Weise als unvollständiges und per se provisorisches Medium abgewertet und unterschätzt.
Ich finde es gut, dass man seine Meinung im Internet jederzeit kundtun kann, und zur Verbreitung seiner Meinung nicht auf einen mächtigen Verleger angewiesen ist, wie dies in Vorinternetzeiten der Fall war.
Wenn ich morgens eine Zeitung aufschlage, kenne ich die Thematik in der Regel schon vom Tage zuvor. Nicht nur das: Ich habe unter Umständen bereits stundenlang mit Leuten über das Internet darüber diskutiert. Nun kann man sich vorstellen, wie altbacken Zeitungen wirken können. Braucht man wirklich noch den Kommentar eines Zeitungsredakteurs auf Seite 2, wenn man sich selbst schon eine Meinung mithilfe des Internet in der Diskussion mit anderen Menschen auf eine kontroverse Art und Weise aktiv gebildet hat? Braucht man abends wirklich noch die Tagesschau um 20.00, wenn man den ganzen Tag über oft im Internet die Nachrichten gelesen hat? Kann man sich da nicht denken, was abends in der Tagesschau kommt? Braucht man wirklich noch die Kommentare eines Tagesthemenmoderators um 22.30, um sich über die Geschehnisse des Tages ein Bild zu machen? Warum macht denn die Tagesschau soviel Werbung für ihr „App“? Es ist doch nichts anderes als der Versuch, das Alte und Bewährte ins Medium Internet zu retten.
JM
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Philosophie als Krankheit
Philosophie ist die Krankheit, zwanghaft die Dinge anders zu sehen als andere.
JM
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Moderne Mythen
Ich denke, dass es heute bei weitem nicht mehr so einfach ist wie zu Roland Barthes‚ Zeiten, Dinge des Alltags zu Mythen zu erklären. Im Verständnis von Barthes entstehen Mythen aus einem unbeabsichtigten Kontext heraus: Ein Phänomen hat sich in irgendeiner Form gesellschaftlich etabliert und wird im Nachhinein von einem Kulturwissenschaftler, Literaten oder Philosophen zu einem Mythos erklärt. Diese Erklärung haftet diesem Phänomen dann etwas Verfremdendes an, indem sie es aus seinem ursprünglichen Bedeutungskontext herausholt. Schließlich weist sie ihm eine gesellschaftsübergreifende Bedeutung zu.
Wir sind jedoch heute inzwischen in einer Situation, wo genau dieser Prozess von Produktmanagern im Vorhinein gewollt wird: Ein Produkt soll ausdrücklich zu einem Mythos werden, und es wird allein dadurch schon zu einem Mythos, indem es massenhaft gekauft und durch die breite Benutzung in viele Bedeutungskontexte transferiert wird.
Der Kulturwissenschaftler, Literat oder Philosoph befindet sich also nicht mehr in der Position, aus der er aus dem Lehnstuhl heraus etwas einfach zu einem Mythos erklären kann. Er läuft den Produkt- und Marketingmanagern hinterher, die selbst eine Ahnung dafür haben, welche Produkte Mythencharakter erlangen können. Das, was der moderne Kulturkritiker zu einem Mythos erklären will, kann somit schon im Vorhinein von Managern gewollt sein.
Zu Barthes Zeiten wurde ein bestimmtes französisches Auto, ein Citroen bestimmter Bauart, zu einem Mythos erklärt. Es wurde dazu, da mit ihm ein bestimmtes Lebensgefühl, eine spezifische französische Lebensart, zum Ausdruck kam. Dieser Mythos war jedoch von dem entsprechenden Autohersteller nicht gewollt, sondern er ergab sich mehr oder weniger zufällig. Gerade das Umgekehrte ist jedoch heute der Fall. Die Kulturexperten laufen heute den Designern und Konstrukteuren hinterher. Mythen werden auf Live-Events der Firma Apple in San Francisco geschaffen, in denen neue revolutionäre Produkte vorgestellt werden, nicht im Schreibbüro eines Kulturkritikers.
Ein weiteres Problem heutiger Mythenbildung ist die vorherrschende Eindeutigkeit der Zeichenbildung, die Nähe zwischen Syntax und Semantik in einer Welt der Computer und des Internet. Es besteht heute das vorherrschende Bestreben, Informationen computergerecht eindeutig zu codieren, eine Syntax mit genau einer Semantik zu versehen.
Ein zusätzliches Problem aktueller Mythenbildung ist die Informations- und Medienüberflutung selbst, sodass man vor lauter Informations-, Medien- und Werbeobjekten den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht. Ein beschaulicher Blick auf eine überschaubare Medienlandschaft, wie ihn Barthes noch in den fünfziger und sechziger Jahre hatte, ist nicht mehr möglich.
Vielleicht hat sich dennoch ein Mythos gehalten: Der Mythos der Familie. Die Individualisierung der Gesellschaft lässt ihren Gegenpol entstehen und erhoffen, bis in die und gerade in der Werbung. Wie oft wird dort das hohe Lied einer intakten Familie erzählt, die am Kaffeetisch in holder Eintracht zusammensitzt und den Friede-Freude-Eierkuchen isst. Gerade die Werbung in Deutschland ist durch dieses Pseudofamiliäre geprägt. Die Interessen der Firmen bzw. der Werbeagenturen in ihrem Auftrag liegen jedoch offen auf dem Tisch: Jede Altersgruppe soll als Konsument angesprochen werden. Das Paradoxe ist nun, dass in dieser Werbung die Sehnsucht nach einer heilen Welt und heilen Familie tatsächlich bei den Werbekonsumenten einen Resonanzboden findet. Die Werbekonsumenten werden dabei jedoch nicht durch das beworbene Produkt angesprochen, dieses ist trivial, sein Konsum ist trivial, jeder trinkt gern Kaffee, sondern ihre Sehnsucht nach einer intakten heimeligen kleinen Familienwelt in einer inzwischen unüberschaubar großen globalisierten Welt findet einen Widerhall.
So war es immer der Sinn, seit es Werbung gibt, auch in den fünfziger und sechziger Jahren von Barthes, möglichst viele Menschen und Altersgruppen anzusprechen. Während die Intention der Produkthersteller gerade die einer Individualisierung der Gesellschaft ist – jeder soll sich durch ein bestimmtes Produkt als Individuum frei fühlen – ist es gerade der Mythos der Familie, die auf die heilige Familie als Urfamilie zurückgeht und damit auch in einer großen wirkungsmächtigen religiösen Tradition steht, der sich gegen diese Individualisierung auflehnt. Die Produkte werden dann aus dem entgegengesetzten Grund gekauft, möglichst mit gutem Gewissen im Sinne der Familie.
Die größte Familie ist inzwischen das Internet, es weiß in jeder Frage Rat. Während man sich früher „im Kreis der Familie“ zusammensetzte und Probleme und Vorangehensweisen beratschlagte, gibt man heute Suchbegriffe bei google ein und bekommt vom Übervater oder der Übermutter auch prompt eine Antwort.
Selbst wenn es auch heute noch Mythen des Alltags gibt, so werden diese bei aller Reizüberflutung nicht mehr wahrgenommen, allenfalls noch von Kulturkritikern vor dem Hintergrund einer Barthes-Lektüre. Zu einer Qualifizierung eines Phänomens als Mythos bedarf es zudem der Bildung: Auch die fehlt heute. In Zeiten von Pisa und Bologna stehen die Fragen und Antworten schon fest.
JM
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Der Fremde
Um sich ein Bild einer Person zu machen, bedarf es Zeit, viel Zeit. Wenn wir eine Person bewerten, also sagen, dies und jenes mache die Person aus, so müssen wir schließlich viele Informationen über diese Person haben. Die Quelle dieser Informationen ist zunächst das, was diese Person von sich aus mitteilt, etwa über irgendwelche Medien. Diese Informationen können schon viele Aufschlüsse über das Wesen der Person geben, aber nicht alle.
Wenn man in einen persönlichen Dialog mit dieser Person tritt, wird man darüber hinaus mehr erfahren, da man ihr unmittelbar gegenüber ist, mit ihr direkt kommuniziert, sie sieht und hört, und in einer dynamischen Wechselwirkung fragt und antwortet. Dann wird man unter Umständen feststellen, dass zu den Informationen erster Art noch welche hinzu kommen. Diese Informationen zweiter Art können das Bild der Person sogar verändern, vielleicht sogar den ursprünglichen Eindruck, den man von der Person hatte, ganz über den Haufen werfen.
Dann gibt es eine dritte Art von Information, nämlich die, die dadurch entsteht, dass man sehr viel Zeit mit dieser Person verbringt, sei es als Partner oder als Freund. Dann kann man feststellen, dass die Person, um die es geht, viel emotionaler eingestellt ist, als man es aus dem Vorliegen der beiden ersten Arten von Informationen vermutet hätte.
Dann gibt es noch einen vierten und letzten Bereich, nämlich das Selbstverhältnis der Person. Dieser Bereich ist nicht absolut zu erschließen, weil wir nicht wissen, wie diese Person tatsächlich fühlt, selbst wenn man der Partner dieser Person ist. Auch dies macht möglicherweise die Würde einer Person aus, auch wenn man sagen könnte, dass eine absolute und ehrliche Liebe zwischen zwei Menschen ebenso die Würde einer Person ausmacht. Will man sich als Person erhalten oder will man mit dem Anderen bis zur Selbstaufhebung verschmelzen?
Diese Aufhebung wird ja auch nur als eine zeitweilige angestrebt. So ist beispielsweise die sexuelle Erfüllung immer zeitlich begrenzt. Da es keine Garantie auf eine zweisame Erfüllung gibt, selbst wenn sie angestrebt wird, ist das Glück, das jedem ganz persönlich offen steht, die Erfüllung seiner Person durch sich selbst und in sich selbst. Vielleicht wollte uns dies Nietzsche mit seinem Begriff des Übermenschen sagen. Wenn man sich die Biographie Nietzsches anschaut, stellt man fest, dass es bei ihm die persönliche Erfüllung in einer zweisamen Liebe nie gab, allenfalls andeutungsweise, aber eben nicht vollzogen. Niemand kann jedoch darüber urteilen, ob das zweisame oder einsame Glück besser ist. Ein zusätzliches Argument gibt es jedoch für das einsame Glück: Es ist gerechter, da es prinzipiell jedem offen steht, selbst dem, der kein Glück in der Liebe hatte.
Ergo kann man sich von einem Menschen gar kein vollständiges Bild machen, höchstens im Fall einer Erfüllung in der Liebe, jedoch auch hier zwar höchst intensiv, aber nicht absolut. Und dann eben erst recht nicht ein Bild von einem Menschen, der einsam ist. Folglich gibt es so etwas wie das vollständige Bild eines Menschen gar nicht.
Und auch insofern kann man sich kein Bild von einer Person machen, da der Mensch in seiner Ganzheit etwas zutiefst Dynamisches und Unabgeschlossenes ist, im Sinne von Heraklit. Auch das sogenannte Ich ist dann eine Konstruktion. Der augenblickliche Zustand einer Person hängt immer noch, zumindest in elementaren Teilen, vom augenblicklichen Zeitpunkt ab, und einer gewissen Willkür, eines Zufalls, von etwas Neuem und selbst Einmaligem, das von der Welt selbst abhängt, die sich als Ganzes selbst in einem neuen und einmaligen Zustand befinden mag.
Es gibt kein Bild einer Person, da es schon die Person im strengen Sinne gar nicht gibt. Es gibt nur Menschen als kleine Ganzheiten in der großen Ganzheit, die wir Welt nennen. Wenn wir etwas an einem Menschen schätzen, so sind es die immer wiederkehrenden guten Dinge, die wir an ihm beobachtet haben, auch im Umgang mit uns selbst. Man kann nun sagen, dass dies seine Person wirklich ausmacht. Und dann gibt es ganz individuelle Dinge, wo sich Menschen in bestimmten Situationen auf eine ganz eigene Art und Weise positiv verhalten, auf eine Weise, wie wir es nicht erwartet hätten. Einerseits können wir dieses Verhalten nur als positiv bewerten, da wir einen Vergleich mit anderen Verhaltensweisen haben, also so etwas wie eine Ethik. Aber andererseits bleibt dennoch ein Rest übrig, der nur mit dieser individuellen Person zusammenhängt und den wir nicht vollständig beschreiben können. Dieser Einzigartigkeit gedenken wir, wenn wir am Grabe dieses Menschen stehen, und die Trauer, die uns dann erfüllt, ist selbst wieder etwas ganz Persönliches, das mit uns und unserer individuellen Beziehung zu diesem Menschen zu tun hat und das wir selbst mit ins Grab nehmen.
Wir können noch so sehr über Personen und Bilder von Personen philosophieren und Kategorisierungen vornehmen. Letztlich landen wir im Existenziellen und müssen diese Begriffe aufgeben.
Es ist somit schlecht, sich mit einem Vorsatz ein Bild einer anderen Person zu machen, weil wir dadurch zum absoluten und wichtigsten Kern des Menschen gar nicht vordringen. Wenn der Mensch sich selbst gegenüber ein Geheimnis ist, so ist er es erst recht für andere Menschen.
Wenn man das Thema des unterschiedlichen Charakters von Mann und Frau ins Spiel bringt, könnte man behaupten, dass Frauen ein stärkeres Interesse daran haben, ein möglichst vollständiges Bild von einer anderen Person zu haben. Etwa bevor sie sich mit dieser Person in einer Partnerschaft einlassen.
Vielleicht sind Frauen auch eher in einer Partnerschaft bereit dazu, sich als Person aufzugeben, sozusagen mit dem Partner zu einer Einheit zu verschmelzen. Männer wollen bei Partner- oder Freundschaften eigentlich gar nicht so weit gehen. Weil das Psychologische ja auch irgendwie kompliziert ist.
Und dann ist es oft so, dass Frauen meinen, ein vollständiges Bild des Partners zu haben und es dann oft zu Situationen kommt, wo der Partner in die bekannte Schublade gesteckt wird. Es sind dann Kleinigkeiten, die nach SchemaF aufgebauscht werden. Beispiel: Der Mann hat von vielen Dingen etwas zufälligerweise vergessen, soll aber in Wahrheit faul sein, oder andere Dinge im Kopf haben.
Ich glaube, dass diese Anspruchshaltung einer perfekten Partnerschaft Stress erzeugt. Natürlich hat man auch Pflichten in einer Partnerschaft, aber wenn man im Vorhinein schon daran denkt, wie man diesen Pflichten gerecht wird, wird es irgendwann unnatürlich. Damit so ein Pflichtalltag erst gar nicht entsteht, geht es heute sogar soweit, dass die Partner getrennte Wohnungen haben.
Das geht natürlich dann nicht, wenn ein Kind da ist, das gemeinsam von den Eltern erzogen werden sollte. Die heutige Kinderlosigkeit spiegelt wohl den Wunsch wieder, sich diese Freiheit der Person zu erhalten. Kinder sind also eher dort anzutreffen, wo die Gemüter einfacher sind, was nicht unbedingt etwas Schlechtes, sondern in der Regel auch etwas Gutes ist.
JM
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Zeit der Entfremdung
Das Gefühl, das heute über allem schwebt, ist das Gefühl, dass einem jemand etwas verkaufen will. Derjenige, der etwas verkaufen will, wendet heute alle Tricks an, auch mithilfe des Internet, so dass er immer unsichtbarer wird. Die Ware transformiert sich in alle Alltagsbereiche, in alles, was man mit seinen Sinnen aufnimmt.
Der öffentliche Raum reduziert sich im wesentlichen auf einen Warenpräsentationsraum. Er wird nicht so gestaltet, dass Privatheiten entstehen können, es existieren keine Nischen mehr. Alles ist offen und transparent, so dominieren in der Architektur große hallenartige Gebäude mit riesigen Fensterfronten.
Im Arbeitsraum dominieren Großraumbüros, in denen absichtlich der Privatraum, das Nichtentfremdete, eliminiert wird. Jemand, der nicht mehr transparent ist, ist nicht mehr steuerbar. Das Innere des Menschen soll keinen Platz haben und verschwinden.
Der Verkehrsraum ist ebenso transparent gestaltet. So gibt es Großraumwagen, es gibt keine Abteile mehr wie zu früheren Zeiten, es kommen keine Gespräche mehr zustande, da jeder Fahrgast auf dem Präsentierteller sitzt und gleich zehn Nachbarn mithören können.
Es gibt keine Werte mehr, weil „Wert“ festgelegt ist auf „Warenwert“. Jemand, der heute Werte vermitteln will, will in der Regel etwas verkaufen.
Die Grundhaltung ist die eines Misstrauens mit einem selbsterhaltenden Lächeln, das einen den Alltag überhaupt noch aushalten lässt. Man schaue sich viele Menschen an, oft Jugendliche, wie sie sich geben. Sie stecken in dieser Grundhaltung, müde und apathisch von der Reizüberflutung, haben sie in der Regel ein leichtes Grinsen drauf, sind übersättigt, haben eigentlich schon alles, selbst der Ärmste hat Markenklamotten und ein Smartphone. Es lässt sich ja auch alles vorfinanzieren, so dass jeder am heiligen Markt teilnehmen kann, jeder dazugehören kann, jeder „in“ ist, jeder weiß „was läuft“. Man will sie eigentlich immer nur schütteln. Wacht doch endlich auf! Man weiß gar nicht, wie Lehrer diese Apathie aushalten, diese heutigen Kompensierer der Glotze, diese altmodischen Mahner der wahren Werte in einer Welt der Warenwerte.
Wenn man sich die zeitliche Abfolge der Phänomene der heraufziehenden Industrialisierung, die letztlich in der Globalisierung endete, und der Zeit der Romantik anschaut, fragt man sich, ob dies Zufall war. Ist es nicht naheliegend, die romantische Bewegung auch als eine Protestbewegung, gar als eine Vorahnung zu sehen? Es ist bemerkenswert, wie nah der romantische Mensch an der Natur ist, gefühlsmäßig und ästhetisch, wie wenig entfremdet er ist, und wie weit der moderne Mensch von ihr weg ist. Ist dies nicht die eigentliche Tragik des Industriezeitalters, diese Entfremdung von der Natur, die den Entfremdeten selbst noch nicht einmal bewusst ist?
Wir leben offenbar in einer Zeit, in der einem die Menschen gar nicht mehr mystisch erscheinen können, allenfalls in Managerwochenendseminaren in Klöstern. Einer Zeit, in der der Mensch hauptsächlich eine Funktion erfüllt. Das Innere eines Menschen hat in der Regel keinen Platz und keine Bedeutung mehr, wird ins Private verschoben.
JM
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Körper und Kopf oder Körper und Geist?
Was hat der Körper mit dem Kopf zu tun?
Natürlich sehr sehr viel, muss die Antwort lauten. Unser körperlicher Zustand, unser körperliches Wohlbefinden, beeinflusst auch fundamental unseren geistigen Gemütszustand, das ist gar keine Frage.
Die Kernfrage, die aber bleibt, ist die: Hat alles, was „im Kopf“ stattfindet, mit dem Körper zu tun bzw. lässt es sich auf rein Körperliches reduzieren?
Phänomenologisch wird man immer parallel etwas beobachten, wenn jemand denkt, laufen auch körperliche Vorgänge, laufen neuronale Prozesse ab. Aber sind geistige Vorgänge neuronale Prozesse?
Und da würde ich nach wie vor sagen, nein, nicht all unser Denken kann durch körperliche Vorgänge erklärt werden, selbst wenn man das Gehirn genauestens scannt, fehlt die Brücke von den neuronalen zu den geistigen Zuständen.
Die körperliche Befindlichkeit eines Menschen mag ein wichtiger Faktor für seine geistige Befindlichkeit sein, aber man kann auch bei Kranken oder körperlich sehr eingeschränkten Personen hochgeistige Zustände feststellen, wie das Beispiel Stephen Hawking zeigt.
Das Geheimnis bleibt also ein Geheimnis, selbst wenn nun der Körper, nicht zu unrecht, in gewisser Weise rehabilitiert wird und von einer Renaissance des Körpers die Rede sein kann.
Daneben lässt es sich phänomenologisch und empirisch nicht gerade feststellen, dass Menschen, die dem Wellnesswahn unterliegen und ihn pflegen, besonders geistig begütert wären. Man stellt sich auch die Frage, ob dann noch so viel Zeit zum Denken bleibt, wenn das zeitraubende Wellnessprogramm konsequent durchgezogen und bezahlt wird. Die Betonung der Wichtigkeit des Körpers passt also in gewisser Weise auch zu unserem Konsumzeitalter und lässt sich nicht nur als rein positiv ansehen.
JM
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Aufklärung
Die Wissenschaft selbst ist heute eigentlich nicht die Instanz, die gesellschaftliche Zustände kritisiert. Wenn sie das tut, so treten eher Wissenschaftler als Einzelpersönlichkeiten in Erscheinung, sie treten dabei aber in der Regel außerhalb ihrer Wissenschaft auf, in den Medien.
Das Paradoxe an der heutigen Situation ist, dass wir sehr viel Wissenschaft und Technik haben, aber nicht das Gefühl, dass eine breite Bevölkerung wirklich aufgeklärt ist. Eher hat man den Eindruck, dass sie über die Vielfalt der Produkte, die es zu kaufen gilt, aufgeklärt sind.
Ob eine Wissenschaft oder Technologie nützlich ist, müsste auf den ersten Blick von Menschen beurteilt werden, die sich auch in der Wissenschaft und Technik bestens auskennen. Die politischen Entscheidungsträger sind aber in der Regel über die Wissenschaft und Technik natürlich nicht so informiert, wie die Wissenschaftler und Techniker selbst. Hier springt nun die Ethik – politisch in Gestalt von Ethikkommissionen – ins Feld. Die Frage, welche Wissenschaft oder Technik zu welchen Zwecken eingesetzt oder verhindert werden sollte, ist nicht nur eine wissenschaftliche oder technische Frage, sondern im wesentlichen auch eine moralische. Und hier sind nicht Naturwissenschaftler oder Techniker die Experten, sondern Philosophen und insbesondere Ethiker.
Der aufgeklärte Mensch wird also nicht nur durch die Naturwissenschaft und die Technik zu einem aufgeklärten Menschen, sondern im wesentlichen auch durch die Philosophie und insbesondere Ethik.
Die Religion – als Ersatzphilosophie und Ersatzethik, die auf strenge normative Begründung verzichtet – verhindert nun, dass der Mensch zu einem wirklich aufgeklärten Wesen wird. Ebenso ein mit der Religion verbündeter ungezügelter Kapitalismus, der suggeriert, dass sich durch den Kauf eines Produktes jedes Problem lösen lässt. Mit Max Weber sind wir damit davor gewarnt, in voraufklärerische Zeiten zurückzufallen.
JM
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Dick und Doof oder wie es in manchen Internetforen zugeht
Sie wollten nicht voneinander lassen.
Es war die bekannte Szenerie alter Filme. Der Eine ohrfeigte den Anderen, der Andere stach dem Einen unverholen mit dem Finger ins Auge. Und nur das Publikum lachte. Jeder wollte das letzte Wort haben und Recht behalten. Als ob Recht etwas wäre, das man pachten könnte. Die Karawane zieht nur mit zwei einsamen Streitern weiter. Dass man in der Wüste in einem Miteinander besser überleben könnte, auf diese Idee kam keiner von beiden. Und so ging das rechthaberisch monologische Hauen und Stechen weiter. Und keiner von beiden merkte, dass er sich in einem Gefängnis eines vermeintlich konsistenten und abgeschlossenen Begriffssystems befand. Und so lernte keiner von beiden mehr etwas dazu.
Für den Einen waren jene gar nicht so böse, die anderen jedoch sehr wohl, für den Anderen waren auch jene böse und die Anderen, die der Eine für böse hielt, waren deshalb gar nicht so böse.
Der Eine machte aus seiner Sprache ein unhinterfragbares Geheimnis, der Andere sprach gerne über Geheimnisse. Was für den Einen ein Produktionsverhältnis ist, ist für den Anderen eine Verhältnisproduktion. Der Eine führt einen Monolog mit sich selbst und hält dies wohl für einen Dialog eines absoluten Geistes, der Andere führt scheinbar einen Dialog mit dem Anderen, aber merkt nicht, dass auch dies nur ein selbstbestätigender Monolog ist. Während der Eine zu unpsychologisch ist, ist der Andere zu psychologisch.
JM
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Vermischte Meinungen und Sprüche
Fernsehen ist das Nichtinsichhineinschauenwollen.
Zuviel Lesen schadet den Sinnen.
Das Internet ist das große Nichts.
Wenn Du heute jemandem etwas zeigen willst, schaut er schon weg.
Die Menschen sind heute so leer, weil nur so der Überfluss an Sinnesreizen eingedämmt werden kann. Wo nichts ist, kann auch nichts verarbeitet werden.
Wer heute schweigt, erscheint nur noch dumm.
Politik ist das So-tun-als-ob.
Das Mobiltelefon ist das Schmuckstück der eigenen Wichtigkeit.
Das Auto ist das Sinnbild eigener Unbeweglichkeit.
Fußball ist das einzige Gebiet, auf dem der Dümmste noch Experte sein kann.
Parteien nehmen nicht Anteil, obwohl sie Teile sind.
Zeitungen lassen sich anfassen, mit ihnen hat man ein gutes Gewissen.
Gelacht wird heute vor allem im Takt. Dabei ist das wahre Lachen etwas sehr Persönliches. Mit einem Hang zum Lächeln.
Geweint wird überhaupt nicht mehr, wenn, dann hauptsächlich demonstrativ.
Freunde sind Vorzeigeobjekte auf Partys.
Gesichter sieht man sich heute auf facebook an. Ansonsten schaut man eher weg.
Selbst der Dümmste kann noch g oo gle bedienen und große Augen machen.
Noch nie war Gott so weit weg.
Nichts ist heilig außer der Markt.
Für alles gibt es heute einen Experten, nur nicht für Alles.
Frage heute jemanden etwas und Du leidest entweder an Dummheit oder an Höflichkeit.
Soziale Kompetenz hat heute jeder.
Glück ist heute messbar.
Krawatten dürfen wenigstens nach unten schauen.
Am liebsten esse ich Spaghetti Bolognese auf dem schiefen Turm von Pisa.
Die Amerikaner können Dummheit wenigstens organisieren.
Trost spendet nur noch Rost.
Irgendwann gibt es Lokalradios auch auf Scheisshäusern.
Werbung ist ein Abschaltsignal ihrer Macher, aber ein richtiges für mich.
Landschafts- und Stadtbilder ändern sich mit der Dichte der Discountmärkte.
Tankstellen dürfen alles.
Bürgersteige sind die Randsteine der Straßen.
Ampeln sind die letzten Grenzsteine für Optimisten.
Einkaufen ist punktuelle Erfüllung.
Gewinnoptimierung bedeutet Warten. An der Supermarktkasse.
Am ärmsten Schlucker verdient noch eine Zeitarbeitsfirma.
Callcenter sind Weiterbildungsinstitute für Paketdienstzusteller.
Man muss sich weiterbilden, weil man keine Allgemeinbildung mehr hat.
Wenn Du heißes Wasser trinken willst, gehe in ein Café.
Wer heute noch essen gehen kann, leidet nicht an Hunger.
Bier ist für viele heute das täglich Brot.
Zuviele kaufen samstags ein, obwohl sie in der Woche genug Zeit hätten.
In der U-Bahn kann man vom täglichen Elend abschalten.
Ich bin optimistisch, dass mir mein Pessimismus erhalten bleibt.
Neutral sind nur die Schweizer.
Wenn Du einschlafen willst, surfe im Internet.
Rauchen ist ein Abschaltzwang für Workaholics und eine Legitimation der eigenen Nervosität.
Geredet wird heute vor allem über Fußball.
Wenn Du heute intelligent bist, musst Du aufpassen, nicht aggressiv zu erscheinen.
In Deutschland herrscht ein Wetter, als ob Gott dieses Land strafen will.
Was für ein Glück, dass Depressionen nur eine Sache des Gehirns sind.
Beziehungen sind täglich geführte Abhaklisten.
Halte Dir Deinen Partner warm wie das Essen.
Fantasie haben heute nur noch Leute, die keinen Sex haben.
Denke nicht zuviel, sonst bist Du enttäuscht, wenn Du über das Internet herausfindest, dass das schon mal jemand gedacht hat.
Gestylte Kleidung ist die Einbildung, dass man eine interessante Arbeit hat.
Heute muss man so wach sein, soviel Kaffee kann man gar nicht trinken.
Wenn Du nicht aufpasst, wird Deine Stellenbeschreibung bald gedownloadet oder Du wirst geoutsourcet.
Wenn Du am Wochenende im Urlaub in einem Hotel frühstückst und am Nebentisch ein engagierter Teamleiter mit einer Schreibmappe sitzt, weißt Du, dass Du in einem Tagungshotel gelandet bist. Den Supervisoren kannst Du Dich nicht entziehen.
Wenn ich mit Bahnhöfen doch nur von Zügen abreisen könnte.
Gelbes Schild, moderne Reihenhaussiedlung, runde Kränze an Türen, über den Türen römische Ziffern, Gänsefiguren, kurzgeschnittener Rasen, gelbes Schild mit roter Diagonale. Geschafft.
Heut‘ mittag mal Sardinen aus der Büchse.
Zum Mitnehmen oder zum Hieressen? – Weiß ich noch nicht.
Der Euro ist der beste Beweis dafür, dass sich die Menschen an alles gewöhnen.
Haben Sie eine Payback-Card? Nein. Haben Sie eine Payback-Card? Nein. …
Wir machen eine Marktforschungsstudie. Bewerten Sie auf einer Skala von 1 bis 100, ob Sie unsere Befragung langweilig finden.
Wenn ich im ersten Halbjahr alle drei Flats habe, kann ich dann im zweiten eine tauschen oder kündigen oder bin ich zu allen Zeiten zu allen Flats verpflichtet?
Früher haben die Jugendlichen mehr Bier getrunken als heute. Heute gibt’s Komasaufen.
Wenn Du im Rückspiegel die Straße nicht mehr siehst, wird es sich wahrscheinlich um einen BMW oder Audi handeln.
Wenn Du Dein Auto nicht mehr öffnen kannst, hat der Segen moderner Elektronik wieder zugeschlagen.
Wenn Du nicht mehr weißt, welche Fernsehsendungen Du noch alle aufnehmen sollst, hast Du es geschafft. Erspare Dir das weitere Blättern durch die Programme.
Warum gibt es eigentlich keine Fernsehempfänger, bei denen RTL, SAT1, PRO7 und VOX erst gar nicht gefunden werden? Dann könnte man sich das lästige Löschen sparen.
Wenn Du nur noch Mitteilungen von Freunden erhältst, solltest Du versuchen, Dich von facebook abzumelden. Aber das wird schwierig.
Hüte Deine E-Mail-Adressen wie Deinen Augapfel.
Erwarte nicht, dass Leute Deine Homepage besuchen.
Wer ist eigentlich schlimmer? Microsoft oder Apple?
Versuche ja nicht ein iPhone als USB-Stick zu benutzen.
Melde Deine Ideen vorher über iTunes an.
Es gibt einen neuen Heiligen: Steve Jobs.
Beamte sind notwendig. Die Hoheit.
Waren das noch Zeiten. Mein gutes altes Nokia-Handy.
Hilfe. Ich bekomme keine Push-Mails mehr auf meine Blackberry.
Datet sich auf meinem PC auch einmal irgendetwas nicht up?
Mensch, hatte ich gestern einen Speed bei meinem Speeddating.
Telefonieren ist ein Vorgang nach der Warteschlange.
Fitness-Studios sind Kompensationsorte der Maus-Tastatur-Bürostuhlsitzhaltung.
Ach wenn man doch nur alles wegclicken könnte.
Drucker sind billige Behältnisse für teuren Toner oder teure Tinte.
Irgendwann kommt auch der Strafzettel per E-Mail.
Welcher Browser ist der richtige?
Meine Kontakte synchronisieren sich besser als meine Termine.
Man müsste noch mehr in der Cloud speichern können.
Ich höre lieber wirkliches Vogelgezwitscher.
Was kann man eigentlich noch nicht bei Amazon bestellen?
Tanken ist eine Investition.
Was tun die Banken nicht alles dafür, einem das Nicht-Onlinebanking zu vermiesen.
Wenn man neue Bürotürme sieht, weiß man, dass es noch Finanzämter gibt.
Rechtsanwälte, Steuerberater und Beamte spielen nur scheinbar gegeneinander.
Wenn man sich selbst verwalten kann, wird es immer eine Verwaltung geben.
Versicherungen wechseln so oft, dass dieser Begriff schon nicht mehr passt.
Synergie bedeutet, in einer Postfiliale länger beim Briefmarkenkauf zu warten. Falls es eine solche noch gibt. Ansonsten wartet man halt, bis der Zigarettenverkauf fertig ist.
Lotto darf man im Internet nicht mehr spielen. Da verfällt man als unmündiger Erwachsener der Spielsucht. Also schön brav in die Schlange.
Bürokratie schafft noch mehr Bürokratie. Wo neue Gesetze gemacht werden können, werden sie gemacht. Wo Haushaltsgelder ausgegeben werden müssen, werden sie ausgegeben.
Dass mit dem Soli was nicht stimmt, ist daran zu erkennen, dass man von den Marktplätzen ostdeutscher Städte inzwischen essen kann.
Was der FDP „das Liberale“, ist der SPD „die Sozialdemokratie“, ist der Union das „christliche Menschenbild“, denkt sich ein Geringverdiener in einem Land, in dem es keine Mindestlöhne gibt.
Banken sind die einzigen Institutionen, die risikolos hohe Risiken eingehen können.
Die Welt ist so einfach. Rentner sind die größte Wählergruppe.
Die Jugend war noch nie so unpolitisch wie heute. Im Nebel des Konsums können sie sich schlecht organisieren.
Die Arbeitslosigkeit ist gefallen, wenn es statt 3.000.000 nur noch 2.999.999 Arbeitslose gibt.
Alle sind wichtig und von allen ist die Rede. Außer vom Steuerzahler.
Viele Leute sind sozial kompetent, aber können einem nicht sagen, wo der Strom denn nun dauerhaft herkommen soll, außer aus der Steckdose. Viele Leute haben Sachverstand, aber keine soziale Kompetenz.
Für Volksentscheide sind die Deutschen zu doof. Sowas gibt’s nur in der spiessigen Schweiz.
Wenn Du noch per SMS kommunizierst und noch nicht bei facebook bist, bist Du schon ein Nostalgiker. Wenn Du noch ein Handy statt eines Smartphones hast von gestern.
Irgendwann gibt’s für alles eine Flat.
Spielfilme auf RTL gucken, ist wie Sushi-Essen: Viele kleine Häppchen.
Neuerdings hörte ich den Begriff “Patchworkfamilie”. Der Begriff “Stieffamilie” klingt ja auch irgendwie negativ konnotiert. Die Deutschen brauchen die Anglizismen, weil vielen deutschen Begriffen per se etwas negativ Konnotiertes anhaftet.
Computer werden gepatcht, inzwischen wohl auch Menschen.
Immer wenn es eine neue Modeerscheinung gibt, die an Verbreitung gewinnt, kommen schlaue Menschen daher, die Begriffe in der englischen Sprache suchen und finden. Andere schlaue Menschen sagen dann: “Ok” (“Einverstanden” wäre hier zu lang), da haben wir ja was Passendes und müssen nicht mehr so komplizierte deutsche Begriffe benutzen.
Amerikanische Wissenschaftler haben herausgefunden.
Fahnen, die im Wind wehen, bieten keinen Widerstand. Nicht, Frau Merkel?
Die Wulff-Affäre war ein Spiegel für die deutsche Seele. Aus dem braven Schwiegersohn wird ein reiner Schnäppchenjäger. In der deutschen Seele sind so viele Teile enthalten. Aber wehe, jemand (oder viele) reiten auf einem Teil herum.
Endloses Lachen gibt’s nur beim Kabarett und ist nur dort erlaubt.
Es gibt so viele Bundesländer, weil der Bund dann stärker ist.
Sonntag abend beim Tatort lässt sich prima vom eigenen Tatort abschalten.
Wetten dass, …, es bald vielen egal sein wird, was Thomas Gottschalk macht?
Deutschland zittert, wenn Dieter Bohlen eine ernste Miene macht.
Ist der Karneval gerade in Köln so stark vertreten, weil der Kölner so humorlos ist?
Es gibt noch das Gute: Jörg Pilawa und Kai Pflaume.
Was ist heute die barmherzigste Tat? – Gyros beim Griechen essen.
Der Samstagabend ist die Zeit nach Fußball.
Eine Fußgängerzone ist die Versicherung dafür, dass andere denselben Knacks haben.
Warum ergänzen sich der Kapitalismus und Buddhismus so gut? – Das Nichts symbolisiert den Nichtkonsum. Warum stehen in Möbelhäusern soviele Buddhaköpfe und -statuen? Wenn Du hier Dein Sofa gekauft hast, hast Du es geschafft. Du brauchst dann nichts anderes mehr. Der Konsum hat ein Ende.
Warum schmeckt die Schokolade so schlecht? Die Weihnachtsmänner wurden eingeschmolzen und als sie auch als Osterhasen nicht gegessen wurden, landeten sie als Wellness-Riegel in Deinem Magen.
Warum heißt es heute Wellness und nicht Gesundheit? – Das ist gesünder für die Zunge, es sind nur zwei Silben statt drei.
Warum sehen die Buchhandlungen heute alle gleich aus? – Mensch Meier, das weiß ich doch nicht.
Je länger Du in einem Supermarkt einkaufen kannst, um so größer ist er, um so größer sind dort die Einkaufswagen und um so länger kannst Du an der Kasse stehen.
Wenn das Wetter schön ist und die Sonne scheint, kannst Du Dir, wenn Du geblitzt wirst, wenigstens einbilden, dass es die Sonne war.
Gibt es etwas schwierigeres als in einem Baumarkt einen Berater zu finden? – Ja, einen Dachdecker ohne volle Auftragsbücher, wenn’s durch Dein Dach durch ein kleines Loch regnet.
Uns geht es noch gut. Du brauchst nur in einen Großmarkt für Tierfutter zu gehen.
Wochenende ist, wenn Du mehr Motorräder siehst.
Handwerker haben’s gut. Sie leben wie in Italien. Sie kommen oder kommen nicht.
Immobilienvermittler und Gebrauchtwagenhändler sollten zusammen in Urlaub fahren.
Man geht zum Innenarchitekten, wenn man Schiss vor einem Therapeuten hat.
In kleinen Küchen wird’s mit der Mülltrennung schwierig.
In Küchen kann man versacken wie in Kneipen. Vor Arbeit.
Wenn zwei Gutachter zusammenarbeiten, können sie immer Gegengutachten erstellen.
Jedes Schloss lässt sich schwer öffnen. Vor allem für den Schlüsseldienst.
Mediamarkt bewahrt Dich vor dem Besuch eines Waschmaschinenmechanikers.
CDs erinnern mich an Schallplatten. Irgendwann wird uns ein CD-Player wie ein Grammophon vorkommen.
Lebensmittel braucht man, um den Supermarkt überstehen zu können. Ein endloser Zirkel.
In Möbelgeschäften gibt es viele Spanner. Gewinnspanner.
Wenn Du Ruhe suchst, suche nicht unbedingt eine beliebte Sauna auf.
Wenn Du Dich mit einer Frau einlässt, schaue erst, ob Dein Schuhschrank groß genug ist. Falls Du überhaupt einen hast.
Gehe als Mann öfter mal allein durch Fußgängerzonen, bleibe vor vielen Schaufenstern stehen und trainiere Dein photographisches Gedächtnis. Das erhöht Deine Chancen auf eine dauerhafte Beziehung ganz erheblich.
Die Tatsache, dass es Steuerberater gibt, macht schon nachdenklich, in welchem Staat wir leben.
Die größten Chancen, schnell medizinisch behandelt zu werden, hast Du in der Ambulanz.
Was sollte man immer bei sich haben? – 10 Euro.
Warum helfen Medikamente immer? – Nach dem Lesen der langen Beipackzettel ergibt sich automatisch ein Placeboeffekt.
Was haben Handwerker und Impotente gemeinsam? – Sie kommen oder kommen nicht.
Wenn Du jemanden mit einem tiefer gelegten Auto triffst, gib ihm den Tipp, es noch tiefer zu legen.
Die Leute können keine Fragen mehr beantworten, weil sie immer erwarten, vier Alternativen vorgesetzt zu bekommen.
Warum haben Motorräder vorn eigentlich keine Kennzeichen?
Wenn Du im Wald spazieren gehst, passe auf, dass Du nicht von einem Mountainbike überfahren wirst. Selbst der Wald wird einem heute genommen.
Was solltest Du beim Einchecken am Flughafen auf keinen Fall sagen? – Der Service hier ist bombig.
Städte halten sich sauber, indem sie Umweltzonen errichten.
Bald braucht man keine Kirche mehr im Dorf zu lassen.
Inzwischen wird mehr als nur Eulen nach Athen getragen.
Das Dschungelcamp ekelt uns deshalb so an, weil die Teilnehmer noch ekliger als die ekligsten Tiere sind.
Warum gibt’s eigentlich keine Arbeiter- oder Angestelltenbeleidigung? Ist das normal, dass sie beleidigt sein können?
Eine Beamtenbeleidigung scheint somit eine besonders schwere Form der Beleidigung zu sein. Da wird quasi der Staat gleich mit beleidigt. Gehören Arbeiter und Angestellte nicht zum Staat?
Alles, was Sie von nun an sagen, kann gegen Sie verwendet werden. Der Beginn einer Beziehung.
Goldwaagen gibt’s nicht nur beim Juwelier.
Wenn Dir eine Frau eine Frage stellt, geht es nicht immer nur um die Wahrheit, sondern auch darum, was sie gern hören will. Aber mit der Zeit lernst Du das. Wenn Männer auch so kompliziert wären, würde die Welt untergehen.
Wenn Du am Samstag morgen das Wort Auflauf hörst, weißt Du, dass der Tag sehr lang wird und es wahrscheinlich zu einem Einlauf kommen wird.
Das Schönste an Navigationsgeräten ist, dass man nicht mehr umständlich den Weg erklären muss.
Bei manchen Menschen musst Du bei einem Dialog damit rechnen, dass er plötzlich unerwartet persönlich wird. Das ist manchmal gut, aber manchmal auch schlecht, nämlich dann, wenn es Dir um das Allgemeine und Sachliche und eben nicht um das Persönliche geht.
Wenn Dein Rechner Tag und Nacht läuft, kannst Du nicht mehr abschalten.
Jeder Mensch ist krank. Mehr oder weniger. Aber macht Euch nicht zu hypergesunden Wellnessmenschen. Das macht krank. Wenn Ihr Euren Körper ins Endlose perfektioniert, bleibt von Eurem Geist nichts mehr übrig. Ihr seid dann glückslose Körperwesen, die allenfalls noch körperlich perfektionistisch grinsen können.
JM
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Heraklit
5. April 2012Heraklit
* Ephesos ca. 520 v. Chr.
† Ephesos ca. 460 v. Chr.
Barthes
30. März 2012Roland Barthes
* Cherbourg 12.11.1915
† Paris 26.3.1980